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90 Min. Portugiesisch.

Marcelo de Sousa ist Cowboy in der brasilianischen Pampa. Er mag seinen Beruf, das Reiten, die Rinder, die er zärtlich bei ihren Namen nennt, das Land, das ihn ernährt. Als er bei einem brutalen Überfall auf die Farm nicht verhindern kann, dass hunderte Rinder aus seiner Obhut gestohlen werden, ist nichts mehr wie zuvor. Marcelo wird depressiv und hängt seinen Job an den Nagel. Zum Glück hat er gute Freunde und eine große Leidenschaft: Als Zeremonienmeister bei eigens veranstalteten Rodeo-Shows blüht er zu neuem Leben auf. Seine furios gerappten Ansagen huldigen nicht nur der Cowboykultur, sondern auch der gelebten Solidarität der Landbevölkerung, die wenig Vertrauen in die politische Führung des Landes hat.
In Querência zeigt Helvécio Marins einen aus der Bahn geworfenen, melancholischen Helden, der dennoch ganz bei sich ist. Seine souveräne Inszenierung verzichtet weitgehend auf alles Dramatische und konzentriert sich darauf, einen spezifischen Lebensstil zu porträtieren. Das gelingt nicht zuletzt dank einer Kamera, die Momente der Einsamkeit ebenso präzise einfängt wie die laute Aufregung der Rodeo-Shows und die in warmes Licht getauchte endlose Weite der Landschaft. (Hanna Keller)

Helvécio Marins Jr. wurde 1973 in Belo Horizonte (Bundesstaat Minas Gerais, Brasilien) geboren. 1997 schloss er ein Jurastudium an der brasilianischen Universität Faculdades Milton Campos ab. Im Anschluss studierte er bis 2002 Film an der Pontifícia Universidade Católica de Minas Gerais in Belo Horizonte. 2014 verbrachte er als Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD mehrere Monate in Berlin.

Brasilianisches Rodeo

QUERÊNCIA ist ein Film über das ländliche Brasilien – ein unbekannter, missachteter und an den Rand gedrängter Teil Brasiliens. Der Film porträtiert eine Region, die sich sehr von dem unterscheidet, was sonst in Filmen oder in den Medien thematisiert wird: die Großstädte mit ihren Problemen. In diesem Film aber geht es um das Leben der Protagonisten auf dem Land und um einen Landstrich, der nach wie vor von den Ritualen und Traditionen ihrer Vorfahren geprägt ist. In QUERÊNCIA leben die Menschen vom Ertrag ihres Landes, teilen sich das Land mit ihren Tieren, zu denen sie eine persönliche und liebevolle Beziehung haben – was wiederum ein zentraler Bestandteil ihrer beständigen (und widerständigen!) Kultur ist. Das Verhältnis der Landbewohner*innen zu ihrem Land und ihren Tieren zieht sich durch alle Bereiche des Landlebens und spiegelt sich in religiösen Zeremonien und Festen ebenso wie in der Gastronomie und in der Musik.
Der Film spielt in einer ländlichen Region des Bundesstaates Minas Gerais. Menschen in der Region, wo wir gedreht haben, übernahmen Rollen in unserem Film. Die Handlung beruht zum großen Teil auf wahren Begebenheiten. Marcelo, die Hauptfigur des Films, trägt im richtigen Leben denselben Vornamen; die meisten Figuren sind nach den sie Darstellenden benannt worden. Marcelo spielt einen 30-jährigen Cowboy, der am Flussufer des Urucuia geboren und aufgewachsen ist, jenem Fluss, den die literarische Figur Riobaldo aus Guimarães Rosas Roman „Grande Sertão Veredas“ verehrte. Inzwischen lebt Marcelo auf einer Farm. Der Film macht sich seine Stimme, seinen Körper und seine Gesten zu eigen, um seine Geschichte und die der anderen Cowboys zu erzählen.
Mit nichtprofessionellen Schauspielern zu arbeiten erfordert ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Eine solche Beziehung aufzubauen braucht Zeit – eine Zeit, in der man zusammenlebt und -arbeitet, sich anfreundet und sich austauscht. Dank dieses Annäherungsprozesses war es Marcelo, Kaic, Branco, Roni und den anderen Laiendarstellern möglich, Rollen zu spielen und Regieanweisungen zu folgen, ohne dabei ihre Identität aufzugeben. Diese Zeit war von einer Großzügigkeit geprägt, die sich auch auf der Leinwand wiederfindet.

Ein Antiheld unserer Zeit
Der Film erzählt die Geschichte von Marcelo, dem es nach einem traumatischen Erlebnis – bei einem Überfall auf die Farm, auf der er arbeitet, wurden etwa einhundert Rinderköpfe gestohlen – gelingt, wieder in sein normales Leben zurückzufinden. Der Überfall auf die Rinder fand auch in Marcelos wahrem Leben statt und gilt als einer der größten Überfälle, die jemals in dieser Region stattgefunden haben.
Im Film verliert Marcelo nach diesem Ereignis jegliches Vertrauen und fühlt sich isoliert. Doch seine menschlichen Werte und seine hinreißende Unkompliziertheit lassen ihn zu einem Antihelden unserer Tage werden. Seine Offenheit, Sensibilität und Ehrlichkeit sind keine äußerlichen Charaktereigenschaften, sondern durchströmen Herz und Seele dieses jungen Mannes.
Im Verlauf des Films wandelt sich dieser einsame, melancholische Cowboy in einen Rodeo-Moderator, der sein Publikum begeistert und während eines Rodeos gegen Ende des Films seinen Gegenspieler erkennt – den für den Überfall hauptverantwortlichen Räuber.
QUERÊNCIA verknüpft die Geschichte Marcelos mit der Schilderung des Lebens der Menschen in der Region: ihren Ritualen (zum Beispiel das Segnen von Cowboys und Rindern), ihrer Arbeit auf dem Feld, ihrer Beziehung zu den Tieren (die sich in den Namen zeigt, die sie ihren Kühen und Rindern geben: Dynamit, Pokemon, Sieben Herzen, Barrada oder Witwe). Gezeigt wird auch die Unfähigkeit der Mächtigen und der Städter, das ländliche Leben zu verstehen; es gibt Szenen der Zusammenarbeit zwischen Kaic, Branco, Roni und Marcelo, die beschreiben, was sie essen und trinken, welche Musik sie lieben und wie sehr sie ihr Land lieben.
Außerdem gibt es das Rodeo, den Schauplatz, der Marcelo verändert und seine Wandlung vom Cowboy zum Moderator der Veranstaltung bewirkt. Mit seiner sympathischen Art führt er das Publikum, setzt den Ton der Show, die von den nordamerikanischen Rodeos inspiriert ist, aber dennoch eine typisch brasilianische Note hat – wie die Texte, die Marcelo und Kaic vortragen. Sie bringen das Publikum entweder zum Lachen oder formulieren Kritik an politischen oder gesellschaftlichen Themen.

Die Rituale der Cowboys
QUERÊNCIA enthält auch traumhafte oder phantasmagorische Elemente. Zuweilen beschwört Marcelo die Geister, berichtet von seinen Erinnerungen und stellt Verbindungen zu seinen Träumen her. Immer wieder kommt er auf den Überfall zurück, erwähnt ihn anderen Leuten gegenüber oder verarbeitet ihn in seinen Träumen. Im Verlauf des Films tauchen diese fragmentarischen Momente immer öfter auf, irgendwann lassen sie auch die Erinnerung an Marcelos erste Liebe durchbrechen, eine schöne, junge Frau, die in mehr oder weniger geisterhafter Form an verschiedenen Stellen des Films auftaucht – ebenso wie die toten Kühe und Rinder, an die Marcelo und die anderen Cowboys sich erinnern.
QUERÊNCIA beginnt als fast dokumentarische Arbeit und zeigt die Vorbereitungen und die Trainingsrituale des Rodeos. Am Anfang beschreibt der Film noch ohne Figuren die einzelnen Schritte und Maßnahmen, die einem Rodeo vorausgehen. Erst nach dieser langen Sequenz wird Marcelo eingeführt, in einer ebenfalls eher dokumentarischen Szene: Zu Pferde treiben er und die anderen Cowboys ein große Rinderherde über die Weide.
Die Art der Narration erinnert an Robert Flahertys MOANA und nutzt die transformative Kraft des Kinos, um die Zuschauer in die Welt dieser Menschen eintauchen zu lassen und eine Geschichte zu erzählen. Es ist kein Zufall, dass der Film ebenfalls mit einer dokumentarischen Sequenz endet. Zum Schluss sehen wir erneut die Menschen, die am Anfang des Films eine Rinderherde wie bei einer Prozession auf die Weide begleitet haben. Nun dringen sie in die Stadt Unaí ein, verteilen sich unter den überraschten Blicken der Städter in die Straßen.
QUERÊNCIA ist ein Film über Marcelo und über die Liebe zum Land, zu den Tieren und zur Natur. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass dieser Film vom einfachen Leben der Sertanejos handelt, die vergessen und missachtet in einem entlegenen Winkel Brasiliens leben. Da, wo die Menschen mit wenig auskommen, wird Marcelo mit seiner Menschlichkeit und Charakterstärke – Eigenschaften, die man in Brasilien nicht mehr häufig antrifft – zu einem Vorbild. Darüber hinaus wird er zu einer fundamental wichtigen Figur, indem er sich der politischen, finanziellen, moralischen und ethischen Krise, in der sich Brasilien befindet, entgegenstellt. (Helvécio Marins Jr.)

Produktion Eliane Ferreira, Pablo Iraola, Walter Salles, Paulo de Carvalho, Gudula Meinzolt. Produktionsfirmen Muiraquitã Filmes (São Paulo, Brasilien), Videofilmes (Rio de Janeiro, Brasilien), Autentika Films (Berlin, Deutschland). Regie, Buch Helvécio Marins Jr.. Kamera Arauco Hernandez Holz. Montage Telmo Churro. Musik O Grivo. Sound Design O Grivo. Ton Gustavo Fioravante. Production Design Denise Vieira. Kostüm Denise Vieira. Mit Marcelo di Souza (Marcelo), Kaic Lima (Kaic), Carlos Dalmir (Branco), Márcia Rosa (Márcia), Abadia Amparo Pires do Maciel (Badu), Nivaldo Botelho (Nivaldo), Vanessa Ribeiro (Vanessa), Rone Trindade (Rone), Diélyka Souza Maciel (Diélyka), Antonio Pires Maciel (Tonho).

Weltvertrieb The Open Reel
Uraufführung 08. Februar 2019, Forum

Filme

2001: 2 homens / 2 Men (5 Min.). 2003: Alma Nua (6 Min., Loop). 2005: Nascente (17 Min.). 2006: Trecho (18 Min.). 2009: Nem Marcha Nem Chouta Nor a trot or a cânter (7 Min.). 2011: Girimunho / Swirl (90 Min.). 2013: Fernando Que Ganhou Um Pássaro Do Mar / Fernando Who Received a Bird From the Sea (20 Min., Forum Expanded 2014). 2019: Querência.

Foto: © Sabrina Maniscalco

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