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Der schwarze Kader zeigt zentral das farbblasse, leicht streifige Bild eines anderen Films. Darin ein Mann, der mit dem Rücken zur Kamera auf einem Stuhl sitzt und auf ein kleines, Gitterfenster schaut. „Schöne Aussicht ist das hier", sagt er. „Das ist nicht die aus deinem Haftraum", kommentiert eine Stimme aus dem Off. „Nein. (...) Da gucke ich auf einen Zaun, Mauer, Schornsteine". Gegenschnitt auf zwei ernst schauende junge Frauen, ebenfalls im Dunkel. Jetzt füllt das Filmbild mit dem Mann die ganze Kadrage, auf der Lehne des Stuhls spiegeln sich die Oberkörper der beiden Frauen. Bildschnitt, während der Dialog fortläuft: Das Gitterfenster steht nun als Papp-Kulisse im Raum, davor statt dem Mann eine kleinkindgroße glatzköpfige Handpuppe auf einem Hocker. Eine der beiden jungen Frauen spielt kurz mit der Puppe und lässt sie dann rücklings auf den Hocker fallen. Mehrere Close-ups zeigen, wie eine andere Frau ein Maßband an verschiedene Stellen der Puppe anlegt. Sparsame Musik setzt ein. Und als sich der Kamerablick erst auf halbnah und dann in eine Totale zurückzieht, sehen wir den Kameramann im Bild und dann das Studioset mit einer fest aufgebauten Kamera und dem Tonmann mit Angel und Mikrofon. Schnitt. Eine Kamera schwenkt langsam durch einen kahlen Büroraum mit einem großen Kreis von Stühlen. Eine Stimme sagt aus dem Off: „Das erste Mal sehen wir Stefan S. in einem Stuhlkreis.“ In einem großen Spiegel am Ende des Raums sind beide Filmemacher beim Dreh zu sehen.

Dies ist der Beginn der Exposition von ANMASSUNG (ANAMNESIS), der das Setting und fast das komplette Personal des Films vorstellt: den wegen Stalking und dem Mord an einer jungen Frau einsitzenden Stefan S., die Filmemacher Stefan Kolbe und Chris Wright und die Puppenspielerinnen Josephine Hock und Nadia Ihjeij. Von der Regie wurden sie mit Bild und Tonmaterial zu S. versorgt, um im Film einige seiner Aussagen zu seinem Leben und imaginierte Szenen aus seiner Kindheit nachzuspielen und zu kommentieren. Eine der beiden von den Filmemachern selbst gesprochenen Off-Stimmen erzählt, dass Stefan S. mit anderen Sexual- und Gewaltstraftätern in der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Brandenburg einsitzt und im Stuhlkreis dort neben anderen Therapieangeboten an einer Gesprächsgruppe zu Männern und Identität teilnimmt. Und wir erfahren, dass er sich nur „sehr ungern" auf diesen Film eingelassen hat und nicht möchte, dass man sein Gesicht erkennt. Als Puppe zu erscheinen, könne er sich aber vorstellen.

So macht ANMASSUNG von Beginn an deutlich, dass der indirekte, gebrochene, durch andere Personen und technische Mittel hergestellte Zugang zu seinem Protagonisten aus Hindernissen geboren ist. Doch die Vielfalt der eingesetzten Mittel selbst und die Komplexität der kunstvoll geschichteten und verschränkten Narration machen schnell deutlich, dass hier mehr im Spiel ist: unübersehbar vor allem ein Forschungs- und Erzählinteresse, das sich ebenso für die kommunikative Situation interessiert wie für die Figur des Protagonisten und seine Verbrechen. Dabei werden neben den Akteur*innen auf der Leinwand auch die Zuschauer*innen in den Reflektionsprozess eingeschlossen. „Dies ist kein Film über Stefan S.", heißt es programmatisch am Ende der Exposition, „dies ist ein Film darüber, wie wir uns ein Bild von ihm machen."

 

Selbstreflexiver Gestus

Dieser selbstreflexive Gestus ist keineswegs neu. Vom Experimentalfilm und der Videokunst kommend sind „post-naive“ Filme spätestens mit dem neuen Jahrtausend auch in den Dokumentarfilm eingemeindet worden und haben dort das Subgenre des Essayfilms produktiv und einfallsreich um viele Varietäten bereichert. Ihre Produzent*innen distanzieren sich vehement vom ästhetischen Programm emphatischer Identifikation, das den dokumentarischen Mainstream bestimmt: Statt Emotionalisierung durch bewegende Einzelschicksale setzt ihr Konzept auf Erkenntnis struktureller Zusammenhänge durch Brechungen und Verzerrungen, Distanz und formale Transparenz. Im Juni 2011 hatte Birgit Kohler im Berliner Arsenal mit dem Programm Performing Documentary bereits neun entsprechende Arbeiten der letzten Dekade aus Deutschland und Österreich vorgestellt. Auch dort waren einige dabei, deren Protagonist*innen aus juristischen, persönlichen oder moralischen Gründen nicht gezeigt werden konnten oder wollten. Auch dort waren diese Gründe nur der Ausgangspunkt für ein lustvolles Spiel mit Dokumentarfilm-Konventionen.

Thomas Fürhapter etwa lässt in MICHAEL BERGER. EINE HYSTERIE (2010) die Biografie eines Finanzbetrügers in der dritten Person aus dem Off erzählen. Dabei ist der zur Drehzeit in U-Haft sitzende Michael Berger selbst nie zu sehen, während im Bild Orte gezeigt werden, die in seinem Leben Bedeutung hatten. Ähnlich arbeiten Kolbe und Wright in ANMASSUNG mit Totalen, die die Heimatstadt ihres Protagonisten, die Umgebung der Haftanstalt oder den Ort des Verbrechens zeigen.

Die österreichische Regisseurin Tina Leisch begleitet in GANGSTER GIRLS (2008) ihre in einer Frauenhaftanstalt einsitzenden Protagonistinnen bei den Vorbereitungen zu einer Aufführung mit Szenen aus ihrem Leben vor und während der Haft – dabei sind sie kunstvoll bis zur Unkenntlichkeit geschminkt. Einen theatralen Aspekt hat auch Calle Overwegs Film DAS PROBLEM IST MEINE FRAU (2003), in dem therapeutische Gespräche mit Tätern häuslicher Gewalt von Schauspielern dargestellt werden. Die Scripts dazu hat Overweg aus ausführlichen Recherchen zum Thema kondensiert, die technische Installation des Sets ist ähnlich wie bei ANMASSUNG im Studio als Bühne arrangiert. War in GANGSTER GIRLS wie in ANMASSUNG der Wunsch nach Anonymität der Teilnehmenden ein Grund für die Entpersonalisierung, so ist bei Overweg das Anliegen, den Tätern keine Bühne zu bieten.

Die Problematisierung unmittelbarer persönlicher Präsenz auf der Leinwand ist kein neues Phänomen. Sie setzte schnell ein, nachdem die Entwicklung der schallgedämpften 16-mm-Kamera in den sechziger Jahren sprechende Menschen nachdrücklich auch in die non-fiktionalen Filme gebracht hatte. Wie Lenny Lipton in seinem Buch Independent Filmmaking (1972) berichtet, setzten etwa als Gegenreaktion schon damals viele Filmschaffende auch bewusst auf Verweigerung der gerade neu gewonnenen Ton-Bild-Synchronizität. Und manche formale Innovation war dem Druck polizeilicher oder politischer Verfolgung geschuldet. Ein legendäres Beispiel lieferten die US-Dokumentarist*innen Emile de Antonio, Mary Lampson und Haskell Wexler 1976 mit UNDERGROUND. Sie lassen die in der Illegalität lebenden Aktivist*innen der Weathermen bzw. Weather People als Zeitzeug*innen im Film auftreten, machen sie aber mit unterschiedlichen Mitteln unkenntlich. Zum Einsatz kommen verschleiernde Stoffe, Schattenbilder und eine Spiegelkonstruktion, die die Filmemacher*innen frontal zeigt, während ihre Protagonist*innen nur von hinten im Bild zu sehen sind: Konstruktionen, die wie auch die offen ausgehandelten Konflikte zwischen Protagonist*innen und Filmemacher*innen in manchen Einstellungen von ANMASSUNG widerscheinen.

Im Dokumentarfilm galt die Anonymisierung durch Verpixelung lange als ästhetisch unfein

Das bekannteste Mittel der Anonymisierung – in ANMASSUNG spielerisch als eines unter anderen genutzt – ist heute in journalistischen Reportagen omnipräsent: Die Technik der Verpixelung (gerne auch als digitales Feigenblatt zur Zensur sexueller Inhalte genutzt) dient bei uns meist der Anonymisierung gefährdeter Filmfiguren oder der Vermeidung justiziabler Verstöße gegen Persönlichkeitsrechte. Im Dokumentarfilm galt diese Technik lange als ästhetisch unfein, wurde als notwendiger Schutz aber ethisch nur selten in Frage gestellt. Mittlerweile werden auch ehemals eher verfemte digitale Techniken der Anonymisierung von Dokumentarfilmer*innen eingesetzt. So umgeht Nikolaus Geyrhalter in ABENDLAND (2011) die Bildrechte Betrunkener im Umfeld des Münchner Oktoberfests, indem er deren Gesichter mit Hilfe der Morphing-Technik so verfremdet, dass sie nicht mehr erkennbar sind, aber auch nicht als unnatürlich auffallen.

Offen eingesetzt – und sogar als melodramatischer Verstärker benutzt – wird eine andere Form des face swapping in der HBO-Dokumentation WELCOME TO CHECHNYA (2020). Der Film zeigt russische Aktivist*innen, die tschetschenische LGBTQ-Menschen bei der Flucht ins Ausland helfen. Dabei sind vor allem die Tschetschen*innen großer Gefahr durch staatliche Stellen und auch ihre eigenen Familien ausgesetzt, die die abtrünnigen Töchter und Söhne bis in ihre Exilländer verfolgen. Regisseur David France nutzt eine Spielart des umstrittenen Deepfake-Verfahrens, um in von Freiwilligen aus der queeren Szene der USA „gespendete“ Gesichts-Scans die Mimik der Betroffenen einzurechnen. Ausschlaggebend für den Einsatz dieser Technik war für die Produzenten aus den USA nach eigener Auskunft die Möglichkeit, trotz der Anonymisierung mit ausdrucksstarker Mimik der Held*innen die Zuschauer*innen emotional zu involvieren. Auch Geyrhalter betonte die aus seiner Sicht gelungene Kombination von Authentizität und Einhaltung der Persönlichkeitsrechte beim Einsatz von Morphing.

 

Befreiung vom Authentizitätsdruck

Es ist auch solcher Authentizitätsdruck, von dem sich „performative" Filmemacher*innen absetzen, indem sie die Konstruktion ihrer Filme offenlegen und der scheinbaren Natürlichkeit des dokumentarischen Verfahrens Brüche, Verschiebungen und andere Momente der Irritation einschreiben. Dass die so demonstrativ ausgestellte Hybridität keineswegs eine akademische Marotte, sondern von Bedeutung für das Selbstverständnis der ganzen Branche ist, zeigt der Fall des Films LOVEMOBILE, der im März dieses Jahres für mediale Aufmerksamkeit sorgte. Weil aus dem Produktionsumfeld gesteckt wurde, dass Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss in ihrem Film über Prostituierte in Niedersachsen mit Inszenierungen und Darsteller*innen gearbeitet hatte, ohne dieses auszuweisen, sah sie sich genötigt, den vom SWR vergebenen Deutschen Dokumentarfilmpreis zurückgegeben. Scheinheiligkeit von Seiten des Senders ist dabei nicht zu übersehen: Denn Lehrenkrauss' ist auch ein Opfer des zunehmenden Drucks aus den TV-Redaktionen, die gleichzeitig möglichst knappe Produktionsbudgets und möglichst eindringliche Geschichten einfordern: So etwas forciert falsche Authentizitäts-Markierungen. Zusätzlich wird in der medialen Außendarstellung der Sender gerne die Selbstverständlichkeit unterschlagen, dass Dokumentarist*innen eigentlich immer – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – das Geschehen am Drehort aktiv mitgestalten.

Wie stark auch manches Publikum kritisch sensibilisiert ist für die Arbeit am Set und das Auftreten „echter“ Figuren im Film zeigte sich, als Stefan Kolbe und Chris Wright mit ihrem in einem anhaltinischen Hochhauskomplex angesiedelten Film DAS BLOCK (2007) Festivals bereisten. Da wurde ihnen in Publikumsgesprächen vorgeworfen, sie hätten ihre vier Protagonisten ungebührlich vorgeführt und voyeuristisch ausgebeutet, weil die Intimität der dokumentarischen Annäherung auf viele als Provokation wirkte.

So ließe sich das Statement „Dies ist kein Film über Stefan S." und ANMASSUNG insgesamt auch lesen als Antwort auf die damaligen Anwürfe, als eine angemessen ernsthafte, differenzierte und transparente Auseinandersetzung mit den Beziehungen und Kräfteverhältnissen, die bei einem Dokumentarfilmprojekt im Raum sind. Bemerkenswert und auch im Rahmen performativer Filmprojekte ungewöhnlich ist dabei die Offenheit, mit der die Filmemacher auch ihre eigene Rolle ins Spiel bringen. Besonders, als mit der bevorstehenden Entlassung von Stefan S. eine ganz neue Dynamik entsteht und das mit den Jahren austarierte Beziehungsgefüge zu kippen beginnt. Es entstehen Unsicherheiten, die Kolbe und Wright samt aufkommender Zweifel und Ängste als produktive Faktoren in ihren Film einspeisen. So wird aus einem potentiellen Stoff für das populäre True-Crime-Genre ein aus Erfahrung gespeister Beitrag zu Fragen von Ethik und Verantwortung im Dokumentarfilm.

 

Silvia Hallensleben lebt in Bonn und Berlin und schreibt für verschiedene Medien vorwiegend zum nicht-fiktionalen Film.

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