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Knack! machte mein Nacken bevor der raue Sand mir die Haut vom Rücken riss und ich an den Strand zurückgezogen wurde. Erschöpft aber entschlossen, mich nicht von dem pulsierenden Schmerz, der begonnen hatte auf mein Rückgrat einzuhämmern, unterkriegen zu lassen, kämpfte ich mich wieder hoch. Ich umschloss die letzten Fetzen Haut, die noch von meiner Hüfte hingen und klatschte sie zurück über das grell-rote Fleisch, aus dem ich inzwischen nur noch zu bestehen schien. Ich wickelte mein altes Lungi um meinen Körper, um alles zusammenzuhalten und wankte langsam zurück ins Wasser, um unter den anderen Männern zu sein. Das Land hinter mir wurde von einer frenetischen Rage entflammt, deren Glut die mondhelle Nacht durchzog. Prozessionen von Nadaswaram und Urumi durchschnitten und durchschlugen die kalten Seewinde und markierten die unablässigen Ankünfte und Abreisen an einem Tag, der mit den Ehrerbietungen für die auf die Erde herabgestiegenen Götter verbracht worden war. Ich hatte bereits den letzten Zeh meines rechten Fußes als Geschenk dargeboten, den ich extra für diesen Anlass aufgespart hatte. Andere gaben ein Auge, ein Ohr oder sogar Gliedmaßen. Ein anderer Mann gab eine Zunge. Im Gegenzug hatten die himmlischen Wesen uns an diesem Tag verkörpert und uns für diese Nacht der Eroberungen unverwundbar und elektrisch gemacht. Seit wir kleine Jungen waren, hatten wir uns auf diesen Moment vorbereitet. Die Männer im Wasser neben mir begannen nun vor Vorfreude zu schreien. Ich spürte die Bewegung des Sandes unter meinen Füßen. Angestachelt von den Stimmen hinter uns wateten wir weiter in die Tiefe – die Schultern voran, um die herannahende Wasserwand zu durchbrechen. Aufgeschreckt durch ein erregtes Heulen hatte ich über meine Schulter geschaut und die Überreste eines Skeletts entdeckt, dem das Fleisch inzwischen vollständig von den Knochen gespült worden war und das sich für sein letztes Aufeinandertreffen mit den Wellen rüstete. Ich spürte den Sog der Strömung, die sich an meinen Knöcheln festklammerte, während ich dem vor mir lauernden Getöse lauschte. Die Männer neben mir waren verschwunden. Als ich allein dastand und zu dem Schatten hinaufschaute, der mich verschlang, hätte ich schwören können, dass mir unter Wasser der Schweiß die Beine hinab rann. Dunkelheit.

Das Wasser kräuselt sich liebevoll an meinen Zehen und küsst die Rückseite meiner Knöchel bevor es sich leise in den offenen Körper der See zurückzieht. Ich kann das Salz in der Luft riechen und lausche der schaumig-weißen Gischt in der Ferne. Ich öffne meine Augen und schaue zu meinen Füßen hinab, die vom weichen, feuchten Sand wie von Kissen umgeben sind. Kleine Krabben huschen in dem kurzen Intervall bis das Wasser zurückkehrt im Sand umher. Zwei andere Frauen haben sich von der Menge gelöst und sind zu mir auf den feuchten Sand gekommen. Ich erkenne den Duft des Jasmins, den sie vorsichtig in die Enden ihrer Haare geflochten haben. Früher am Tag, als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten, um den Tempel zu besuchen, hatte ich eine Hand gespürt, die sich auf meine Schulter legte. Es war eine gebrechliche aber einfühlsame Hand und sie gehörte der ältesten Person, die ich jemals gesehen hatte. Die Sonne prallte von ihrem gleißend weißen Haar ab und blendete mich. Im Vergleich zu ihrer wunderschönen, dunklen, ledrigen Haut erschienen ihre Augen wässrig und gelb. Ihr leuchtend roter Sari verbarg fast das Zinnoberrot, das von ihrer verschmierten Stirn abgefärbt hatte. Als ich versuchte, weiterzugehen, legte sie mir die Hand auf die Brust und bedeutete mir, einen Moment zu warten. Mit ihrer anderen Hand bot sie mir einen Jasmin-Zopf dar, den sie in die Brusttasche meines Hemds gleiten ließ. Dann legte sie ihre Handfläche wieder auf meine Brust. „Wir haben lange auf deine Ankunft gewartet. Nun sei so gut und nimm diese Maske ab.“ Am Rande der belebten Gasse fiel neben einem Betel-Shop ein Körper um und löste Unruhe aus. Als ich mich wieder umdrehte waren die alte Dame und ihre einfühlsame Hand verschwunden.

Ich verliere mich in meiner Neugier und eh ich bemerke, dass es passiert, türmt sich das Wasser vor mir auf und ich überschlage mich in seiner Umarmung.

Die Frauen neben mir scheinen, wie ich, mittleren Alters zu sein. Nur jedes Mal, wenn das Wasser ihre Füße erreicht brechen sie in ein Lachen aus, das dem Kichern von Mädchen gleicht, die auf der Rückbank des Schulbusses ein Geheimnis teilen. Es gleicht den matten und doch entzückten Schreien die jede Welle mit sich zu uns trägt. In der Ferne brechen wunderschöne Körper aus der Dunkelheit des Wassers. Frauen, Kinder, Alte. Mit jedem Schritt vorwärts in das letzte Dunkel berühren sich ihre Fingerspitzen in nervöser Erregung während eine Welle an ihnen vorbeifließt. Es ist die See, die spielerisch kitzelt. Seht ihr, wir alle haben unsere Saris hochgeschoben, so dass wir die Strömungen bis hoch zu unseren Schenkeln spüren. Ich verliere mich in meiner Neugier und eh ich bemerke, dass es passiert, türmt sich das Wasser vor mir auf und ich überschlage mich in seiner Umarmung. Ich strecke mich nach oben, schnappe nach Luft und huste das Wasser aus, das meine Lungen gefüllt hat. Ich fasse mir an den Hinterkopf und merke, dass der Jasmin von der Strömung gestohlen wurde und die Perücke sich gelöst hat. Meine Frau hatte mir die Blumen vorsichtig ins Haar geflochten, nachdem sie mir geholfen hatte, den Sari zu knüpfen und die Bluse zu richten. Sie hatte mein Hemd und meine Hose gefaltet und in einen Plastikbeutel gesteckt, um sie vor dem Sand zu schützen. Ich drehe mich um und unsere Blicke treffen sich. Sie sitzt am Strand, den alten Plastikbeutel auf dem Schoß. Ihr Lächeln wird vom ersten Silber des Tagesanbruchs erleuchtet. In der Nähe höre ich das Platschen von Schritten im seichten Wasser. Ich schaue auf und finde die älteste Frau, die ich jemals gesehen habe. Sie lacht und hat ihren Kopf in den Nacken geworfen. Ihr roter Sari zieht eine Spur von Zinnoberrot hinter sich her als sie auf das Ufer zuläuft. Auf dem Rücken im Wasser treibend betrachte ich den durchscheinenden Himmel mit seinen verblassenden Sternen und warte auf die nächste Welle, die mich umschlingen und weiter forttragen wird.

Sohrab Hura

Erstveröffentlichung in: ArtReview Asia, November 2020, https://artreview.com/the-coast-sohrab-hura/ (letzter Abruf am 25. Mai 2021).

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