Direkt zum Seiteninhalt springen

77 Min. Italienisch, Portugiesisch.

Der Film verlässt in seinen 77 Minuten kein einziges Mal die kleine Mailänder Wohnung von Bianca Dolce Miele. Ein dunkler Safe Space, vom warmen Kerzenlicht nur punktuell erleuchtet, Gegenstände sind in ritueller Absicht angeordnet, eine schwarze Katze streift umher. Der Himmel hängt als Karte über dem Bett, die Außenwelt ist per Telefon zugeschaltet. „Ich bin immer hier, zu jeder Zeit“, verspricht sie ihren Kunden in einer tiefen, gutturalen Stimme. „Gib mir eine halbe Stunde Zeit, um mich sexy für dich anzuziehen.“ Die Auftritte Biancas in diesem Film sind selbstbestimmt und geben sich keinem normativen Blick preis. Die Freier und Freund*innen, die zu Besuch in die Wohnung kommen, machen sich ihren Reim auf sie und ihre Profession: Einer zitiert aus der Bibel, ein anderer singt eine Moritat, ein dritter richtet auf ihrem geschlechtlich mehrdeutig lesbaren Körper einen makellos weißen Tisch her, von dem er Dosenfleisch isst. „Die Zärtlichkeit erzählt immer von neuen Dingen“, könnte man das Zitat von Sandro Penna übersetzen, das diesem Film als Motto dient. Denn Biancas Einladung in ihre Welt gilt vor allem jenen, die ihre Geschichten nur hier erzählen können. (jk)

Luca Ferri wurde 1976 in Bergamo (Italien) geboren. Als Autodidakt widmet er sich seit 2011 dem Schreiben, Fotografieren und Filmemachen. Nach zahlreichen dokumentarischen Arbeiten folgte 2015 mit Abacuc sein Spielfilmdebüt. Seine Filme zeigt Ferri auf nationalen und internationalen Filmfestivals, in Museen und Kunstgalerien.

Eine vollständige kleine Welt

LA CASA DELL’AMORE ist der letzte Film einer Trilogie, deren drei Teile ausschließlich in Wohnungen oder Häusern gedreht wurden, in drei unterschiedlichen Formaten und drei verschiedenen Erzählmodi.
Als erster Teil der Trilogie entstand 2018 DULCINEA, ein rein fiktionales Werk, auf 16-mm-Farbfilm gedreht. Der Film ist von Mailand geprägt und erzählt von der Beziehung zwischen zwei einsamen Seelen und der stillen Übereinkunft, die sie miteinander getroffen haben.
Den zweiten Teil, PIERINO, habe ich komplett auf Video gedreht. Er hat einen sehr strengen Rahmen und handelt von einem älteren Herrn und seiner Leidenschaft für das Kino.
LA CASA DELL’AMORE beschließt die Trilogie. Er ist digital gedreht und erzählt von Bianca, einer transsexuellen Italienerin, die im Mailänder Arbeiterviertel Quarto Oggiaro lebt.
Die Fensterläden von Biancas Wohnung sind immer halb geschlossen, die Räume werden ausschließlich mit Kerzen beleuchtet, weil es keinen Strom gibt – es scheint stets Dämmerung zu herrschen. Biancas Leben spielt sich vor allem auf den zwanzig Quadratmetern ihres schlicht eingerichteten Wohnzimmers ab. Die Größe des Raums, in dem Bianca sich bewegt, ist entscheidend: Es ist ein Lebensumfeld mit zahlreichen Schichten, in dem die Zeit unterschiedliche Objekte abgelagert hat: Bücher, Ausstellungsplakate ihres Vaters, einem Bildhauer, und Erinnerungsstücke, die auf Biancas Persönlichkeit und ihren Lebensweg verweisen.
Ebenso bedeutsam ist der ständige Einsatz des Telefons: Es ist ein zentraler Gegenstand in Biancas Leben, nicht nur für die Arbeit – um Anzeigen zu schalten und mit Kunden zu sprechen – sondern auch, um die Entfernung zu ihrer Partnerin Natasha zu überwinden.
Der Film erzählt von einem Fixpunkt – Bianca in ihrer Wohnung – und davon, wie sich durch diesen scheinbaren Stillstand eine vollständige kleine Welt in dem Haus konzentriert, eine Welt aus Gewohnheiten, Begegnungen, Zyklen und unerwarteten Ereignissen. Und das alles, während Bianca darauf wartet, ihre Lebenspartnerin wiederzusehen.

Biancas unprätentiöse Schönheit
Es brauchte etwa ein Jahr, um Bianca kennenzulernen, bevor die Dreharbeiten begannen. Ich nahm über eine Onlinedating-Seite Kontakt zu ihr auf, weil ich nach Leuten suchte, die zu Hause arbeiten. Ich hatte damals verschiedene Ideen für das Ende der Trilogie, dachte aber nicht unbedingt an eine Figur, die mit Transsexualität oder Prostitution zu tun hatte. Mir war es wichtig, jemanden zu finden, dessen Zuhause der Mittelpunkt all seiner Aktivitäten ist.
Bianca gewährte mir Zugang zu ihrem Leben und zu all ihren Bekannten. Es war ein langsamer Prozess, in dem ich spürte, wie unser Vertrauen und unsere Wertschätzung füreinander wuchsen. Ich war von Anfang an sehr offen zu ihr gewesen und hatte ihr nicht versprochen, dass der Film auf jeden Fall realisiert werden würde. Ich wollte erst einmal sehen, ob die Voraussetzungen für den Film gegeben waren, und auch, ob Bianca bereit war, sich selbst infrage zu stellen.
Dank ihrer Spontaneität und Natürlichkeit legte sich mit der Zeit meine anfängliche Zögerlichkeit, ein so heikles Thema anzugehen. Sie öffnete sich meiner Arbeit, ohne je zu fragen, was ich vorhatte. Erst später, nachdem wir uns besser kennengelernt hatten und der Film in meinem Kopf Gestalt annahm, stellte ich sie der Truppe vor. Sie verstand sich sofort mit allen.
Die Arbeit entwickelte sich dann auf sehr natürliche Weise. Selbst bei den Teilen, die ein wenig konstruierter sind, hatten wir nie das Gefühl, etwas zu mystifizieren. Wir haben einfach den natürlichen Ablauf der Ereignisse eingefangen und die unprätentiöse Schönheit von Bianca aufgezeichnet, die uns so einfach in ihr Leben treten ließ.
Ich wollte einen ästhetisch ausgewogenen Film drehen, in dem jede Einstellung exakt komponiert ist. Wenige, kalkulierte Bewegungen sollen es dem Publikum erlauben, langsam in Biancas Leben einzutauchen; sie sollen eine fragmentierte erzählerische Kontinuität schaffen, die sich gewissermaßen in einem einzigen Fresko auflöst.
Es ist nicht nötig, Biancas Vergangenheit oder gar die psychologischen Hintergründe ihres Lebens und ihre Motivation zu analysieren. Der Film stellt die Protagonistin in ihrer häuslichen Umgebung dar, in all ihrer Zartheit und Einzigartigkeit, ohne Schuld oder Erlösung. (Luca Ferri)

Produktion Federico Minetti, Andrea Zanoli, Pietro De Tilla. Produktionsfirmen Effendemfilm (Rom, Italien), Lab 80 film (Bergamo, Italien). Regie, Buch Luca Ferri. Kamera Andrea Zanoli, Pietro De Tilla. Montage Chiara Tognoli. Ton Duccio Servi. Ausführende Produzent*innen Andrea Zanoli, Federico Minetti. Mit Bianca Dolce Miele (Bianca), Natasha De Casto (Natasha), Dario Bacis (Kunde), Domenico Monetti (Kunde), Walter Zombie (Walter), Umberto Baccolo (Kunde), Delfina Unno (Kundin), Assila Cherfi (Freund).

Weltvertrieb Taskovski Films.

Filme

2011: Magog (o epifania del barbagianni) (66 Min.). 2012: Kaputt / Katastrophe (14 Min.), Ecce ubu (60 Min.). 2013: Habitat [Piavoli] (61 Min.). 2014: Caro nonno / Dear Grandpa (18 Min.), Abacuc (83 Min.), Ridotto mattioni / Mattioni Reduced (10 Min.). 2015: Tottori (6 Min.), Cane caro / Dog, Dear (18 Min.), Una società di servizi / A Society of Services (30 Min.). 2016: Colombi (20 Min.). 2017: Ab ovo (24 Min.). 2018: Dulcinea (64 Min.), Pierino (70 Min.).

Foto: © Effendemfilm, Lab 80 film

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur