Direkt zum Seiteninhalt springen

67 Min. Deutsch, Arabisch.

Im sächsischen „Tal der Ahnungslosen“, weit weg von Berlin und der alten Bundesrepublik, war zu DDR-Zeiten kein Westfernsehen zu empfangen. Man lebte damals ruhiger, erinnert sich eine Bewohnerin in Florian Kunerts Film – ganz im Gegensatz zur Gegenwart, wo die Region durch weit verbreitete Fremdenfeindlichkeit traurige Medienberühmtheit erlangt hat. Kunert, 1989 geboren, ist hier aufgewachsen. In seinem Film unternimmt er ein Experiment: Rund um die Ruine des volkseigenen Kombinats „Fortschritt“, wo einst Landmaschinen hergestellt wurden, inszeniert er für die Kamera und durch die Montage filmisches Erinnern. Junge syrische Flüchtlinge, die heute dort leben, lässt er auf ehemalige Werksangestellte treffen. FDJ-Lieder, Trabis oder auch ein Pferd initiieren Reenactments, die Protagonisten werden dabei zu Darstellern ihrer eigenen Geschichten. Archivmaterial aus Zeiten, da die Freundschaft zwischen Syrien und der DDR bejubelt wurde kontrastiert zeitgenössische Aufnahmen von Pegida-Versammlungen. Kunerts Arbeit als Regisseur ähnelt der eines Therapeuten, der sich um der komplizierten Gegenwart willen mit der Vergangenheit beschäftigt, die sich nicht so einfach nacherzählen lässt. (Dorothee Wenner)

Florian Kunert wurde 1989 in Sebnitz (DDR) geboren. Er studierte Dokumentarfilmregie an der Filmhochschule Escuela Internacional de Cine y TV in Kuba und schloss ein postgraduales Studium an der Kunsthochschule für Medien in Köln ab. Florian Kunert ist als Autor und Regisseur tätig. Fortschritt im Tal der Ahnungslosen ist sein erster abendfüllender Film.

Das Erbe der DDR und seine Folgen

Seit Oktober 2014 versammeln sich in Dresden jeden Montag Tausende Menschen unter dem Namen „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA), um gegen die deutsche Asylpolitik zu protestieren. Warum ist der Protest in Ostdeutschland so viel größer und gewaltbereiter als im übrigen Land?
Ich begann diese Frage im Hinblick auf die Vergangenheit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu recherchieren. Dabei interessiert mich vor allem die psychologische Bedeutung der Wende 1989. Bei vielen wurde das persönliche Identitätsgefühl durch den Verlust der nationalen Zugehörigkeit tief erschüttert. Aber die passive Teilnahme an der friedlichen Revolution resultierte nicht zwangsläufig in einer inneren Verarbeitung oder einem Verständnis, in welcher Form man vielleicht ganz konkret vom DDR-Regime beeinflusst wurde. 
Als Kind von Eltern, die in der DDR gelebt haben, möchte ich die Komplexität und die tiefen Widersprüche dieses Verlusts erforschen. Dabei konzentriere ich mich auf das „Tal der Ahnungslosen“: eine Region in Ostdeutschland, in der damals kein Fernsehsignal aus dem Westen als alternative Informationsquelle zur DDR-Propaganda empfangen werden konnte. Das Gebiet stellt heute den Ursprung der fremdenfeindlichen PEGIDA-Bewegung dar.
Ich stand vor der Frage, wie ich eine visuelle Sprache finden kann, um die oft subtile soziale Konditionierung des DDR-Alltags sichtbar zu machen? Der experimentelle Charakter der Inszenierung des Films hilft dabei, über die gewohnten, oft nostalgischen Narrative der persönlichen Geschichte hinauszugehen und Raum zu schaffen für eine instinktive Wortwahl zum Ausdruck der Erinnerungen. Die syrischen Asylbewerber spielen im Finden dieser neuen Sichtweise auf die DDR-Geschichte eine wichtige Rolle, indem sie ihren eigenen, zeitgeschichtlichen Kontext der Debatte hinzufügen.
1989 geboren, habe ich die DDR nicht unmittelbar erlebt; dennoch habe ich mir oft die Frage gestellt, inwiefern ich ein Teil ihrer kollektiven Erinnerung bin. In Archivmaterialien des DDR-Fernsehens finde ich die fehlenden Bilder für dieses Erinnerungsgefühl. Der Film trägt diese Erinnerungsbilder in das ehemalige Fabrikgebäude des Kombinats „Fortschritt“, das seit seiner Schließung in den 1990er-Jahren als Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber diente. Geschichtliche Bedeutung auf ein Gebäude zu übertragen und dann dessen Zerstörung zu filmen hat etwas Befreiendes, was es mir ermöglicht hat, den Werdegang der DDR retrospektiv nachzuempfinden. FORTSCHRITT IM TAL DER AHNUNGSLOSEN wird damit zum Raum, in dem das Erbe der DDR und seine Auswirkungen auf die heutige Zeit hinterfragt werden. (Florian Kunert)

Gespräch mit Florian Kunert: „Es ist schwierig für meine Generation, so nah an einer gelebten Erfahrung zu sein“

Poh Lin Lee: Kann man den Titel des Films FORTSCHRITT IM TAL DER AHNUNGSLOSEN auch als Frage verstehen? 

Florian Kunert: Es gibt bestimmt Zuschauer, die diesen Titel auch als Provokation auffassen. Aber ich hoffe, der Film verhandelt diese Metapher so gründlich, dass sie nicht oberflächlich bleiben kann und man mit einfachen Schuldzuweisungen nicht durchkommt. 

Also ist es eine Art Frage, aber auch eine Einladung, dieser Frage genauer nachzugehen? 

Ja. Der Film selbst ist durchweg provokativ, ebenso wie der Titel. Wir haben versucht, den Film so zu montieren, dass er sich immer am Abgrund bewegt. Sobald man denkt: Das ist jetzt zu viel Provokation, tritt der Film einen Schritt zurück und lädt ein, darüber nachzudenken. Der Film konstruiert etwas, was anschließend dekonstruiert und reflektiert wird. Das war unsere Arbeitsmethode. Es war sehr schwierig, diese sehr feine Grenze beim Schneiden des Films auszuloten – die Erinnerung an die DDR auf provokante Weise herauszuarbeiten, ohne diese Grenze zu überschreiten. 

Worauf hast du dich verlassen, um zu erkennen, wann diese Provokation zu sehr übertrieben wurde? Waren es Gespräche mit deinem Team, oder hattest du andere Hilfen, um diese Grenze auszuloten? 

Das war ein schwieriger Teil des Drehs. Denn das Problem war, dass ich kein Außenstehender bin, der diese Grenze objektiv einschätzen kann. Ich bin auch ein Betroffener dieser Zeit. Das machte es sehr schwer, eine Grenze zu ziehen, und deshalb gab es während der Dreharbeiten auch Grenzüberschreitungen. Andererseits war ich manchmal auch überempfindlich. Ich hoffe aber, dass es spätestens während des Schnitts genügend Zeit, Reflexion und Distanz zu dem gab, was passiert ist, um einen reflektierten Weg zu finden, es in den Film einzubauen. 

Du hast erwähnt, dass die Struktur des Films darin besteht, zu provozieren und anschließend zu dekonstruieren. Es hört sich so an, als hätte der Herstellungsprozess des Films in gewisser Weise eine ähnliche Struktur angenommen. Hast du damals erkannt, dass der Prozess der Dreharbeiten anfängt, die Struktur des Films zu reflektieren? 

Das wurde mir erst nach den ersten Drehtagen bewusst. Wir haben 2015 mit den Dreharbeiten begonnen, dann musste ich abbrechen, weil einiges außer Kontrolle geraten und einfach zu wenig vorbereitet war. Beim Nachdenken über diese vier ersten Drehtage stellte ich fest, dass einer der Tage wirklich gut gelaufen war. Mir wurde klar, dass es um dieses Zusammensein ging, um dieses gemeinsame Meditieren über ein Thema, dem wir uns spielerisch näherten, bis wir plötzlich auf eine Wahrheit der Vergangenheit stießen, die der eine oder andere Protagonist erlebt hat. Es ging darum, schockiert davon zu sein und anschließend mit der gleichen Zeit und Verspieltheit, die uns dorthin gebracht hatte, wieder herauszukommen. Mir wurde klar, dass dies auch die Methode für die weiteren Dreharbeiten sein musste. Danach ging ich diesbezüglich viel bewusster bei der Drehplanung vor. 
Die Herausforderung, die gleichzeitig auch eine Art von Werkzeug ist, das der Film benutzt, bestand darin, dass die Syrer eine ganz andere soziale Konditionierung haben. Kulturell, aber auch altersbedingt: Sie sind zwischen zwanzig und dreißig, während die ehemaligen Fortschrittsarbeiter alle zwischen fünfundfünfzig und achtzig und deutscher Herkunft sind. Das war eine Herausforderung. Bei unserem Versuch, die Erinnerungen der älteren, deutschen Darsteller sichtbar zu machen, hatten wir es mit einer dickeren Haut zu tun. Wir wollten über eine Art der Erzählung hinausgehen, die die Gruppe in Hüter von Wissen und in Zuhörende unterteilt. Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, es möglich zu machen, dass die Darsteller trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft mehr oder weniger auf Augenhöhe zusammenarbeiteten. Aufgrund des Machtgefälles, das in diesem Zusammenhang vor allem im Flüchtlingsstatus und im Altersunterschied bestand, war das ein schwieriges Unterfangen. Im Schneideraum haben wir versucht, die Momente, in denen die Syrer am Zug waren, hervorzuheben und den Schnitt darauf zu konzentrieren. 

Welche Absicht stand hinter dem Versuch, das Machtgefälle im Schnitt auszugleichen? War es ein ethischer Gedanke, besonders sorgfältig darauf zu achten, auf welche Art die Menschen im Film gezeigt werden, oder war dieses Gefälle dem Film einfach nicht dienlich? 

Wenn wir den Machtausgleich zwischen den Darstellern nicht hätten, würden wir älteren ehemaligen DDR-Bürgern dabei zusehen, wie sie jüngeren syrischen Geflüchteten von ihrer Vergangenheit erzählen – und das wäre höchstwahrscheinlich ein sehr langweiliger Film. Mich interessierte dieser ganz anders konditionierte Blick auf die DDR-Vergangenheit, der ihre Intensität und manchmal auch Absurdität erkennbar werden lässt. Die frische, leichte Sichtweise, die die syrischen Darsteller auf unsere Vergangenheit haben, ist eine Perspektive, die wir hier in Deutschland unter Deutschen nur schwer einnehmen können. Ich fand interessant, dass die syrischen Geflüchteten auf der Basis eines völlig anderen kulturellen und sozialen Hintergrunds nun mit diesem Erbe der deutschen Vergangenheit konfrontiert werden und sich dem auch nicht entziehen können. Es war also nicht ich, der ihnen diese Auseinandersetzung aufhalste, obwohl ich sie an all diese Erinnerungsorte – wie beispielsweise das DDR-Museum – einlud. Die Geflüchteten sehen sich ohnehin täglich mit einer bestimmten Konditionierung der Menschen, denen sie in ihrer neuen Umgebung begegnen, konfrontiert, zum Beispiel, wenn sie zum Arzt gehen. Jeden Tag erzählten sie Geschichten, in denen ich diese Konditionierung erkenne, die zu einem Verhalten führt, das viel rassistischer ist als in anderen Teilen Deutschlands. Ich hatte deshalb nicht das Gefühl, dass ich sie instrumentalisierte, indem ich den Film mit ihnen drehte. Ich lud sie vielmehr dazu ein, das, was sie erleben, auf einer tieferen Ebene zu verstehen. 

Was kann diese frische syrische Perspektive deiner Ansicht nach der deutschen Gesellschaft zurückgeben? Was hat es mit dieser neuen Perspektive auf die DDR auf sich, die die Syrer anbieten – könnte sie wirklich etwas zur deutschen Geschichte beitragen? 

Es ist wirklich schwer, diese Frage zu beantworten. Für mich macht ihre Perspektive bestimmte Dinge sichtbar. 

Es geht also darum, an etwas anzuknüpfen, das bereits im Gange ist? 

... und darauf aufzubauen. Wenn wir über das Erbe der DDR sprechen, gibt es eine sehr dominante Erzählung über die Gräueltaten, die dort verübt wurden, über Leute, die verhaftet und von der Stasi verhört wurden, über Leute, die im Alltag auf Schritt auf Tritt beobachtet wurden. Das ist natürlich wahr, und es ist wichtig, das zu wissen. Gleichzeitig ist diese Erzählung weit von dem entfernt, was den meisten Menschen im Tal der Ahnungslosen bezüglich ihrer DDR-Vergangenheit bewusst ist. Viele von ihnen sind nicht wissentlich Opfer des Regimes gewesen bzw. haben nicht bewusst verarbeitet, inwiefern sie vielleicht Betroffene eines bestimmten Systems in der DDR waren – eines Militärregimes, das auf sehr subtile Weise auch ihr tägliches Leben prägte und behinderte. Mit Menschen zu arbeiten, die von sich aus nicht über diese Themen reflektieren, war oft sehr anstrengend. Es musste also ein anderer Ansatz gefunden werden, mit dem sie über die eigene Vergangenheit sprechen konnten. Es brauchte ein Werkzeug oder eben diese Kontextualisierung, damit sie ihre eigene Vergangenheit neu beleuchten konnten. Und dazu haben die syrischen Darsteller beigetragen. 

Was hat es für dich während der Herstellung des Films bedeutet, dass du selbst keine erlebte Erfahrung der DDR hast?

Es ist definitiv eine schwierige Voraussetzung für die Angehörigen meiner Generation, so nah an einer gelebten Erfahrung zu sein und doch keine lebendige Erinnerung daran zu besitzen. Wohin also mit den Dingen, die in deiner Erziehung, in deinem sozialen Kontext an dich weitergegeben wurden? Diese Problematik führte mich zu der Frage, was 1989 in meiner Heimatstadt geschah, in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, im Tal der Ahnungslosen, wo die Revolution ganz anders ablief als in Leipzig, in Berlin und anderen Städten der DDR. An dieser Stelle wird es schwierig, über das Thema zu sprechen, denn natürlich gab es in meiner Stadt auch Schicksale und Erfahrungen, die diese Sichtweise nicht bestätigen. Meine eigene Familienerfahrung spielt also immer eine Rolle, wenn ich über diese Fragen spreche. 

(Interview: Poh Lin Lee, Nizza, November 2018)

Produktion Stefan Gieren, Florian Kunert, Dr. Sabine Schulz, Frank Döhmann, Sarah Scheier. Produktionsfirma The StoryBay UG (Salzwedel, Deutschland), Kunsthochschule für Medien (Köln, Deutschland). Regie, Buch Florian Kunert. Kamera Joanna Piechotta. Montage Ian Purnell, Florian Kunert. Musik Stefan Galler, Franziska Henke. Sound Design Stefan Voglsinger. Ton Stefan Voglsinger, Christian Bläsche. Mit Majed Alsaid, Hasan Jamjoom, Salem Alkadro, Basil Al Hasso, Christian Tuschling, Gerda Tuschling, Heike Kunert, Uta Müller, Klaus Kremer, Jürgen Lippmann.

Uraufführung 09. Februar 2019, Forum

Filme

Dokumentarfilme: 2017: Oh Brother Octopus (27 Min., Berlinale Shorts 2017). 2019: Fortschritt im Tal der Ahnungslosen / Progress in the Valley of the People Who Don’t Know.

Foto: © tsb / Joanna Piechotta

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur