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Ein Teil des Problems. Oder, anders gesagt: schlichtweg alles unterstützt die Aufrechterhaltung unerträglicher Strukturen. Aber diese Feststellung ist zugleich ein Aufruf, sich den Widersprüchen und der Komplizenschaft zu stellen, die jeden betreffen, die allerdings nicht über die sozialen Unterschiede hinweg nach denselben Maßstäben beurteilt werden dürfen. Natürlich ist es sinnvoll, das eigene Konsumverhalten oder Flugreisen zu hinterfragen, oder ob es richtig ist, auf Facebook Beiträge gegen Daten-Extraktivismus zu posten. Aber in erster Linie fordert der Satz die Einsicht, dass noch der subjektive Impuls, der sich gegen unerträgliche Strukturen auflehnt, von eben diesen Strukturen geformt wird. Dass das Subjekt ein Produkt der Verhältnisse ist, gegen die es ankämpft, ist auf der Ebene der politischen Subjektbildung eine ebenso altbekannte wie grundlegende Tatsache. Die Frage ist, wie und mit welchen Zielen man die eigene Subjektivität und ihre Bedingtheit unter Anklage stellen kann. Diese Abhängigkeit ebenso wie sich selbst als Teil des Problems zu erkennen, heißt auch zu verstehen, dass die Grenzen des Problems nicht nur außen verlaufen, sondern sich auch durch unser eigenes Bewusstsein ziehen – aber auf so radikal unterschiedliche Arten, dass die Rituale des Konsensliberalismus nicht vermitteln können. Die Genugtuung, auf der richtigen Seite zu stehen, ist ein trügerisches Gefühl. Stattdessen muss man die Trennlinie aufheben, indem man die Innerlichkeit und Isolation, die aus der Abhängigkeit entsteht, umkehrt. Die politisch engagierte Filmpraxis hat immer im Wesentlichen versucht, eine Projektionsfläche für die Externalisierung und Realisierung einer kollektiven Subjektivität anzubieten, und so der Vereinzelung etwas entgegenzusetzen und dem Kollektivsubjekt eine Sprache zu geben.

Zweifellos vertieft sich derzeit gerade das Gefühl oder die Erkenntnis der eigenen systemischen Verstrickung – dass wir ganz individuell Teil des Problems sind. Das liegt einerseits schlicht daran, dass die neoliberale Politik und ihre Verheißung der „Selbstverwirklichung“ die Leben zahlloser Menschen zerstört hat, insbesondere von jüngeren Generationen nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt. Die Instanz, die zwischen der Wirklichkeit und dem Aufstiegsversprechen der kapitalistischen Einbindung vermittelt – die Kultur – zerfällt. Mit ihr bröckeln auch Lack und Firnis des liberalen Kapitalismus im Ganzen, also auch der Restglauben an unvermeidlichen Fortschritt und ständige Reform. Der Widerspruch zwischen Subjekt und Welt, wie auch im individuellen Bewusstsein selbst, lässt sich nicht mehr „auflösen“, die Kluft kann nicht mehr überbrückt werden. Und auf der anderen Seite vertieft sich, vor einem erweiterten historischen Horizont und im Angesicht des Desasterkapitalismus – zumal im Westen – die Einsicht in die eigene Verstrickung ins System. Alles was die „Moderne“ (die westliche Moderne mit ihren Ideen von Freiheit und Fortschritt) über sich selbst zu wissen glaubte, steht in Frage. Das heißt nicht, dass der Westen in dieser Erkenntnis besonders avanciert wäre oder die Speerspitze bildete. Tatsächlich gilt eher das Gegenteil: Das westliche Subjekt hat sich der Einsicht ins Ausmaß der eigenen Verstrickung verschlossen, als es „die zweigeteilte Welt und verschiedene Menschenarten“ geschaffen (Frantz Fanon) und den Planeten an den Rand des Untergangs getrieben hat – während es für alle anderen klar zu erkennen war. Wie gesagt, gibt es erhebliche graduelle Unterschiede, wie die eigene Verantwortung eingeschätzt wird, die man als Teil des Problems trägt.

Von existenzieller Bedeutung sind beide Ebenen: Das neoliberale Ausgeliefertsein an ein prekäres Leben in einem isolierenden Konkurrenzkampf, aber ohne Hoffnung auf sozialen Aufstieg; und das plötzliche Gefühl, dass dem „modernen Subjekt“ (dem westlichen Menschen oder dem Subjekt, das nach westlichen Standards modernisiert wurde) und seinen Gewissheiten der Boden unter den Füßen weggezogen wird; das Gefühl, dass die Struktur und das System, auf denen das gesamte westlich-liberale Selbstverständnis beruht, und das Geschichtsmonopol des liberalen Westens erschüttert werden. Lange politische und erkenntnistheoretische Kämpfe haben dafür gesorgt, dass diese Strukturen bekannt sind. Aber die neuen Kanäle der Wissensverbreitung machen es heute schlichtweg schwieriger, koloniale und bürgerliche Formen der Kontrolle und Hegemonie aufrechtzuerhalten. Das hat durchaus unschöne Auswirkungen (wie sonst sollte man die „Emanzipation“ jener Empörten einordnen, die traditionell durch ihren Autoritätsglauben in Schach gehalten wurden und jetzt von der Leine gelassen sind?), aber auch positive Seiten. Es lässt sich nämlich nicht bestreiten, dass Erkenntnisse von den sogenannten „Rändern“ derzeit das Wissen der Moderne verändern und es nur durch Verdrängung und Rückzug in ein Leben der (kollektiven) Lüge verteidigt und aufrechterhalten werden kann. Darin hat Europa ja Erfahrung; sowohl die Geschichte des Kolonialismus als auch die des Faschismus belegen dies zur Genüge.

Der gegenwärtige „Backlash“, autoritäre Bestrebungen und die Wiederauferstehung faschistischer Strukturen sind die reaktionäre Antwort auf das zunehmende Bewusstsein, „Teil des Problems zu sein“. In seinem Postulat der Selbstbestimmung hat der Kapitalismus das Versprechen vom sozialen Aufstieg im Rahmen der liberalen „Chancengleichheit“ aufgegeben; verteidigt werden die Privilegien des westlichen Subjekts, die systembedingt auf den fest verwurzelten Strukturen von Ausbeutung und Unterschied basieren, ja von diesen erzeugt wurden. Um ganz Europa herum versammeln sich daher die Gespenster von Jahrhunderten – und doch handelt es sich nur um eine weitere imaginäre Verdrängung, weil diese Gespenster gerade nicht draußen, sondern schon seit langem in uns walten. Wo Entmachtung und Anspruchshaltung aufeinandertreffen und die Erkenntnis, „Teil des Problems“ zu sein, weggeschoben oder unterdrückt wird, bildet sich eine Gefühlsgemengelage, die zu einer gar nicht so neuen Normalität führt, in der struktureller Rassismus und systemische Gewalt offen zu Tage treten.

Für Forum Expanded bedeutet das, die Aufmerksamkeit auf die Formen, Bilder und Narrative zu lenken, die aus den existenziellen Praktiken und Verhältnissen entstehen. Es handelt sich dabei nicht immer um „gut erzählte“ Geschichten im Rahmen genrespezifischer Regeln (oder nach den Algorithmen, die zunehmend das Bedienen von „Sehgewohnheiten“ automatisieren). Wenn sich die Arbeiten, die aus solchen Praktiken entstehen, denn überhaupt an eine*n Betrachter*in wenden, tun sie das in erster Linie, um ein Gefühl der Verstrickung auszulösen: dass es nämlich keinen unschuldigen, objektiven oder neutralen Blickwinkel gibt, keinen sicheren Abstand, und dass die Trennlinie nicht nur irgendwo da draußen verläuft, sondern jeden einzelnen von uns durchdringt. Und dass auch in diesem Getrenntsein keine Gemeinsamkeit zu finden ist. Und dass gemeinsame Verständigung seinen Preis hat.

Existenzielle experimentelle Filmpraktiken sind per definitionem Praktiken der politischen Subjektivierung; Eher Manifestationen der und Interventionen in die Spiegelungsfähigkeit des Subjekts und seines Bewusstseins, als Reflexionen über diese. Mit „neuen Formen“ (wie immer diese auch aussehen mögen) zu arbeiten, ist heute vielleicht nicht mehr das vorrangige Kriterium experimenteller Filmpraxis; man könnte den Begriff auf Filmemacher*innen und Künstler*innen anwenden, die zeigen, dass Gemeinschaft etwas kostet, und die sich weigern, sie zu einem Schleuderpreis zur Verfügung zu stellen. Das Motto „Part of the Problem“ bedeutet auf kuratorischer und institutioneller Ebene auch, dass schon das Konzept der öffentlichen Sphäre und auch die Teilnahme an ihren Foren, die Tatsache, dort zu repräsentieren, sichtbar zu sein und eine Stimme zu haben, systemisch in die strukturelle Gewalt verwickelt ist, über die so viele der Kunstwerke und Filme sprechen. Kulturinstitutionen haben die Funktion, das Bild einer funktionierenden öffentlichen Sphäre aufrechtzuerhalten, der Preis für diese Kulturalisierung ist inzwischen jedoch inakzeptabel.

Dies ist kein Urteil über den State of the Art oder ein Kokettieren mit institutionellem Bewusstsein; nur die Hoffnung darauf, gemeinsam das Gefühl der Verbindlichkeit, zu dem jedes Werk beiträgt, zu erleben. „Part of the Problem“ bedeutet weder, dass wir als Festivalmacher*innen denken, wir könnten endgültige Urteile über Kunstwerke fällen – ob sie eher „Teil des Problems“ sind oder zu einer Lösung beitragen. Noch ist damit gemeint, dass wir durch die vorauseilende, kritische Betrachtung des Festivals als Instanz und unserer eigenen Funktion nun lässig alles im Griff und dadurch einen Vorsprung haben. Wir haben erkannt, und darum geht es, dass man nicht entspannt über den Dingen stehen kann und dass Zeitgenossenschaft bedeutet, die Komfortzone der kritischen Distanz zu zerstören; als wäre es damit getan, „kritische Themen“ aufzuwerfen und Stimmen hörbar oder sichtbar zu machen. Was wir uns für das diesjährige Festival wünschen, wenn sich Filmemacher*innen und Publikum wieder auf das Ritual einlassen, neue filmische Bilder zu betrachten und darüber zu debattieren, könnte man so formulieren: Wir hoffen, den Blick für das, was uns verbindet und was uns bei der Entdeckung unserer Gemeinsamkeiten im Weg steht, zu schärfen. Zu erkennen, dass die heutigen Grenzen in uns als Betrachter*in verlaufen, aber auf existenziell unterschiedliche Arten. Und dass wir die Kraft, gegen unerträgliche Strukturen anzukämpfen und die Grenzen zu untergraben, bestimmt nicht aus den Strukturen schöpfen werden.

Anselm Franke ist Kurator, Autor und Leiter des Bereichs Bildende Künste und Film am Haus der Kulturen der Welt. Er ist Mitbegründer und Teil des Kurator*innenteams von Forum Expanded.

Das 15. Forum Expanded findet unter dem Motto „Part of the Problem“ statt.

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