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Jede Institution braucht einen Ausgangspunkt. Wo lag dieser für das Forum?

Ulrich Gregor: Es gab 1970 in der Weihnachtszeit eine Pressekonferenz der Berlinale zu dem Thema, wie es mit dem Festival nach den Ereignissen im Juni 1970 weitergehen sollte. Damals wurde die Berlinale nach den Turbulenzen, die Michael Verhoevens experimenteller Antikriegsfilm O.K. auslöste, abgebrochen. Der amerikanische Jury-Präsident George Stevens verlangte die Entfernung des Films aus dem Wettbewerb, dagegen gab es Solidarisierungen, das Festival fand keine Lösung. Es bedurfte einer Erneuerung. Ich bin zu der Pressekonferenz hingegangen in der Hoffnung, Neuigkeiten zu erfahren. Es gab auch wirklich welche: Der Verwaltungsrat hatte beschlossen, den Freunden der Deutschen Kinemathek anzubieten, 1971 eine eigene Sektion im Rahmen der Berlinale zu veranstalten. Das kam völlig aus dem Nichts.

Erika Gregor: Ich erinnere mich sogar, dass du gleich anschließend in einem Radiointerview gesagt hast: Ich höre zum ersten Mal von diesem Angebot.

UG: Im Januar gab es dann ein etwas formelleres Gespräch mit dem Kuratorium der Festspiele GmbH. Darin saßen Vertreter von Berlin und Bonn. Da wurden wir noch einmal direkt gefragt: Können Sie das? Wir haben uns angeboten, für die schwierigen und gefährlichen Filme einzustehen. Die mussten im Berlinale-Programm irgendwie dabei sein, aber niemand wusste, wie man damit umgehen sollte. Wir waren darin einigermaßen geschult, und galten als halbwegs seriös. Ich habe gesagt: die wichtigste Voraussetzung ist, dass wir eine völlig freie Programmauswahl haben. Dann kam erst einmal die Frage: Wie viel Geld brauchen Sie denn eigentlich? Es war das erste Mal, dass wir uns mit so etwas befassen mussten. Entsprechend schwierig war die Antwort. Das Kuratorium wurde aber gleich konkret: Können Sie mit 300.000 DM auskommen? Da dachte ich zuerst einmal: Das kann doch nicht wahr sein!

EG: Wir hatten ja immer nichts und haben beim Arsenal, mit Ausnahme der Buchhaltung und des Vorführers, umsonst gearbeitet. Ich habe also gerechnet: acht Tage Festival, das macht soundsoviele Filme, und dachte: Wir schaffen das mit 200.000. Dann habe ich aber noch einmal gerechnet, nun mit folgender Überlegung: Viele Filme kommen aus armen Ländern. Wenn wir davon Kopien mit deutschen Untertiteln herstellen und aufbewahren wollen, dann sind vielleicht 300.000 nicht genug. Denn diese Idee mit der Sammlung war von Beginn an wichtig.

UG: Im Stillen stand damals immer der Verdacht im Raum, dass unsere Sektion in einem Debakel enden würde. Deswegen bekamen wir das Geld auch immer nur für ein Jahr zugesichert.

Schon damals fiel eine wichtige Vorentscheidung: Die Sektion sollte sich des „jungen Films“ annehmen. Gab es begriffliche Alternativen?

UG: Wir (das waren neben uns noch Gero Gandert, Heiner Ross und Manfred Salzgeber) haben geknobelt. Der „neue Film“ war zu inhaltslos, der „junge Film“ erschien uns ausreichend offen zu sein.

EG: Und „junger Film“ klang auch in anderen Sprachen gut. Zum Beispiel „giovane cinema“ auf Italienisch.

Ein Arbeitsbegriff, den Sie eben erwähnten, war auch „gefährliche Filme“. Gab es damals noch mehr von solchen „gefährlichen“ Filmen?

UG: Das hatte man ja 1970 erlebt, was ein Film auslösen kann. Die Verantwortlichen der Berlinale waren mit der internationalen Festivalszene nicht so vertraut, wir hingegen waren damals schon jahrelang unterwegs auf den Festivals. Es gab damals im Grunde zwei Alternativen: entweder man stellt das Festival auf den Kopf (zum Beispiel gab es Forderungen, die Preise abzuschaffen), oder man lässt das Festival so, wie es ist, und addiert etwas Neues hinzu.

EG: Berlin war wahnsinnig provinziell. Ich glaube nicht, dass jemand von den Verantwortlichen jemals nach Venedig oder nach Cannes gefahren ist. Wir haben ‘69 in der Akademie und ‘70 im Arsenal schon unser eigenes Programm gemacht ...

UG: Da stand dann im Programm: Aus Anlass der Berliner Filmfestspiele.

Könnten Sie an zwei Beispielen aus dem Programm des Jahres 1971 erläutern, was dem Forum damals wichtig war?

EG: Wir verdankten viel unseren internationalen Verbindungen. Damals kommunizierte man noch durch Briefe. So schrieb uns etwa der Leiter des Goethe-Instituts in Athen: Wie ich höre, machen Sie jetzt ein Festival. Ich habe da einen Film von einem jungen Regisseur, den könnte ich mit der diplomatischen Post schicken. Es war die Zeit der Obristen-Diktatur in Griechenland. Das war REKONSTRUKTION (ANAPARASTASI, 1970), der erste Film von Theo Angelopoulos – für mich bis heute sein schönster.

UG: Wichtig war auch W.R. – MYSTERIEN DES ORGANISMUS von Dušan Makavejev. Er war 1970 in der Jury und war eine Triebkraft der Turbulenz. Der Film war eine Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk. Also sind wir nach München gefahren und haben ihn dort gesichtet. Oder GISHIKI (DIE ZEREMONIE) von Nagisa Oshima. Wir hatten damals eine Expertin in Paris, Madame Govaers, die uns über japanische Filme informierte.

EG: Wir haben alles mit den Händen gemacht. Mit Italien zu telefonieren war sehr schwierig. Es gab ein Telex im Vorzimmer von Doktor Bauer (Alfred Bauer, Leiter der Berlinale von 1951 bis 1976). Da musste man demütig hingehen.

Nehmen wir eine Programmkonstellation aus dem Jahr 1983, um auf die Spannweite der Interessen des Forums hinzuweisen: HEAVEN‘S GATE von Michael Cimino, also ein amerikanischer Großwestern, lief damals neben HIMMEL UND ERDE von Michael Pilz, einem sehr persönlichen Film über die österreichische Provinz als Weltmodell.

EG: HEAVEN'S GATE war zuerst nicht auf unserem Radar, aber als wir den Director’s Cut in Venedig sahen, dachten wir, es wäre der ideale Film, das Forum abzuschließen. Wir sahen das Forum nicht nur als Ort nur für die „kleinen“ Filme, sondern für die wirklich großartigen Filme.

UG: Heaven‘s Gate war eine Erweiterung unseres Spektrums. Michael Pilz‘ HIMMEL UND ERDE ist ein Avantgardefilm, der unbedingt zu uns gehörte. Den zeigten wir auf 16mm. HEAVEN'S GATE kam in 70-mm-Rollen, das waren riesige Büchsen.

EG: Und es war unbeschreiblich schön, HEAVEN'S GATE im Delphi auf der großen Leinwand zu sehe.

Ein Grundthema der Berlinale ist eine hartnäckige Kritik an der Programmierung des Wettbewerbs. Nahmen Sie diese eigentlich wahr, oder kümmerte sich das Forum darum gar nicht?

EG: Was im Wettbewerb lief, bestimmten zu einem großen Grad ja einfach die Teilnehmerländer. Am Beispiel der Sowjetunion kann man das gut erläutern. Wir wollten KALINA KRASSNAJA(Roter Holunder, 1974) zeigen und mussten dafür bei Sovexport am Ku’damm vorsprechen. Niemand kannte Wassili Schukschin, wir mussten den Journalisten den Namen buchstabieren.

Die sowjetischen Behörden wollten diesen Regisseur ungern zeigen, obwohl er doch eigentlich im eigenen Land durchaus populär war?

UG: Sie wollten ihr Land so nicht präsentiert sehen. Wir haben mit den sowjetischen Filmgewaltigen immer gestritten. Das ging bis zu Tarkowski. Wir haben immer gefragt: Erklären Sie, warum ist es so schwierig, Tarkowski zu zeigen? Die Antwort lautete immer: Diese Filme sind nicht repräsentativ für die sowjetische Kinematographie. Einmal haben wir (mit Hilfe von Sergio Gambaroff und seiner Firma Pegasus-Film, die sowjetische Filme importierte) den Tarkowski-Film STALKER bekommen.

Christoph Terhechte: Wann hörte das eigentlich auf, dass de facto die Länder die Festivals beschickten?

UG: Als wir 1971 anfingen, gab es zwar schon eine Auswahlkommission für den Wettbewerb, aber die Basis waren immer die Vorschläge der Länder oder Organisationen, es wurde (nach meiner Kenntnis) nicht zielgerichtet nach einzelnen Filmen gesucht

1990 fand das 20. Forum kurz nach dem Fall der Mauer statt. Wir könnten dieses Datum für einen Rundruf nützen: Wo waren Sie in diesem Jahr, bezogen auf das Forum?

Stefanie Schulte Strathaus: Ich bin 1990 gerade nach Berlin gekommen. In den frühen 90er Jahren habe ich neben meinem Filmstudium parallel in Kino- und Ausstellungsprojekten gearbeitet. 1991 hat mir Karl Winter, der bei den Freunden den Verleih gemacht hat, einen Aushilfsjob vermittelt, so kam ich zum Arsenal. 1994 habe ich die Stelle in der Kinoleitung angeboten bekommen.

CT: Als ich noch in Hamburg als Filmjournalist gearbeitet habe, hatte ich auch mit dem Metropolis-Kino zu tun, das von Heiner Ross geleitet wurde, einem der Gründungmitglieder des Forums. Im Metropolis liefen damals auch immer die Kopien aus der Sammlung der Freunde der Deutschen Kinemathek, also de facto das Programm des Forums. Ab 1988 war ich gemeinsam mit Helma Schleif Redakteur der Blätter des Forums. 1988/89 habe ich in Paris gelebt und dadurch den Mauerfall nicht gleich mitgekriegt. Ich weiß noch, dass ich am 10. November 1989 von einer Telefonzelle in Paris aus im Forumsbüro angerufen habe, um die Termine für die Redaktionsarbeit abzusprechen. Da bekam ich zur Antwort: Sag mal, Christoph, weißt du eigentlich was hier los ist? Der ganze Breitscheidplatz ist voller Trabis! Ich bin dann ziemlich rasch nach Berlin zurückgekehrt. 1990 war das 20. Forum. Das Jubiläumsprogramm bestand aus Filmen aus den 20 Jahren. Da habe ich zum BeispielWINTER SOLDIER(1972) zum ersten Mal gesehen.

Birgit Kohler: Ich bin 1986 nach Berlin gekommen. Zu dieser Zeit war ich nicht mit dem Kino beschäftigt, sondern vor allem aktivistisch unterwegs, neben einem Studium der Theaterwissenschaft. Dann habe ich im Forum 1989 WINTER ADÉ von Helke Misselwitz gesehen, einen Film, der für mich extrem wichtig wurde. Er brachte mich dazu, dass ich eine Arbeit über Frauen und Kultur in der DDR geschrieben habe. Daraus erwuchs dann eine erste Reihe mit feministischen Filmarbeiten im Regenbogenkino. An der Uni es gab damals die Möglichkeit, autonome Projekttutorien abzuhalten, da konnte man sich selbst unterrichten, und wir haben viel zu Film, Feminismus und Theorie gearbeitet, das war ein sehr wichtiger Kontext für mich. Im Arsenal habe ich ab und zu französische Untertitel übersetzt und eingesprochen, zugleich kamen wir mit den feministischen Filmprojekten unserer Initiative „Blickpilotin“ hierher. Ich erinnere mich außerdem noch an eine Vorführung von DER SCHWARZE KASTEN (1992) von Tamara Trampe und Johann Feindt im Delphi, die bleibt mir unvergesslich, auch wegen des intensiven Publikumsgesprächs. Im Grunde haben mich damals politische Anliegen ins Kino und zum Forum geführt.

Cristina Nord: 1990 war ich in Barcelona, im Sommer kam ich dann zum Studieren nach Berlin. Literaturwissenschaften und Lateinamerikanistik. Die Berlinale war für mich als Studentin nicht ganz einfach, damals war der Vorverkauf im Europacenter, da stand ich manchmal sehr lange an. Eine Vorführung von IMITATION OF LIFE (1959) von Douglas Sirk im Arsenal wurde für mich wichtig, weil ich da sah, wie viel man mit diesem Genre Melodrama machen, und wie man mit Emotionalität arbeiten kann. Mein erster Forumsfilm war WARHEADS (1992) von Romuald Karmakar. Ich begriff mich als sehr pazifistischen Menschen und wollte nichts mit Militär zu tun haben. Und da sieht man nur Soldatisches. Mein Widerstand löste sich sehr schnell auf, und ich begriff: ein geduldig beobachtender Dokumentarfilm kann mir eine Welt erschließen, die mir vollkommen fremd war. WARHEADS löste eine sehr lebhafte Diskussion aus, denn viele Menschen waren damals noch sehr stark von der Friedensbewegung geprägt, und nun zeigt uns dieser Film Milizionäre und Fremdenlegionäre und ruft Kolonialkriegserlebnisse auf. Dass sich ein Film gegen meine Überzeugungen richten kann und mich von mir selbst abrücken lässt, wurde zu einer Erfahrung, die ich mit dem Forum verband, und es war im Folgenden tatsächlich immer ein Ort, der solche Begegnungen möglich gemacht hat.

UG: Karmakar wurde uns von Enno Patalas empfohlen. Bei DAS HIMMLER-PROJEKT(1997), in dem Manfred Zapatka die Posener Rede an die SS aus dem Jahr 1943 vollständig vorträgt, haben wir lange diskutiert, weil wir nicht wussten, wie wir mit dem Film umgehen sollten.

CT: Wir haben gesagt, wir müssen dafür eine besondere Diskussionssituation schaffen. Karmakar war verärgert, dass wir für DAS HIMMLER-PROJEKT eigene Kriterien anwandten.

Eines der wichtigsten Jahre war wohl 2001, als die Berlinale an den Potsdamer Platz übersiedelte, wo seit 2000 auch das Arsenal ist. Und es begann die Zeit von Dieter Kosslick als Direktor des Festivals. Und Christoph Terhechte war der neue Leiter des Forums.

SSS: 2001 war natürlich wichtig, aber die Phase der Veränderung ging damals bis 2004, als das Arsenal aus der Zuständigkeit des Berliner Senats in die des Bundes wechselte.

UG: Die Ablösung von Moritz de Hadeln durch Kosslick brachte eine totale Veränderung des Klimas. Davor bestand zwischen der Berlinale und dem Forum eine Rivalität. Jeder hat mit Argusaugen auf den anderen geguckt, das war aber ziemlich fruchtbar und für alle, mit denen wir zusammenarbeiteten, eine starke Motivation. Die Energie, mit der wir nach Filmen geforscht haben, hat sich durch dieses Klima verdoppelt.

CT: Teil der Geschichte ist, dass es Pläne für ein Filmhaus schon vor 1989 gab. Es sollte direkt an der Mauer liegen. Das musste dann in die neuen Pläne integriert werden. 1998 wurde de Hadeln überraschend drei Jahre verlängert, da war ich bereits designierter Leiter des Forums, das ich eigentlich schon 1999 hätte machen sollen. Ulrich und Erika Gregor, die mich gefragt hatten, beschlossen damals: Gut, dann machen wir das auch noch drei Jahre länger. Als ich schließlich auf Kosslick traf, hatte Ulrich Gregor auf die Position des Berlinale-Co-Direktors bereits verzichtet, und ich musste mich mit Kosslick auf eine neue Weise arrangieren.

War es für das Forum nun schwieriger, sich abzugrenzen? Zumal es seit 1986 ja auch noch das Panorama als neue Programmsektion gab, das 1986 von Manfred Salzgeber gegründet wurde, der auch aus dem Forum kam.

CT: Ich hatte inhaltlich keine Probleme mit dieser neuen Konstellation unter Kosslick, der ausdrücklich das Kriegsbeil mit mir begraben wollte – wir hatten uns in Hamburg in einer anderen Angelegenheit einmal überworfen. Moritz de Hadeln und Ulrich Gregor wussten das Kriegsbeil noch ganz vortrefflich zu schwingen. LES AMANTS DU PONT-NEUF (1991) von Leos Carax hätte auch im Wettbewerb laufen können, immerhin war das einer der teuersten Filme der 80er Jahre, aber er lief im Forum, und das war richtig, denn es kommt nicht auf äußerliche Kriterien an, sondern auf die Haltung und die filmischen Qualitäten. Im Mitternachtsprogramm zeigten wir zuerst Hongkongfilme, später dann auch Bollywoodfilme. Das Forum war die erste Sektion eines internationalen Festivals, das indischen Mainstream nach Europa holte. Das war Dorothee Wenner zu verdanken. Wir haben damals in New York an der Second Avenue Videokassetten gekauft und abends im Hotel geguckt.

UG: Das war für uns ein Umschwung. Denn alternative indische Autorenfilmer wie Mrinal Sen hatten nur die allergrößte Verachtung für das kommerzielle indische Kino. Dorothee Wenner hat da den Durchbruch erzielt, dass wir auch an diesen Filmen Interesse fanden.

CT: Es ging ja auch darum, in diesen Filmen andere Qualitäten zu erkennen als ihre schiere Popularität. Im Übrigen war mein erster wirklicher Eingriff im Forum ein quantitativer: Ich habe das Programm gekürzt. Denn es lief viel zu viel. Ich dachte, wir sollten weniger Filme ein bisschen häufiger zeigen.

BK: Eine ganz entscheidende Veränderung war der Moment, als auch für das Forum die Premierenregel galt. Die ist ein Symptom dafür, wie die Branche funktioniert, und sorgt für Konkurrenz unter den Festivals. Seitdem agiert auch das Forum bei der Auswahl der Filme in einem Feld, in dem die Macht der Weltvertriebe immer größer wird und der Einfluss der vielen Pitching Stations und Talent-Märkte ständig zunimmt. Das ist das Ambiente, in dem sich das Forum mit seinem spezifischen Profil heutzutage zu behaupten hat. Und da stellt sich dann die Frage, wo und wie sich überhaupt noch nicht formatierte Filme finden lassen, an denen uns ja so gelegen ist. 

Das Weltkino ist inzwischen ein hoch integriertes Teilsystem eines „Weltinnenraums“, in dem es schwierig ist, noch ästhetische und politische Innovationen zu finden?

CN: Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem das Forum seine Erfolgsgeschichte wieder überprüfen muss, denn der Erfolg kann einem ein bisschen davongaloppieren. Das Forum war extrem wichtig für die Etablierung von Bollywood, inzwischen wurde das aber soweit aufgegriffen, dass Bollywood-Filme auf RTL laufen. Eine Schiene wie das Mitternachtskino ergibt heute kaum noch Sinn, weil es diesen Typus des raren, kultisch aufgeladenen Films nicht mehr gibt. Wo und wie Film gesehen und reflektiert wird, hat sich extrem verändert hat. Im Jahrgang 1971 tauchen noch Vertreter des Dritten Kinos auf, mit einer radikalen Kritik am Status quo aus der Perspektive von Ländern an der Peripherie des hegemonialen Westens. Diese Kritik sieht man heute nur noch selten, zum Beispiel bei Lav Diaz oder Wang Bing. Der Zeitgeist atmet nicht mehr so sehr diese Haltung einer radikalen Kritik. Es gab eine Zeit, in der Frontstellungen stärker dazugehörten. Heute wird Kritik sofort eingespeist, damit (ich sage das jetzt bewusst sehr pauschal) der Kapitalismus besser funktioniert. Minoritäres wird rasch zu einem Teil des Mainstreams.

CT: Es gibt inzwischen nicht nur einen Mainstream der Filmindustrien, sondern auch einen Mainstream bei den Festivals und in der Welt der Filmförderer. Lav Diaz und Wang Bing arbeiten auf ihre Weise recht komfortabel. Ich weiß nicht, wann dieser Moment kam, seit dem man kaum noch etwas entdecken konnte, weil kommerzielle Mechanismen alles sehr schnell aufgreifen. Aki Kaurismäki wurde einmal von de Hadeln abgelehnt und ging dann immer ins Forum, bis er dann unter Kosslick doch wieder in den Wettbewerb ging. Das war dann auch bezeichnend.

UG: Ein großer Regisseur wie Hirokazu Kore-eda hat bei der Festivalvermarktung von seinen Filmen nichts zu sagen. Der Weltvertrieb macht das alles für ihn aus.

Das Forum war einmal das Außen der Berlinale, später wurde das Forum Expanded ein Außen des Forums, inzwischen gibt es kaum noch Möglichkeiten, ein Außen zu finden.

SSS: Das Forum hat von Beginn an sehr radikale Experimentalfilme gezeigt. Allerdings durchlief das Feld in späteren Jahren eine starke Kanonisierung. Viele Arbeiten begannen sich zu ähneln. Michael Snow hat 2012 während unseres Think:Film-Kongresses rückblickend angemerkt, dass er einige Filme für epigonal hielt. Parallel kam Film immer stärker im Kunstbereich vor, da deuteten sich durch andere Dispositive und Kontexte neue Möglichkeiten an. Das fand ich einerseits zuweilen übergriffig, gleichzeitig hatte ich aber den Eindruck, das hier etwas stattfand, was ich im Filmbereich vermisst habe. Vieles, was plötzlich aus der Bildenden Kunst kam, wurde auch im Forum eingereicht, passte aber nichts ins Kino- bzw. ins Festivalformat. Wir haben einmal ein dreistündiges Videotagebuch von der Künstlerin Gina Kim gezeigt. Vor der Premiere wurde sie sehr nervös, weil sie die Kinosituation nicht gewöhnt war, und bat darum, dem Publikum mitzuteilen, dass es rein und raus gehen könne. Sie war dann total verblüfft, dass das Publikum nicht nur blieb, sondern ihre Arbeit sehr positiv als Kinofilm aufnahm.

CT: Das ist eine bedeutende Klarstellung, denn der Avantgardefilm sollte keineswegs aus dem Forum ausgelagert werden. Forum Expanded sollte nicht das Forum von der Pflicht befreien, Experimentelles zu zeigen. Es ging auch um ein neues Publikum, das Ausstellungen und Galerien vertraut ist.

BK: Das Experiment dort zu finden, wo es nicht schon gut sichtbar als Etikett draufklebt – das ist ein Ehrgeiz des Forums.

SSS: Ich sehe das alles als ein Forschungsprojekt, getragen von einem Verständnis unseres kulturellen Auftrags, an öffentlichen Diskursen teilzuhaben und sie zu initiieren. Bei den Ausstellungen im Rahmen von Forum Expanded ging es auch darum, das Kino von außen zu betrachten, und institutionelle Grenzen in ihrer Unveränderbarkeit zu hinterfragen.

UG: TEATRO AMAZONAS (1999) von Sharon Lockhardt hat einen regelrechten Ausbruch beim Publikum hervorgerufen, das fanden wir dann doch sehr interessant, so viel Emotionen durch einen Experimentalfilm.

CT: Filme ohne Label zu sehen – das ist für mich die Essenz des Forums. Keinen vorgefassten Begriff von dem zu haben, was einen erwartet. So habe ich das Forum schon in den 80ern als Kinogänger erlebt. Es verstand sich, dass man das Forumsblatt erst hinterher liest und völlig offen ins Kino geht.

CN: Ich war damals Filmredakteurin bei der taz und machte immer wieder die Erfahrung, dass das Kino ein fürchterlich diskursfreier Raum sein konnte, während das Kunstfeld stark mit Diskurs aufgeladen war. Da gab es einen großen Unterschied. In Deutschland wird das Kino stark mit Unterhaltung assoziiert, es darf einem nicht zu denken geben.

SSS: Darüber hinaus war es für uns immer ein Spagat, die sehr verschiedenen Ökonomien zu verhandeln. Nur ein Beispiel: In Ausstellungskatalogen werden die Namen der Künstler*innen zuerst genannt, bei Festivals sind es die Filmtitel.

Das Forum steht heute mehr denn je im Kontext der vielfältigen Tätigkeiten des Arsenals: Living Archive wäre ein wichtiges Stichwort. Die Gegenwart wird in ihren zeitgeschichtlichen und territorialen Aspekten vielschichtig erschlossen.

SSS: Ich war in meiner ersten Zeit im Arsenal auch für den Verleih und den Kopienversand zuständig. Die Filme des Forums zirkulierten jahrelang, und man konnte an dem, was die Kommunalen Kinos ausliehen, ablesen, was gerade wichtig war. Unsere Filmsammlung bildet diese Geschichte sehr gut ab, das Forum war mit den einzelnen Jahrgängen der Berlinale nie abgeschlossen.

CN: Wir zeigen in diesem Jahr aus Anlass des runden Geburtstags den ganzen Jahrgang 1971. Das tun wir, weil wir es wichtig finden, diesen Transfer zwischen 1971 und 2020 deutlich zu machen. Er ist besonders reich, weil damals so viele Sachen im Schwange waren, die heute noch sehr akut sind. Filme, die damals als Agenten des anti-kolonialen Kampfes fungierten, können heutige Auseinandersetzungen mit Rassismus und Postkolonialismus bereichern. Gleichermaßen gilt das für feministische Filme. EINE PRÄMIE FÜR IRENE von Helke Sander zum Beispiel ist frappierend, wie das einerseits Lichtjahre entfernt wirkt und doch extrem nahe. Es wird weiterhin Filmgeschichte im Forum geben, das ist auch programmatisch wichtig. Ich habe kürzlich einen frühen Film von Angela Schanelec wiedergesehen: ICH BIN DEN SOMMER ÜBER IN BERLIN GEBLIEBEN lief 1994 im Forum. Plötzlich sieht man da eine Berliner Telefonzelle mit diesem schmutzigen Gelb. Das ist ein Berlin, das ich kannte, das war mal da, und heute gibt es das nicht mehr. An diesem Detail, an dem Bild einer Telefonzelle, kann man sehen, dass jeder Status quo immer eine Offenheit in sich trägt. Die Dinge sind nicht mit sich identisch. So würde ich auch das Politische verstehen. In der Auseinandersetzung mit Filmgeschichte kann man eine grundsätzliche Veränderbarkeit begreifen. Das betrifft auch mediale Aspekte. Die Erfahrung analogen Films kann eine Differenzerfahrung sein für Leute, die heute 18 sind. Das gilt auch im Hinblick auf die Weltkarte des Kinos. Früher suchte man die Welt nach unbekannten Territorien ab, wo man Kino-Schätze hob und mit nach Hause brachte. Das hatte etwas von einer kolonialistischen Logik. Das ist vorbei, zum Glück, aber das heißt nicht, dass die Suche nach neuen Weltzugängen aufgegeben wird.

1971 gründeten die Freunde der Deutschen Kinemathek (heute Arsenal – Institut für Film und Videokunst) um Erika und Ulrich Gregor das internationale Forum des Jungen Films als Reaktion auf die Krise der Berliner Filmfestspiele im Jahr 1970. Das Forum wurde „gleichberechtigte Parallelveranstaltung“ neben dem Wettbewerb der Berlinale und rückte Filme in den Mittelpunkt, „die den Entwicklungsprozess des Filmmediums vorantreiben und neue gesellschaftliche Funktionen des Films sichtbar machen“. Nachdem Erika und Ulrich Gregor 30 Jahre lang das Forum leiteten, übernahm von 2002 bis 2018 Christoph Terhechte die Sektion. Milena Gregor, Birgit Kohler und Stefanie Schulte Strathaus, die den Vorstand des Arsenal bilden, verantworteten die Interimsleitung für das 49. Forum 2019. Seit August 2019 ist Cristina Nord Leiterin des Forums, das zum 50. Mal stattfindet.

Das Forum Expanded erweitert das Programm seit 2006 um Videokunst sowie installative und performative Arbeiten in Kinos und Ausstellungsräumen.

Bert Rebhandl ist freier Journalist, Autor und Filmkritiker für die FAZ. Er ist außerdem Mitherausgeber des Filmmagazins Cargo.
 

Das Gespräch wurde im Dezember 2019 geführt, bevor das Wochenmagazin Die Zeit das Ausmaß der nationalsozialistischen Verstrickungen Alfred Bauers bekannt machen sollte.

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