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Ein Film über Fotografien. Filme, die fotografische Objekte betrachten, aufnehmen, sie inszenieren, mit ihnen handeln, begeben sich in eine mediale Konstellation, die auch die Theorie immer wieder interessiert hat, weil der Film mit der Fotografie einen Teil von sich ins Bild setzt. Solange analoge fotografische Einzelkader zu den notwendigen Konstitutionsbedingungen filmischer Bewegtbilder gehörten, auch ganz pragmatisch, im Hinblick auf die Projektionssituation, zirkulierten Denkfiguren wie diese: Von filmisch dargestellten Fotografien strömt, hieß es da, ein ästhetisches Kraftfeld aus, das von Arretierung und Alterität, von härteren Schnitten durch die Zeit, vom unwiederholbaren Vergangensein erzählt und den Film, diese Maschine der Vergegenwärtigung und Verlebendigung, damit momenthaft infiziert, wenn nicht irritiert.

Viele der daran anschließenden Überlegungen sind aus heutiger Sicht vielleicht tatsächlich nur noch von ideengeschichtlichem oder auch medienarchäologischem Interesse. Ein kursorischer Blick auf die plattformisierte visuelle Kultur der Gegenwart genügt jedenfalls, um festzustellen: Wo lange Zeit verbindliche Grenzen, eindeutige Schnittstellen zwischen distinkten Bildmedien angenommen wurden, sind in digitalen Medienkulturen vor allem fließende Übergänge zwischen unterschiedlich aggregierten Daten und algorithmisch variierenden Softwareperformanzen zu beobachten (wenn sie überhaupt beobachtbar sind). Ob still oder (minimal) bewegt, es sind baugleiche Sensoren und Speicher, denen fotografische wie filmische Bilddaten ihre digitale Existenz und Handlungsmacht verdanken. Wo die Fotografie endet, wo Film beginnt, ist dann oftmals nur noch situativ, operativ, kasuistisch zu entscheiden. Wenn man denn meint, derartige Unterscheidungen seien weiterhin produktiv.

Fotografien als Akte des Widerstands

Christophe Cognets À PAS AVEUGLES (FROM WHERE THEY STOOD) ist ein Film über historische Fotografien. Betont wird der Standort, von dem aus sie betrachtet werden: die Gegenwart. Um die Fotografien ins filmästhetische Bild, das hier meist ein digitaltechnisch generiertes ist, zu setzen, geht Cognet zunächst ins Archiv. Dort wird mit ausgewählten Fotografien, genauer: ihrer Materialität gehandelt. Weiße Handschuhe öffnen Kartons und Schachteln, vorsichtig werden die fotografischen Artefakte in den Bildkader bewegt. Medienhistoriographie bedeutet hier, den Abstand, der uns von diesen Fotografien trennt, als einen bildträgermateriellen erfahrbar zu machen. Es geht also auch um die Inszenierung einer Differenz, mehr noch: eines Widerstands, der sich der instantanen Teilbarkeit, dem omnipräsenten Sharen und Liken entgegenstellt. Ist das nicht schon eine kulturpessimistische Melodie? Nicht unbedingt, aber weil sich die Geste im Lauf des Films in unterschiedlichen Varianten wiederholt, fällt sie doch als demonstrative auf: Dieses analoge Material ist kostbar, mit Bedacht zu konsultieren und kein „Content“.

Gleichwohl sind die Fotografien, die diesen Film interessieren, im emphatischen Sinn das, was digitale Bilder überwiegend sind: Kommunikate. Bereits den bildgebenden Akten ist dies unmittelbar eingeschrieben. Sie sollten übertragen, ihre Signale als Zeugnisse empfangen und gelesen werden. À PAS AVEUGLES dokumentiert eine fotografiehistoriographische Recherche, die zu einem lesenswerten Buch geführt hat, das 2019 in Frankreich erschienen ist: Éclats – Prises de vue clandestines des camps nazis. Darin beschäftigt sich Cognet mit fotografischen Aufnahmen der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Genauer gesagt: in erster Linie mit jenen 80 überlieferten Fotografien, die keine Täterbilder sind, sondern vor der Befreiung durch die Alliierten von Lagerinsass*innen aufgenommen werden konnten. Es sind lebensgefährliche, heroische, bewundernswerte Bildakte, die diesen Fotografien zugrunde liegen. Mit ihnen, durch sie, in ihrem Medium wurde Widerstand geleistet. Sie heute angemessen zu betrachten, kann folglich nur unter grundlegender Einbeziehung eben dieser Entstehungsbedingungen gelingen. Zahlreiche Foto- und Kunsthistoriker*innen haben sich mit diesen Fotografien, die von Täterbildbeständen kategorial, so der Konsens, zu unterscheiden sind, befasst – vor allem in Frankreich, man denke nur an den von Clément Chéroux herausgegeben Band Memoire des camps (2001) oder Georges Didi-Hubermans 2007 ins Deutsche übersetzte Studie Bilder trotz allem, die unter anderem zu einer recht scharfen Auseinandersetzung mit dem vorgeblich unheilbar „ikonoklastischen“ Archivbildskeptiker Claude Lanzmann (SHOAH) geführt hat.

Die Freilegung der jeweiligen Bildaktgeschichten soll neue, genauere, vielleicht auch angemessenere Wahrnehmungs- und Rezeptionsformen befördern.

Christophe Cognet kommt auf das ausführlichst analysierte Bildmaterial dieser Debatte, auf die vier berühmten Aufnahmen von Alberto Errera, einem griechisch-jüdischen Mitglied des „Sonderkommandos“ in Auschwitz-Birkenau, denn auch ohne polemische Energie zurück. Er ist aber in Éclatsund À PAS AVEUGLES vor allem daran interessiert, diese wie auch die anderen 76 Fotografien vor überschießenden metatheoretischen Inanspruchnahmen, vor theorieemphatischen Gesten fernzuhalten. Die Freilegung der jeweiligen Bildaktgeschichten soll neue, genauere, vielleicht auch angemessenere Wahrnehmungs- und Rezeptionsformen befördern. Was Cognet beschäftigt, ist weniger eine Rekonstruktion oder Aktualisierung der Lagerfotografie-Diskursgeschichte, als eine minutiöse, meist sorgfältig historisch kontextualisierte Betrachtung vergleichsweise unbekannter Objekte dieses schmalen Korpus.

So zeigt eine Serie aus elf kleinformatigen Fotografien eher untermarkierte, möglicherweise vor allem an topographischen Gegebenheiten interessierte Alltagsszenen, die Georges Angéli im Juni 1944 im KZ Buchenwald herstellen konnte, weil er in der vordringlich erkennungsdienstlich eingesetzten Fotoabteilung des Lagers arbeiten musste: Häftlinge in Zivilkleidung, die vor einer Pferdestallbaracke sitzen, sich vor der „Kinobaracke" waschen oder die Lagerstraßen entlanglaufen. Mal dominiert der „Goethe-Baum" die Bildmitte, dann ist im Hintergrund die „Bordellbaracke" zu sehen. Eine andere klandestine Fotoserie, die ein Mitglied des polnischen Widerstands, Joanna Szydlowska, aufgenommen hat, dokumentiert die horrenden Verletzungen der „Króliki" („Kaninchen", so die Selbstbezeichnung) im KZ Ravensbrück – Frauen, die von NS-Ärzten für pseudowissenschaftliche Experimente missbraucht, etwa mit Tetanus-Bazillen infiziert wurden. Auf einer der Fotografien Szydlowskas zeigt eines der Opfer, Maria Kusmierczuk, ihr vivisektiertes Bein – hinter einer Baracke stehend, sich in konspirativer Solidarität der Aufnahmeapparatur zuwendend, die Versehrung dem technischen Blick, seinem dokumentarischen Zeugnispotenzial, dem Urteil einer post-nazistischen Zukunft anvertrauend.

Erinnerungskulturelle Schieflage?

À PAS AVEUGLES begibt sich in die Fotoarchive der Gedenkstätten, spricht mit wohlinformierten Expert*innen, lässt sich Entstehungs- und Überlieferungsgeschichten detailliert erläutern, würdigt die analoge Materialität der Exponate, der realräumlichen Archivumgebung. Aus der nicht nur in der fotohistorischen Forschung weithin akzeptierten Einsicht, dass, um diese Bilder intelligibel zu machen, nicht einfach isolierte Bild-Endprodukte deutend auszulesen, sondern vor allem Bildakte, die historischen Momente und Umstände fotografischer Akquise zu rekonstruieren sind, leitet Cognet filmisch inszenierte Reenactments eben dieser bildgebenden Akte in der Gegenwart ab. Und so bewegt er sich mit Abzügen historischer Fotografien, die auf Glasplatten gedruckt wurden, auf den entsprechenden Gedenkstättenarealen und sucht nach dem genauen Ort der Aufnahme, dem Standort der Fotograf*innen.

Dass die Gegenwart der museal konsolidierten, teilweise zu Touristenattraktionen gewordenen Gedenkstätten in einigen Szenen durch die vor die Kamera gehaltenen Glasplatten durchscheint, wir die Gegenwart also ganz figurativ gefiltert, auf einer fotogeschichtlichen Folie sehen oder umgekehrt, so dass sich die Gegenwartsperspektive in das Geschichtsbild einträgt, kann, derart serialisiert und in Szene gesetzt, zudem seinerseits als metatheoretische Geste verstanden werden. Zu dieser Gegenwart gehört, Stichwort „ubiquitous photography“, auch das bekannte Phänomen, dass einige Gedenkstätten längst „durchfotografiert“ sind und Gedenkstättenbilder, darunter natürlich auch das unvermeidliche Selfie vor dem sinistren „Arbeit macht frei“-Schriftzug, als populärer Plattform-Content zirkulieren, wie man Sergei Losnitzas AUSTERLITZ (2016) entnehmen kann, der sich für diese fotografische Praxis interessiert. Ob die Bildakte der Gegenwart eine mnemokulturelle Schieflage anzeigen, unangemessen, grundsätzlich ablehnenswert sind, wäre dann natürlich nochmal eine ganz andere Frage – aber auch eine, die die Medialität und Historizität von Bildakten und ihren Standorten betrifft.

 

Simon Rothöhler lehrt Medienwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und gibt die Zeitschrift cargo Film | Medien | Kultur mit heraus.

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