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67 Min. Englisch.

Dreizehn statische Einstellungen von Kohlekraftwerken in den USA. Einige sieht man aus der Ferne, andere dominieren das Bild, die Anlagen stehen auf dem Land, in der Stadt oder irgendwo dazwischen, auf Feldern, inmitten von Strommasten, am Ufer von Seen und Flüssen, an Highways und Schienentrassen. Man sieht sie zu allen Jahreszeiten, eingeschlossen vom Frost, umgeben von kahlem Geäst und grünem Laub, bei wechselnden Lichtverhältnissen und wechselnder Bewölkung. Manchmal sind auch Menschen zu sehen, winzig im Verhältnis treiben sie Sport, gehen spazieren, kommen zur Ruhe, und manchmal ist alles leer. Modern wirkt keine der Anlagen, und kaum etwas verweist auf den Zeitpunkt der Aufnahmen, die 16-mm-Bilder könnten heute, vor zehn Jahren oder irgendwann im letzten Jahrhundert aufgenommen worden sein – die Ansicht wäre dieselbe. Zeit ist überhaupt das richtige Stichwort, denn alle Ansichten stehen minutenlang, lang genug, um die Unterschiede zwischen den Einstellungen zu bemerken, den veränderten Lichteinfall, die Tatsache, dass auch Rauch einen Schatten wirft – und lang genug, um zur Kenntnis zu nehmen, dass mindestens ein Schornstein immer Qualm ausstößt, dass es nie aufhört. (jl)

Lynne Siefert wurde 1985 in Seattle (USA) geboren. 2007 machte sie eine Ausbildung am Photographic Center Northwest in Seattle und schloss anschließend ein Bachelor-Studium im Fach International Studies an der University of San Francisco ab. Es folgte ein Masterstudium am Department of Visual and Media Arts des Emerson College in Boston, bei dem Siefert sich auf die Bereiche experimentelles und dokumentarisches Filmemachen konzentrierte. Siefert arbeitete außerdem als Lehrbeauftragte am Emerson College. Generations ist ihr erster abendfüllender Film.

Relikte des Industriezeitalters

GENERATIONS setzt sich aus Filmaufnahmen von Kohlekraftwerken und ihrer direkten Umgebung zusammen, die in den Jahren 2017 bis 2019 auf einer Reise quer durch die Vereinigten Staaten entstanden sind. Der Film besteht aus zwölf jeweils in einer einzigen Einstellung aufgenommen Tableaus, die das Alltagsleben von Menschen im Schatten riesiger Kraftwerke zeigen.
Inspiriert von George Inness’ Gemälde „The Lackawanna Valley“ aus dem Jahre 1856, das eine Szene zu Beginn der (durch die Erfindung der kohlebetriebenen Dampflok ausgelösten) Industriellen Revolution in Amerika zeigt, markieren die Kohlekraftwerke in GENERATIONS Relikte des ausklingenden Industriezeitalters und Kennzeichen des Anthropozäns. In der Synthese aus beobachteten und arrangierten Szenen, mit einer präzisen Länge von jeweils fünf Minuten und einer Gesamtdauer von einer Stunde, spielen der Aufbau und die mediale Form von GENERATIONS auf die von Uhrwerken getaktete industrielle Zeit an, wohingegen sich manche Momente, in denen Menschen auftreten, in ‚Echtzeit‘ vollziehen. Landschaften, in denen kultivierte Flächen auf natürliche Wasserläufe und Böden treffen, rufen die geologische Zeitskala und die weit in die Zukunft reichenden Folgen der Kohlegewinnung und Stromerzeugung in Erinnerung.
In den letzten beiden Jahren seiner Amtszeit hatte US-Präsident Barack Obama die Schließung von 135 Kohlekraftwerken angekündigt: segensreiche Aussichten für die Gesundheit der Umwelt und der Bevölkerung, die allerdings einen Verlust von Arbeitsplätzen in diesem Sektor zur Folge hätten. Die Recherchen für GENERATIONS fanden zeitgleich zum Wahlkampf von Donald Trump statt, der für den Fall seines Sieges eine Wiederbelebung der Kohleindustrie und einen Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen versprach. Die Filmaufnahmen begannen, als die Trump-Regierung mit dem umfassenden Abbau von Umweltschutzbestimmungen anfing.
Heute ist die Zukunft dieser Anlagen weiter ungewiss. Werden diese Kraftwerke zu Relikten der Vergangenheit, oder leisten sie als aktive Baudenkmäler ihren Beitrag zu einer nicht aufzuhaltenden globalen Katastrophe? (Lynne Siefert)

Gespräch mit Lynne Siefert: „Wir nehmen Industrie selten als Phänomen in unserem Alltag wahr“:

GENERATIONS ist Ihr erster Langfilm. Wie kam es zu diesem Projekt?

Für die ursprüngliche Idee lassen sich zwei auslösende Momente nennen: erstens eine persönliche Erfahrung und zweitens ein Gemälde, das gewissermaßen die Initialzündung gab und sich im Verlauf der weiteren Arbeit zu einer wichtigen Referenz für formale Entscheidungen entwickeln sollte.
Als ich 2016 nach Drehorten für einen anderen Film suchte, entschloss ich mich, einer kleinen Stadt einen Besuch abzustatten, in der ein aktives Kohlekraftwerk stehen sollte. Ich rechnete damit, einige kleine Schornsteine umringt von Industriehallen anzutreffen. Stattdessen erblickte ich etwas, das mir regelrecht den Atem raubte: Zwei gigantische Kühltürme ragten in unmittelbarer Nähe eines malerischen Wohngebiets in die Höhe. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen. Eine ganze Gemeinde lebte dort im wahrsten Sinne des Wortes im Schatten eines toxischen Kraftwerks.
Verblüfft schaute ich einem Mann dabei zu, wie er in aller Ruhe den Schnee aus seiner Einfahrt schippte, ohne auch nur einmal einen Blick auf die monströse Dreckschleuder zu werfen, die zwei Meilen hinter ihm vor sich hin waberte. Ich fragte mich, wer dieser Mann wohl sein und welche Beziehung er zu dem Kraftwerk haben mochte. Plötzlich stellten sich mir zahllose Fragen, die zu weiteren Fragen führten – zu den übrigen Bewohner*innen der Stadt und anderer Gemeinden, die in einer ähnlichen Randlage existieren.
Was mich beeindruckte war, wie sich das Gewöhnliche mit dem Ungewöhnlichen verband und wie mein Verstand versuchte, diese beiden Konzepte in Einklang zu bringen.
Das Bild der Vereinigten Staaten wird zu einem wesentlichen Teil von Industrie bestimmt, und doch nehmen wir sie nur selten als Bestandteil unseres direkten Umfelds oder als Phänomen in unserem Alltag wahr. Viele von uns haben eine abstrakte und entfernte Vorstellung davon, wie unsere Energie erzeugt wird. Wenn wir damit in Berührung kommen, dann häufig nur aus einer gewissen Entfernung oder über skandalisierende Medienberichte. In diesem Moment erlebte ich jedoch das genaue Gegenteil: Was ich sah, war alltäglich und unspektakulär, aber zugleich überwältigend. Es war, als hätte jemand eine Gardine aufgezogen, hinter der sich etwas Unheimliches und Beunruhigendes verbarg.
Ich entwickelte die Idee, lange Einstellungen aus einer festen Perspektive aufzunehmen, um das wiederzugeben, was ich gesehen hatte. Bestimmte Gemälde kamen mir in den Sinn. Ich hielt Ausschau nach Landschaftsmalerei, Stadtansichten und Pastoralen und stieß dabei auf George Inness’ Gemälde „The Lackawanna Valley“ aus dem Jahre 1856, das eine wichtige Inspirationsquelle für meinen Film werden sollte.

Was haben Sie in Inness’ Gemälde gesehen? Und wie bringen Sie dies mit Ihren anschließenden Aufnahmen für GENERATIONS in Verbindung?

Das Bild von Inness enthält eine Szene aus den Anfängen der Industriellen Revolution in den USA. Darin schiebt sich eine kohlebetriebene Dampflok durch eine natürliche Umgebung mit ihren Hügeln und Bäumen, aber ebenso durch eine Kulturlandschaft, so ist im Hintergrund eine Stadt zu sehen, im Vordergrund ein Feld mit Baumstümpfen. Eine sitzende Gestalt ist in die Betrachtung der Szene versunken. Inness’ Darstellung von den Anfängen der Industrialisierung zeichnet sich durch eine kompositorische Ausgewogenheit und Heiterkeit aus, wenngleich er auch eine subtile, fast doppeldeutige Kritik anklingen lässt. Genau dieses Gefühl einer Zweideutigkeit und Nachdenklichkeit in Hinblick auf die Geburtsstunde der Industrie war es, was ich im tatsächlichen Leben verspürt hatte. Mit dem einzigen Unterschied, dass wir heute nicht am Beginn, sondern am Ende der Industriellen Revolution stehen. Oder zumindest am Ende des Kohlezeitalters, das damals, als ich mit dem Projekt begann, offensichtlich angebrochen war.
Inness’ Gemälde vermittelt ein Gefühl der Ungewissheit, mit dem sich für die Betrachtenden unendliche Möglichkeiten eröffnen, verschiedene Geschichten auf das Werk zu projizieren. Diese Erkenntnis half mir dabei, für mich klarzustellen, welche emotionale Stimmung ich mit meinen statischen Langeinstellungen vermitteln wollte. Mit der Zeit begann ich, meine Tableaus als etwas zu betrachten, das dem Gemälde von Inness sehr ähnlich und doch völlig anders war. Eine Art von Abgesang auf Inness’ Porträt über die Anfänge der Industrialisierung, nur dass inzwischen 250 Jahre vergangen sind, die von Innovation, ‚Fortschritt‘, Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung geprägt waren.
Es ging mir darum, verschiedene Aspekte der amerikanischen Identität an einem einzigen, unerwarteten Ort miteinander zu verbinden, sodass jede Szene an der Schnittstelle von miteinander konkurrierenden ästhetischen Vorstellungen, Ideologien, geschichtlichen Fakten und möglichen Zukunftsentwürfen mit einer Vielzahl von Geschichten und Assoziationen gefüllt sein würde.
Das Gemälde diente auf gewisse Weise auch bei anderen formalen Entscheidungen als Leitfaden, beispielsweise, welche Farbigkeit ich dem Film und anderen Gebäudeelementen, die ich in die Aufnahme einfügte, geben sollte.

Die zwölf Szenen in GENERATIONS wurden nicht nachbearbeitet. Jede Szene dauert fünf Minuten. Welche Überlegungen stecken hinter dieser Entscheidung?

Den Aspekt der Dauer habe ich anhand verschiedener, parallellaufender Zeitskalen betrachtet. Da sind zum einen die Menschen, die in ihrer individuellen ‚Echtzeit‘ leben – das bedeutet, es gibt unbearbeitete und wundervoll triviale Alltagsszenen, in denen man das sieht, was normalerweise aus einem Film herausgeschnitten oder selbst aus unseren Erinnerungen getilgt wird.
Außerdem habe ich mir Gedanken über die ‚industrielle’ oder die mechanische Zeit und darüber gemacht, dass 12 Sätze à 5 Minuten in einer Uhr eine Einheit bilden. Mir war es wichtig, direkt an der 5-Minuten-Marke den Schnitt zu setzen, ganz gleich, was in diesem Moment gerade vor der Linse passierte. Für mich steht ein solch harter Schnitt auch stellvertretend für das Industriezeitalter und die gleichgültige Haltung der Verantwortlichen gegenüber der Umwelt und den betroffenen Nachbargemeinden in der Vergangenheit.
Darüber hinaus sind in einigen Szenen natürliche Wasserläufe und unberührte Landschaften in Kombination mit Kulturlandschaften zu sehen. Obwohl sie keinen Einfluss auf die Dauer oder den Aufbau des Films hatten, hoffe ich doch, dass diese Elemente auch ein visueller Hinweis auf eine größere geologische Zeitskala und auf die Langzeitfolgen von Verbrennung und Förderung fossiler Energieträger sein können.
Mir geht es mit GENERATIONS darum, durch die Kombination dieser drei verschiedenen Zeitgefühle einen Raum zu schaffen, der uns über unsere Beziehungen zur Energie und zur Ökologie im Anthropozän nachdenken lässt.
 
Nach welchen Kriterien haben Sie die Kraftwerke ausgewählt?

In den Jahren 2017 bis 2019 besuchte ich quer durch die Vereinigten Staaten insgesamt 79 Kohlekraftwerke. Davon wählte ich 17 für meine Aufnahmen und szenischen Darstellungen aus. Beim Schnitt reduzierte ich auf 12 Anlagen für den Film und eine 13., die im Abspann zu sehen ist.
Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, in verschiedenen Regionen und zu unterschiedlichen Jahreszeiten zu filmen, denn ich wollte nicht nur visuelle Vielfalt schaffen, sondern auch ein Bild von der tiefgreifenden und weitreichenden Integration der Kohlekraft in den USA und der Abhängigkeit des Landes von dieser Energieform vermitteln.
Die Standorte habe ich auf Grundlage mehrerer Faktoren ausgewählt. Da jede Szene fünf Minuten lang ist, war es mir wichtig, visuell möglichst ansprechende Aufnahmen machen zu können. Dafür begab ich mich auf die Suche nach Orten, an denen sowohl der Vorder- wie der Hintergrund so weit wie möglich in derselben Fokalebene aufgenommen werden konnten, um die enge Verbindung zwischen den Menschen und den Kraftwerken möglichst eindrucksvoll darstellen zu können.

Basieren die Szenen, in denen Personen zu sehen sind, auf reiner Beobachtung?

In einigen Fällen war das so, wenn sich Situationen ganz von selbst vor der Kamera entwickelten. In anderen Fällen habe ich mit Bewohner*innen einzelner Gemeinden an Szenen gearbeitet und sie manchmal gebeten, selbst zu ‚Figuren in der Landschaft’ zu werden.
Für Szenen ohne Personenbeteiligung wählte ich einige Kraftwerke aufgrund ihrer Umweltbilanz in den Jahren ihres Bestehens aus. Beispielsweise machte ich Aufnahmen vom Scherer Power Plant in Juliette, Georgia, das über viele Jahre den Rekord bei den höchsten CO2-Emissionen in den USA hielt. Ich filmte das TVA Kingston Fossil Plant in Kingston, Tennessee, das den größten Kohleaschenausstoß in den USA verursacht hat; es gilt bis heute als einer der schlimmsten Industrieunfälle in der Geschichte der Vereinigten Staaten.
Als ich die Idee für dieses Projekt entwickelte, war Obama noch im Amt und hatte gerade neue Vorschriften der Umweltbehörde eingeführt. Zahlreiche Kohlekraftwerke sollten stillgelegt werden, weil ihr Betrieb angesichts dieser neuen Vorschriften nicht mehr kostendeckend aufrechterhalten werden konnte — die Industrie befand sich ganz offensichtlich im Niedergang. Wie schon gesagt, betrachtete ich das Projekt damals als eine Art Abgesang auf das ausklingende Zeitalter der Industrialisierung. Aus diesem Grund nahm ich auch Kraftwerke in meine Auswahl auf, deren Stilllegung bereits zu einem festen Termin geplant war, weil ich die letzten Atemzüge dieser Kraftwerke dokumentieren wollte.
Mit der Amtsübernahme von Trump kam jedoch alles ganz anders. Viele Stilllegungstermine wurden verschoben oder ganz gestrichen, nachdem die Trump-Regierung maßgebliche Vorschriften aus der Zeit von Obama rückgängig gemacht hatte. Mit dieser Veränderung in der politischen Landschaft ergaben sich für mein Projekt völlig neue Fragestellungen. Wir befinden uns erneut im Ungewissen, an einer kritischen Weggabelung – mit dem Unterschied, dass heute viel mehr auf dem Spiel steht als jemals zuvor. Diese Kraftwerke werden entweder zu Artefakten der Vergangenheit, oder sie bleiben das, was sie sind, und tragen aktiv zu den Systemen und Kräften bei, die uns an den Rand eines vollständigen ökologischen Kollapses katapultieren.

(Interview: David Dinnell)

Produktion Lynne Siefert, David Dinnell, Daniel Grushecky. Produktionsfirmen Mouse.Haus (Seattle, WA, USA), David Dinnell (Tacoma, WA, USA), Daniel Grushecky (Pittsburgh, PA, USA). Regie, Buch Lynne Siefert. Kamera Lynne Siefert. Montage Lynne Siefert. Sound Design Billy Wirasnik, Lynne Siefert. Ton Billy Wirasnik, Lynne Siefert. Ausführende*r Produzent*in Lynne Siefert. Mit Luis Castro, Susie Heath, Ryan Jordan, Kayla McCargo, Shane Geroge, Mason Russell, Nick Smith.

Filme

2014: After Light (9 Min.). 2016: Ark (32 Min.). 2017: The Open Window (7 Min.).

Foto: © Lynne Siefert

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