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Auffällig ist, dass in Ihrer Abteilung die Gefangenen als Klienten angesprochen werden.

Genau, wir nennen sie Klienten hier. Damit klar ist, dass es eine therapeutische Abteilung ist, nicht nur Strafvollzug. Die Klienten sollen sich auch damit identifizieren können, nicht als Strafgefangene, sondern als Teil eines therapeutischen Prozesses.

Wie läuft die Therapie ab?

Es ist eine multimodale Therapie, das heißt, es gibt unterschiedliche Behandlungsmaßnahmen. Die Kernbehandlungsmaßnahme ist unsere Selbstmanagementgruppe. Sie findet zweimal die Woche statt, als Gruppenbehandlung mit bis zu acht Männern. Jedes Modul hat mehrere Themen, die sich auf die bekannten Risikofaktoren für gewalttätiges oder sexualgewalttätiges Verhalten beziehen. Eine Erwartung an die Männer ist, dass sie nicht nur passiv dasitzen und zuhören. Es ist kein Unterricht. Es muss eine Interaktion geben, wir versuchen dabei bestimmte Fähigkeiten beizubringen. Eine ganz wichtige Fähigkeit ist natürlich die Selbstreflexion. Sie erzählen uns ihre Biografie, die Straftat wird eingefügt als Teil der gesamten Lebensgeschichte. Für viele ist es die erste Chance, ihre persönliche Geschichte zu erzählen, und dieser Prozess ist auch immer mit Konflikten verbunden. Man muss das sehr vorsichtig angehen, ohne dass die Männer sich noch mal verhört fühlen – das haben sie schon durch und wir dürfen uns nicht in die Rolle der Staatsanwaltschaft oder der Polizei begeben. Wir gehören trotzdem zur Justiz, und das ist unseren Klienten bewusst.

Wenn Menschen lügen, ist das auch zum Teil gesund. (...) Wenn ich lüge, dann weiß ich, dass ich etwas getan habe, wofür ich mich vielleicht schäme.

Die große Herausforderung ist, dass wir das irgendwie wegschieben können, damit wir einen therapeutischen Prozess auch im Vollzug herstellen können. Früher fokussierte man sich auf den Straftatverlauf und darauf, dass die Männer alles zugeben mussten. Reinen Tisch machen und solche Begriffe waren gängig. Heute haben wir nicht den Anspruch, dass sie immer die Wahrheit erzählen. Ich denke, dann würden wir zu viel von den Männern verlangen. Es muss nur ausreichend sein. Wenn Menschen lügen, ist das auch zum Teil gesund. Sie schützen sich damit. Wenn ich lüge, dann weiß ich, dass ich etwas getan habe, wofür ich mich vielleicht schäme. Die Klienten, die gar nicht lügen, die alles erzählen, die sind manchmal sehr problematisch. Erstens können sie sich selbst nicht schützen. Zweitens erzählen sie alles so frei, dass sie vielleicht gar keine Schuldgefühle haben. Sie denken, es ist richtig, was sie getan haben.

Also zu diesen Erzählungen gehört auch die Lüge? Gibt es denn eine Wahrheit bei diesen Geschichten?

Das ist eine philosophische Frage und aus meiner Sicht: Ja, es gibt eine Wahrheit unabhängig von uns und wie wir das sehen, aber diese Wahrheit werden wir nicht unbedingt kennenlernen, vielleicht nur Teile davon. Da Menschen involviert waren. Alle Menschen erzählen ihre eigene Geschichte und diese Geschichte stimmt mehr oder weniger. Als Psychologen können wir relativ gut spekulieren, aber wir dürfen nicht so arrogant sein zu denken, dass wir genau festlegen können, wie alles abgelaufen ist, wie es sich angefühlt hat, was er sich gedacht hat. Ich denke, das ist einfach unmöglich, da es immer zum Teil Spekulation ist. Das betrifft auch die Abläufe bei diesen wirklich gravierenden Straftaten, dass sie nicht mehr wirklich zu erklären sind. Das versuchen Richter und Gutachter: Sie wollen jeden Schritt erklären, da man Mordabsicht beweisen muss. Aber Tatsache ist, dass bei jeder Straftat ein Faktor die unmittelbare Situation ist, und bei ihr kommen ganz viele Dinge zusammen. Hier findet ein Mord statt, aber in einer anderen Situation hätte es vielleicht eine schwere Körperverletzung sein können. Es ist sehr schwierig für unser Justizsystem damit umzugehen. Gerichte und Ermittler brauchen klare Linien, sodass man Verantwortung zeigen kann.

Ich habe das Gefühl, dass man als Mensch angesichts einer solchen Tat immer die Frage stellt, Warum?

Ja, warum? Ja genau!

Aber gibt es eine Antwort?

Ich denke nicht. Ich denke, es gibt Antworten, aber wir sind immer damit unzufrieden, als Therapeuten und auf jeden Fall als Gesellschaft. Jemand sagt: Ich war so wütend, ich habe sie getötet. Wer ist wirklich damit zufrieden, auch wenn es stimmt? Jeder denkt, ich war auch schon wirklich wütend – doch ich habe nicht getötet. Es ist immer diese Gesamtsituation: wütend sein und alle anderen Faktoren kommen zusammen. Es ist ein bisschen wie ein Puzzle. Und im ganzen Kontext kann Wut etwas erklären, aber auch nur halb. Die meisten von uns sind nicht mit diesen Antworten zufrieden und am Ende würden wir sagen, ja, die sind krank, oder die sind ja kranke Sexualstraftäter: Aber das ist auch keine Antwort, keine Erklärung; das ist ein Etikett, mehr nicht. Ich versuche mich nicht so viel mit diesen Fragen in der Therapie zu beschäftigen. Wir schauen auf den Straftat-Vorlauf und erarbeiten Schritte, wo der Klient Verantwortung übernehmen kann.

Man kann die Opfer nie vergessen ... Das ist auch eine Last, die man tragen muss.

Im Fall von Stefan S.: Wie kam es, dass er überhaupt in dieser Wohnung war? Er sagt, ich bin durch das Fenster eingestiegen – daran kann ein Therapeut arbeiten. Ich habe Unterwäsche geklaut und ich hatte eine Beziehung zu dieser Frau, die nicht gesund war. Daran kann ein Therapeut arbeiten. Dies sind die ganz wichtigen Sachen. Da hat Stefan S. die totale Verantwortung. Ich weiß, dass die Gesellschaft manchmal denkt, dass wir uns nur auf die Männer konzentrieren, aber das ist nicht der Fall. Wir haben Erkenntnis über die Ermittlungsakten und man sieht schon dieses Elend, in dem die Opfer vielleicht gelebt haben und auch wie sie getötet wurden, oder wie Kinder und Frauen missbraucht wurden. Wenn es um Kinder geht, viele Mitarbeiter haben selbst Kinder und das muss man wirklich gut trennen, in dieser Arbeit. Man kann die Opfer nie vergessen ... Das ist auch eine Last, die man tragen muss. Unser Hauptziel ist es, dass die Männer nach einer möglichen Entlassung nicht wieder straffällig werden. Und wenn wir sie nicht richtig einschätzen, kann das gravierende Konsequenzen haben sowohl für die Männer als auch für die Gesellschaft.

Wie gehst du mit dieser Verantwortung um?

Ganz wichtig ist das Wissen, dass wir nie eine perfekte Entscheidung treffen können, dass es nur eine Einschätzung ist. Mit unserem Training, mit den Instrumenten, die wir haben, können wir eigentlich ziemlich genaue Entscheidungen treffen, die forschungsbasiert sind. Wenn ich alles nach dem Manual mache, nach bestem Wissen, dann kann ich meistens gut schlafen. Aber ein Restrisiko ist immer da. Es bleibt eine informierte Vermutung. Was aber auch hilft ist, dass das System beim Entlassungsprozess Verantwortung teilt. Wir schreiben Berichte, die Staatsanwaltschaft schreibt einen Bericht, es gibt ein externes Gutachten, es gibt im Gericht mindestens einen Richter, der dann mitentscheidet, der Strafgefangene hat einen Strafverteidiger, der alles infrage stellt und so am Ende ... vielleicht gibt es keinen Konsens, es gab aber einen Prozess und eine Auseinandersetzung.

Gibt es Fehlentscheidungen?

Ja, die gibt es. Wenn wir entscheiden, dass jemand nicht entlassen wird – so eine Fehlentscheidung ist sehr schwierig festzustellen, da er nicht die Chance hat zu zeigen, dass wir falsch lagen. Er bleibt dann im Gefängnis. Die Fehlentscheidungen, die eher auffallen, sind die, wenn es Rückfälle gibt. Bei Hochrisikomännern, die Sexualstraftaten begangen haben, liegt die Quote bei etwa 50 Prozent im Hellfeld – das heißt die Straftaten, die wir dann auch mitbekommen. Es gibt auch ein sehr großes Dunkelfeld, das auch deutlich höher liegt ohne Behandlung. Wenn wir diese Männer behandeln, können wir das um etwa 40 Prozent senken. Also von 50 Prozent geht es eher auf 25 bis 30 Prozent. Natürlich wird die Gesellschaft sagen, das ist immer noch zu hoch. Ich würde dem zustimmen.

Ich muss die Rückfälle hinnehmen, da es viel schlimmer wäre, nichts zu tun.

Aber ich weiß, dass diese Männer entlassen werden als Gruppe und wenn wir nichts unternehmen, hat man eine Rückfallquote von mindestens 50 Prozent. Und damit könnte ich nicht leben. Mit anderen Worten: Ich muss die Rückfälle hinnehmen, da es viel schlimmer wäre, nichts zu tun. Die Alternative wäre ein Justizsystem vielleicht wie in den USA, wo Männer Freiheitsstrafen von 20, 40, 50, bis mehreren hundert Jahren bekommen für Straftaten, die hier mit fünf oder sechs Jahren belangt werden. Dann hätten wir viel mehr Gefängnisse in Deutschland und wir würden auch viele Familien zerstören. Diese Männer, die zwar die heftigsten Straftaten begangen haben, die gehören auch zu unserer Gesellschaft. Sie müssen jetzt wieder zeigen, dass sie sich verantwortungsvoll benehmen können. Aber wenn sie das gezeigt haben, wenn wir überzeugt sind, dann finde ich, dass wir ihnen diese Chance gewähren sollten. Ich finde, das macht uns zu einer besseren Gesellschaft.

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