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86 Min. Portugiesisch.

„We’ve got tonite. Who needs tomorrow?“ Ein Mann in der Kirche, der abseits sitzt. Eine Frau, die über ihre Schulter blickt. Das Gesicht des Mannes, er ist verletzt. Unter tragischen Umständen hat Paulo seine Tochter verloren. Er lebt getrennt von der Mutter des verstorbenen gemeinsamen Kindes und arbeitet als Nachtwächter auf einer Baustelle. Nach der Schicht schläft er oft bei seiner Geliebten Luisa und ihrem Sohn Rui. Mit Argwohn beobachtet Paulo den wankelmütigen Nachbarn und Jäger Felipe sowie seinen unermüdlich bellenden Hund. Ein Messer. Ein Einbruch. Ein Alptraum. Ein Wolfskopf. Glassplitter im Hundefutter. Verworrene Liebesgeschichten. Erste-Hilfe-Anleitungen.
Im Wechselspiel offenbaren und verdecken Licht und Schatten das Geschehen. Orte, Menschen und Handlungen scheinen in der Dunkelheit der Nacht sowie in der Unschärfe der Bilder fast zu verschwimmen. Mariphasa lotet erzählerische Grenzen aus und verweilt dabei mit eindrücklicher Präzision in der Andeutung. Die elegant radikale Montage sowie die atmosphärische Tongestaltung schaffen eine schwer fassbare Spannung brutaler Schönheit. „The things I feel do not feel like things I’ve felt before.“ (Caroline Pitzen)

Sandro Aguilar wurde 1974 in Portugal geboren. Er studierte Film an der Escola Superior de Teatro e Cinema in Lissabon. 1998 gründete er die Produktionsfirma O Som e a Fúria. 2013 war er Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nach zahlreichen Kurzfilmen und dem Spielfilm A zona ist Mariphasa sein zweiter abendfüllender Film.

Gespräch mit Sandro Aguilar: „Es ist ein Film über Deplatzierung“

Caroline Pitzen: MARIPHASA gewährt einem Zutritt in ein jenseitiges Universum, wie es wohl nur das Kino kreieren kann. Ihr Film dehnt narrative Grenzen aus. Es öffnet sich ein Raum, den man nie zuvor betreten hat. Wir dürfen frei und eigenständig durch dieses Universum navigieren und dabei erfahren, erkennen, fühlen und fürchten – oder eben nicht, das bleibt uns überlassen. Der komplexe Anfang Ihres Films endet mit einer Kamerafahrt: Die Kamera folgt Füßen, die über Geröll laufen, und passiert dabei einen kaputten Fernseher. Was war der Ausgangspunkt für MARIPHASA? Gab es eine bestimmte filmische Referenz, die Sie begleitet hat?

Sandro Aguilar: Ich habe mit Themen wie inneren Dämonen, häuslichem Horror, der Dualität des Selbst, dem Tier in uns, Labyrinthen und Einbrüchen gespielt, und mir sind dabei ganz von selbst einige Horrorgeschichten eingefallen: Figuren wie der Minotaurus, Vampire, Dr. Jekyll und Mr. Hyde und natürlich auch Werwölfe. Ich liebe Horrorfilme – die meisten sind zwar ziemlich schlecht, aber vielleicht ist es gerade die Einfachheit ihrer Prämissen, die eine gewisse primitive Qualität des Kinos ins Spiel bringt. Ich mag die spielerische Art, mit der diese Filme ihre eigenen Welten kreieren, die unseren irgendwie ähnlich und doch ganz anders sind und ihre eigenen Zeichen und Rituale haben: beispielsweise Knoblauch als Schutz gegen Vampire, Spiegel, auf denen die Untoten nicht reflektiert werden, die Verwandlungskraft des Vollmonds, magische Pflanzen wie die Mariphasa lumina lupina, die als Gegenmittel bei der Verwandlung in einen Werwolf dient (ein Thema des Films WEREWOLF OF LONDON, 1935, Regie: Stuart Walker). Wenn diese Kreaturen sich in der Morgendämmerung wieder in Menschen zurückverwandeln, ist alles, was sie getan haben – das Jagen und Töten ihrer Beute – selig vergessen. Ihre Taten während der Nacht fühlen sich an wie ein Albtraum, der sich nur schwer rekapitulieren lässt. Aufgrund ihrer Verletzungen, des Blutes unter ihren Fingernägeln und des getrockneten Blutes in ihrem Haar ist ihnen klar, dass etwas passiert sein muss, aber sie haben den Zugang zu ihrer Erinnerung verloren.
Ich bin nicht von diesen magischen Wendungen und Spielereien an sich fasziniert, ich interessiere mich nicht besonders für mythologische Monster; aber es gefällt mir, diese Motive – das Schlafwandeln, den Umgang mit unwiderruflichen Fehlern, indem man sich vor dem Weiterleben schützt – auf neue Weise um- und einzusetzen, sie auf bekanntem Boden zu verorten und in einfache Vorstellungen zu übersetzen.
MARIPHASA ist ein Film über Deplatzierung. Jede einzelne Figur muss mit einem Verlust fertigwerden und gleichzeitig die Leerstelle besetzen, die jemand anderes hinterlassen hat. Alle Protagonisten des Films geistern im Leben anderer herum. Wer auch immer verschwunden ist, kann nicht vergessen werden, wer gestorben ist, kann nicht beerdigt werden. In diesem Sinne ist MARIPHASA eine Geistergeschichte, eine sehr physische.
In Bezug auf das Storytelling finde ich es interessant, nicht mit logischen Handlungsabläufen zu arbeiten, die das Geschehen vorantreiben, sondern den Fokus auf die Abfolge von Ereignissen zu legen, die ich schon verworfen hatte. Ein Beispiel für dieses Vorgehen ist der Anfang des Films, bei dem es Schlag auf Schlag geht: Blutzellen – eine Beerdigung, eine Frau, die sich über die Anwesenheit eines verletzten Mannes ärgert – ein Auto, durch einen Unfall zerstört, ein kleiner flauschiger Bär, der am Rückspiegel hängt – ausgeblichene Kleidung in einer Waschmaschine, ein Mann rät dem Mann von zuvor (dessen Verletzungen nun nicht mehr zu sehen sind), keinen Kontakt mehr zu der jungen Frau zu suchen, die in der Wäscherei arbeitet – Abenddämmerung, wir folgen dem Mann auf seinem Weg zur Arbeit, Schritte über den Bauschutt eines eingestürzten Hauses. Er schaut nicht zurück in die schemenhafte Vergangenheit – anders als Orpheus, als dieser aus der Unterwelt zurückkehrte, jedoch ähnlich verloren –, er kommt an dem zerstörten Fernseher vorbei (der später erneut zu sehen ist) und geht weiter. Eine Tür wird geöffnet, um später wieder geschlossen zu werden.

Mit Schatten und Licht, einer einzigartigen visuellen und akustischen Rahmung sowie einer radikalen Montage haben Sie in MARIPHASA eine hypnotisierende und gleichzeitig furchterregende Atmosphäre geschaffen. Sie haben Schnitt an der Escola Superior de Teatro e Cinema in Lissabon studiert. Wie präsent war die Montage während der Entwicklung von MARIPHASA? Haben Sie bereits im Vorfeld einen Großteil der Schnitte sowie die Tongestaltung im Drehbuch festgehalten, oder fand dieser Teil der Arbeit erst später statt?

Der Schnitt ist wahrscheinlich der angenehmste Teil meiner Arbeit. Ich habe das Gefühl, dass ich zwar viel aus dem Schreiben, der Kadrierung und der Arbeit mit den Schauspieler*innen ziehen kann; aber erst am Schneidetisch durchdenke ich die Dinge wirklich und mache mir bewusst, was ich vorher gearbeitet habe. Ich bin ein rationaler Mensch und habe deshalb das Gefühl, dass ich meinen Film vor mir selbst schützen muss.
Die Bedeutung dessen, was ich tue, muss für mich im Verlauf des kreativen Prozesses in gewisser Weise unklar sein, weil die vielen verschiedenen Möglichkeiten und Ideen, die ich habe, mich ansonsten lähmen würden. Anstatt all den wunderbaren und fruchtbaren Zufällen und Pannen, die vor meinen Augen passieren, Aufmerksamkeit zu schenken, wäre ich damit beschäftigt, die Dinge zu bändigen, damit sie meinen ursprünglichen Ideen entsprechen.
Ich arbeite instinktiv, Wort für Wort, Einstellung für Einstellung, Tag für Tag. Ich erlaube es mir nicht, mir den Film im Vorfeld als Ganzes vorzustellen. Als Autor ziehe ich es vor, Fragen unbeantwortet zu lassen. Als Regisseur weiß ich manchmal nicht genau, warum ich mich dafür entschieden habe, eine Szene auf eine bestimmte Weise aufzudröseln. Es ist, als würde der Film mir etwas zuflüstern, und ich spiele dann mit. Manchmal weiß ich nicht, wohin mit kurzen Aufnahmen, in denen nur einige Worte gesprochen werden, nicht einmal ein ganzer Satz – in solchen Situationen bin ich mir aber immer sicher, dass ich irgendwann an den Punkt komme, an dem ich verstehe, wofür diese Worte wichtig waren.
Ich weiß, dass ich all die verlorenen, verschwundenen Teile während des Montageprozesses strukturieren, anlegen und sammeln werde, während ich geduldig darauf warte, dass der Film sich herausschält und so klar wie möglich zeigt. Aber selbst nachdem ich entschieden habe, dass der Film fertig ist, stoße ich immer wieder auf verstreute Elemente, die noch immer geheimnisvoll für mich und auch für das Publikum sind – zum Glück. Das sind oft meine Lieblingsszenen, bei denen ich mich frage, was sie eigentlich bedeuten. Es ist nicht einfach, all diese Dinge abzuwägen, während man sich im Montageprozess befindet.
Die Zuschauer*innen müssen immer das Gefühl haben, geleitet zu werden, ansonsten steigen sie aus. Ich traue dem Publikum von MARIPHASA zu, sich auf diese abenteuerliche Stimmung einzulassen und seinen eigenen Weg durch den Film zu finden. Als Editor gehe ich wieder und wieder durch das Filmmaterial, den Ton, die Charaktere, die Szenen, und jedes Mal zwinge ich mich dann, alles wieder zu vergessen, damit ich etwas Neues finden kann, das ich erneut zerstöre, aufsammle, reinige und wiederaufbaue.

Die Dunkelheit in MARIPHASA verhüllt häufig das eigentliche Geschehen. Wir blicken in Gesichter, aber erst, wenn die Köpfe sich bewegen, werden Verletzungen sichtbar. Sie setzen Schatten und Licht äußerst präzise ein. Wie haben Sie und Ihr Kameramann Rui Xavier diese Bilder gefunden?

Seit 2010 habe ich regelmäßig mit Rui Xavier zusammengearbeitet. Er teilt großzügig seine Intelligenz, sein Einfühlungsvermögen, sein technisches Wissen und seine Freundschaft mit mir, und ich bin ihm dankbar für all die Dinge, die er in unsere Projekte einbringt. Wir sind Komplizen, wir müssen uns nicht übermäßig vorbereiten und nicht alles durchsprechen, um eine gemeinsame Ausgangsbasis zu finden; wir wissen lediglich, dass wir die Dinge auf die gleiche Weise sehen. Das ist alles, was wir brauchen, um jede Einstellung kohärent zusammensetzen und komponieren zu können. Es hilft uns, dass wir beide von Licht und Dunkelheit fasziniert sind und davon, welche Wirkung sie auf Gegenstände haben, wie sie Räume gestalten oder Stimmung und Atmosphäre schaffen. In einer Geistergeschichte über innerlich gespaltene, lebensmüde und gewalttätige Landstreicher, die in diesem ewigen Albtraum gefangen sind, schien uns die ängstliche Spannung zwischen dem, was sichtbar ist, und dem, was in den Schatten verborgen bleibt, genau der richtige Ansatz zu sein.

Isabel Abreu (Luisa), Albano Jerónimo (Felipe), António Júlio Duarte (Paulo) und auch Ihr Sohn Eduardo Aguilar (Rui) haben bereits in anderen Filmen von Ihnen mitgewirkt. Die Figuren, die Ihre Schauspieler*innen verkörpern, scheinen ein Eigenleben zu entwickeln, das sich durch die Welt Ihrer Filme zieht. Auch Gegenstände, Handlungsabläufe und Geräusche kehren wieder. Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit Ihren Schauspieler*innen beschreiben? Wie denken Sie über die Kunst der Wiederholung?

Isabel Abreu und Albano Jerónimo sind ungemein begabte und inspirierende Schauspieler*innen. Antonio Júlio Duarte ist einer der großartigsten portugiesischen Standfotografen aller Zeiten. Eduardo ist mein Sohn – was kann ich da sagen? Die Gründe, weshalb ich immer wieder gerade mit diesen Darsteller*innen arbeite, sind ganz einfach: Ich liebe ihre Präsenz, ihre Energie am Set, ihre emotionale Intelligenz, ihren Mut und ihr Vertrauen. Normalerweise verzichte ich auf Proben, außer wenn es technische Gründe dafür gibt. Vor jeder Einstellung gebe ich eine kurze Einführung, damit sie wissen, worum es in der Szene geht und wie ihr Handlungsrahmen aussieht. Danach geht es los, und durch beharrliches Ausprobieren kommen wir dem Kern einer Szene langsam näher. Wir erreichen das nicht, indem wir viel darüber sprechen und alles analysieren, sondern indem vor der Kamera etwas geschieht und entsteht. An einem bestimmten Punkt weiß ich dann, dass es das ist.
Ich arbeite oft mit Variationen zu ähnlichen Themen und Stoffen, und zwar immer mit den gleichen Schauspieler*innen. Es ist also ganz natürlich, dass man in meinen Filmen Dinge finden kann, die sich von Mal zu Mal entwickeln und entfalten. Ich hatte aber nie im Sinn, durch diese Wiederholungen anzudeuten, dass meine Filme miteinander kommunizieren. Ich ziehe es vor, jeden meiner Filme als eine individuelle Arbeit zu betrachten. Vermutlich ist es aber für andere einfacher, meine Arbeit aus der Vogelperspektive zu überblicken und diese Verbindungen wahrzunehmen.

Musik spielt in MARIPHASA eine große Rolle. Wann ist Bob Seger & the Silver Bullet Bands „We’ve got tonite“ von der LP „Stranger in Town“ hinzugekommen? Wann Lee Hazlewoods „For one Moment“? Inwiefern lassen Sie sich von Songs bzw. deren Lyrics inspirieren?

Beide Songs sind erst in der Schneidephase hinzugekommen. „We’ve got tonight“ ist ein Song, den mein Bruder immer hörte, bevor er freitagnachts ausging. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn allein in unserem Wohnzimmer sah, wo er vor der gelben Platte stand und, während er den Song laut abspielte, imaginierte Flirts durchspielte. Das Stück ist der ultimative One-Night-Stand-Song. Wie kann man eine Frau davon überzeugen, eine unbekümmerte, wilde Nacht mit einem zu erleben, ohne ihr anzukündigen, dass man sie bald vergessen wird? „We’ve got tonight, who needs tomorrow“. Das bedeutet, dass das, was man tut, keine Konsequenzen haben wird, richtig? Man kann also furchtlos sein. In Wahrheit ist das eine romantische Lüge – außer für jemanden, der weiß, dass es kein Morgen geben wird. In einem solchen Fall setzen die Lyrics eine Frist, eine Dringlichkeit. Beim ersten Mal, wenn der Song im Film auftaucht, soll er wie eine Einladung des besorgten Nachbarn von oben an die Frau funktionieren, die unten wohnt. Er wirkt fast wie ein Wolf, der mit diesen verzaubernden Worten den Vollmond anheult. Am Ende des Films spielt der Nachbar den Song noch einmal. Aber dieses Mal wird man Waffen, Messer, Bilder von roten Planeten, magischen Pflanzen im Kopf haben – ich glaube, dass für keinen von ihnen viel Hoffnung auf ein Morgen besteht. Der Bann ist gebrochen, nun können Transformationen stattfinden.
Lee Hazlewoods Song liegt über dem Abspann des Films. Ich habe den Song während der Dreharbeiten gehört, er hat diese Western-Stimmung. „The hurt I hurt is nothing like the hurts I’ve hurt before“. Auf irgendeine Art wird jede Figur im Film heimgesucht und betäubt von etwas, das außerhalb dessen liegt, was wir sehen können, in der Vergangenheit; als würde ein nicht wiedergutzumachender Fehler oder ein Verlust sie von der Welt, die sie umgibt, und bis zu einem gewissen Grad auch von sich selbst trennen.

(Interview: Caroline Pitzen, Januar 2018)

Produktion Luís Urbano, Sandro Aguilar. Produktionsfirma O Som e a Fúria (Lissabon, Portugal). Regie, Buch Sandro Aguilar. Kamera Rui Xavier. Montage Sandro Aguilar. Ton Miguel Moraes Cabral. Production Design Nádia Henriques. Mit António Júlio Duarte (Paulo), Albano Jerónimo (Filipe), Isabel Abreu (Luísa), Eduardo Aguilar (Rui), João Pedro Bénard (Nuno), Cláudia Éfe (Bia), Luísa Cruz (Lehrerin), Gonçalo Waddington (Wachmann).

Filme

1998: Estou perto close (15 Min.). 2000: Sem Movimento / Motionless (17 Min.). 2001: Corpo e meio / In Between (25 Min.). 2002: Remains (12 Min.). 2005: A Serpente / The Serpent (15 Min.). 2007: Arquivo / Archive (17 Min.). 2008: A zona / Uprise (99 Min.). 2010: Voodoo (30 Min.), Mercúrio / Mercury (18 Min.). 2012: Sinais de serenidade por coisas sem sentido / Signs of Stillness out of Meaningless Things (28 Min.). 2013: Jewels (18 Min.), Dive: Approach and Exit (12 Min.). 2014: False Twins (21 Min.). 2015: Bunker (30 Min.), Undisclosed Recipents (15 Min.). 2018: Mariphasa.

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