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122 Min. Japanisch.

Manchmal denke er, sagt Herr Murata, er sei gestern noch 50 oder 60 Jahre alt gewesen. „Und jetzt gehe ich auf die 90 zu.“
Wie viele Orte im ländlichen Japan leidet das Fischerdorf Ushimado an Überalterung. Noch steuert Herr Murata sein Boot täglich auf das zwischen den japanischen Hauptinseln Honshu und Shikoku gelegene Binnenmeer. Sein Fang wird auf dem kleinen Fischmarkt von Ushimado versteigert. Ein Gutteil geht an Frau Koso, die die örtliche Fischhandlung betreibt. Täglich macht sie im Lieferwagen eine Tour durchs Dorf. Die Vorlieben und Gewohnheiten ihrer Kundschaft kennt sie in- und auswendig, und den Filmemachern erklärt sie, welche Häuser seit wann verwaist sind.
Ushimado ist das ideale Pflaster für die geduldigen Beobachtungen, die Kazuhiro Sodas in betörendem Schwarzweiß fotografierter Minatomachi anstellt – nicht nur weil die Familie seiner Produzentin Kiyoko Kashiwagi daher stammt und weil schon Shohei Imamura zwei Spielfilme dort gedreht hat. Es reicht ganz einfach zuzuhören und den Menschen zu folgen, die wie die alte Frau Komiyama bisweilen die Kamera entführen und herzzerreißende Geschichten erzählen, die sich noch nie ein Außenstehender anhören wollte. (Christoph Terhechte)

Kazuhiro Soda wurde 1970 in Ashikaga, Tochigi (Japan) geboren und lebt seit 1993 in New York. Er studierte Religionswissenschaft an der Tokyo University und schloss 1997 ein Filmstudium an der School of Visual Arts in New York ab. Anschließend drehte er Spielfilme und zahlreiche Fernsehdokumentationen, bevor 2007 sein erster abendfüllender Dokumentarfilm Senkyo entstand. Neben seiner Arbeit als Filmemacher ist Kazuhiro Soda auch als Autor von Sachbüchern und Beiträgen für Filmzeitschriften tätig. Zu seinen Publikationenen der vergangenen Jahre zählen „Kansatsusuru Otoko“ (2016, A Man Who Observes) und „Nekkyo naki Fashizumu“ (2014, Fascism without Enthusiasm). Bis 2017 war Soda Gastprofessor an der University of Michigan (USA).

Traumspiel und Dokumentarfilm

Ushimado ist die Heimatstadt der Mutter meiner Frau Kiyoko Kashiwagi. Aus diesem Grund sind wir dort häufig zu Besuch und haben bei diesen Gelegenheiten einige Fischer kennengelernt, die dort leben. Im November 2013 drehten wir schließlich den Film OYSTER FACTORY auf der Insel.
In den vergangenen zehn Jahren habe ich Dokumentarfilme gedreht, bei denen es mir vor allem um das Beobachten ging. Ich nehme spontan meine Kamera zur Hand und beobachte und belausche damit die Realität um mich herum. Dabei verbiete ich mir, im Vorfeld zu recherchieren, Themen zu definieren oder ein Drehbuch zu schreiben. Ich erlege mir diese Regeln – meine „Zehn Gebote“ – auf, um vorgefasste Meinungen zu vermeiden und um etwas jenseits meiner Erwartungen zu entdecken.
Auch das MINATOMACHI-Projekt entstand ohne vorherige Planung. Während wir in der Umgebung von Ushimado Landschaftsaufnahmen für OYSTER FACTORY machten, trafen wir zufällig den Fischer Wai-chan beim Arbeiten an der Küste. Er erinnerte mich an die Geschichte „Der alte Mann und das Meer“, und ich fing an, ihn zu filmen. Dann fing Kumi an, sich ins Bild zu drängen. Wir lernten Koso vom Fischmarkt kennen, Kubota und ihre streunenden Katzen, und auf dem Friedhof Muragimi. Während wir uns mit den ökologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zyklen in Ushimado beschäftigten, wurde uns klar, dass wir genug Material für einen weiteren, ganz anderen Film über diese Stadt hatten.
Normalerweise bleibt der Ausgangspunkt für einen Film in Bereichen unseres Alltags verborgen, in denen wir ihn nicht vermuten. Dieser Punkt ist in der Regel so klein und unbedeutend, dass wir Gefahr laufen, ihn zu übersehen. Wenn wir ihn aber wahrnehmen und dann anfangen, aufmerksam zu sehen und zu hören, können wir eine Welt entdecken, die reich und reizvoll ist.
Insbesondere jener Punkt, zu dem Kumi uns führte, war geheimnisvoll für uns; er schien fast etwas mit dem Jenseits zu tun zu haben. Im japanischen No-Theater gibt es eine beliebte Variante namens „Mugen No“, bei der ein Reisender einem Geist begegnet, der ihm erzählt, was an einem ganz bestimmten Ort geschehen ist. Die Szene, in der Kumi mich in der Dämmerung in die Berge mitnimmt, hat Ähnlichkeit mit einem solchen Traumspiel. Ich hatte niemals daran gedacht, dass ich so etwas im Rahmen eines Dokumentarfilms drehen könnte. Die Zuschauer*innen von MINATOMACHI könnten das Gefühl bekommen, einen Traum oder eine Illusion zu sehen.
Bis in die letzte Phase der Postproduktion hinein war der Film farbig, sogar das Color-Grading war bereits abgeschlossen. Aber dank einer spontanen Anregung von Kiyoko entschied ich mich für Schwarz-Weiß. Das Color-Grading musste wiederholt werden. Das Schwarz-Weiß kreiert gewissermaßen eine fiktionale Ebene in dem Film – das passt perfekt zu MINATOMACHI. Tatsächlich kann ich mir diesen Film nicht mehr in Farbe vorstellen. Ich kann nicht glauben, dass ich ihn bis zur letzten Phase der Postproduktion in Farbe gesehen habe. (Kazuhiro Soda)

Zehn Gebote
1. Keine Recherchen.
2. Keine Treffen mit Protagonisten.
3. Keine Drehbücher.
4. Bediene die Kamera selbst.
5. Drehe so lang wie möglich.
6. Beobachte überschaubare Bereiche möglichst genau.
7. Lege vor der Montage kein Thema oder Ziel fest.
8. Keine Narration, keine eingeblendeten Titel, keine Musik.
9. Verwende lange Einstellungen.
10. Finanziere die Produktion selbst.

Distanz und Respekt

Die Insel ist schön. Das Meer ist schön. Die Katze ebenfalls. Aber am schönsten sind die Menschen hier. Die Szene, in der eine der Protagonistinnen kurzerhand die Regie übernimmt  – sie bringt die Kamera mit, um am Ende eine Geschichte zu erzählen, die sie vermutlich noch niemals irgendjemandem erzählt hat –, ist auf ganz stille Art und Weise überwältigend, originell und emotional. Ich hatte in keinem Moment das Gefühl, gedrängt oder manipuliert zu werden. Die Szene wirkte einfach, als wäre etwas auf ganz natürliche Weise zu den Aufnahmen hinzugekommen. Das ist die Kunst des Dokumentarfilms.
Der Film ist gewissermaßen das Dokument der aufrichtigen, respektvollen Beziehung zwischen dem Filmemacher und seinen Protagonisten – und seiner respektvollen Distanz gegenüber den Menschen, die hier leben. Deshalb bricht einem die letzte Szene, in der der Regisseur mit seiner Kamera das Fischerdorf verlässt, fast das Herz. MINATOMACHI ist ein subtil berührender, atemberaubender Film. (Bong Joon-ho)

Produktion Kiyoko Kashiwagi, Kazuhiro Soda. Produktionsfirma Laboratory X (New York, USA). Regie Kazuhiro Soda. Kamera Kazuhiro Soda. Montage Kazuhiro Soda. Ton Kazuhiro Soda.

Weltvertrieb TriCoast Worldwide

Filme

1995: A Night in New York (10 Min.), A Flower and a Woman (5 Min.). 1996: Freezing Sunlight (85 Min.). 1997: The Flicker (17 Min.). 2007: Senkyo / Campaign (120 Min., Forum 2007). 2008: Seishin / Mental (135 Min., Forum 2009). 2010: Peace (75 Min.). 2012: Engeki 1 / Theatre 1 (172 Min.), Engeki 2 / Theatre 2 (170 Min.). 2013: Senkyo 2 / Campaign 2 (149 Min.). 2015: Kaki Kouba / Oyster Factory (145 Min.). 2018: The Big House (119 Min.), Minatomachi / Inland Sea.

Foto: © 2018 Laboratory X, Inc.

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