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Als ich über ESQUÍ nachzudenken begann, ging es mir darum zu zeigen, wie sich der Kolonialismus an die Gegenwart angepasst hat, damit die Ungleichheit fortbesteht. ESQUÍ begann als beobachtender Dokumentarfilm über das Leben eines Sesselliftarbeiters in meiner Geburtsstadt Bariloche, dem größten Wintersportzentrum Lateinamerikas. Einfach nur die argentinische High Society beim Skifahren auf der einen Seite und den alltäglichen Existenzkampf der Arbeiter*innen auf der anderen zu zeigen, wäre zu wenig gewesen, um das komplexe Beziehungsgeflecht abzubilden, das diesen Ort ausmacht. Da ich mit den visuellen Gegensätzen, die das Nebeneinander dieser beiden Welten mit sich bringt, seit meiner Kindheit vertraut bin, entstand in mir der Wunsch, den Beziehungen zwischen den Menschen und der mystischen Landschaft auf den Grund zu gehen, jenseits einer rein dualistischen Wahrnehmung von Reich und Arm, Gut und Böse, Schwarz und Weiß – oder welche überholten binären Systeme auch immer existieren.

Bariloche liegt in Patagonien, einer Region, die von der Mapuche-Kultur bevölkert war, bis das argentinische Militär im Zuge der sogenannten „Wüstenkampagne“ (1878-1880) viele Indigene tötete. Die „Wilden“ sollten durch den Genozid dezimiert und zivilisiert, darüber hinaus sollte Land für europäische Einwanderer*innen gewonnen werden.

Die traurige Geschichte der Region erreichte während der Amtszeit von Mauricio Macri ihren Höhepunkt, als die Unterdrückung und Verfolgung der Mapuche unter dieser demokratischen Regierung eskalierte.

Bariloche, gegründet 1902, wurde zum Symbol für den siegreichen Vormarsch. Jetzt konnte mit der Domestizierung der patagonischen Wildnis begonnen werden. Den Einheimischen wurde eine neue Lebensweise aufgezwungen. Urbanisierung, Kommerz und staatliche Repressionen änderten alles. Mapuche-Familien, die überlebt hatten, ließen sich am Stadtrand nieder, mussten sich dem neuen Wirtschaftssystems anpassen und wurden an ihrer nomadischen Lebensweise gehindert. Rund um die Stadt siedelten sich immer mehr Menschen an. So entstand ein Gebiet, das heute El Alto heißt.

1930 kam Otto Meiling, ein deutscher Alpinist, nach Bariloche. Die Landschaft erinnerte ihn an seine Heimat, und er beschloss, vor Ort Skier zu produzieren. Jahre später wurde Bariloche zu Argentinien wichtigstem Urlaubsziel. In den achtziger Jahren schließlich entstand am Cerro Catedral, unweit der Stadt, das größte Skigebiet Lateinamerikas. Damit ein touristischer Ort funktioniert, ist eine gute Infrastruktur nötig, und damit diese Infrastruktur profitabel ist, braucht man billige Arbeitskräfte. Es ist kein Zufall, dass die meisten Arbeiter*innen des Skigebiets in den Vierteln von El Alto geboren und aufgewachsen sind und dass die jungen Leute in diesen Vierteln den Cerro Catedral nicht kennen und auch noch nie auf Skiern gestanden haben. Die traurige Geschichte der Region erreichte während der Amtszeit von Mauricio Macri ihren Höhepunkt, als die Unterdrückung und Verfolgung der Mapuche unter dieser demokratischen Regierung eskalierte. Im Jahr 2017 wurden Santiago Maldonado und Rafael Nahuel, die an mehreren Demonstrationen für die Rückgabe von Mapuche-Land teilgenommen hatten, von der Polizei getötet.

Es geht nicht um rein beobachtendes Filmen, es geht uns vielmehr darum, Menschen kennenzulernen und teilhaben zu lassen an einem kooperativen Projekt.

Es war also an der Zeit, die der Region eingeschriebene Gewalt visuell und akustisch darzustellen, auf eine Art und Weise, die sich nicht in einem Verhaltensdiskurs oder einer journalistischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse von Bariloche erschöpft. Die Darstellung von Gewalt durch die Ästhetik eines Films habe ich bereits in anderen Projekten verfolgt, indem ich verschiedene Erzählungen miteinander verbunden habe, um mögliche Welten zu erschaffen. Eine Welt etwa, in der das Fiktionale und das Dokumentarische eine untrennbare Einheit bilden, eine Welt, in der der Akt des Filmemachens in den Alltag der Menschen, die gezeigt werden, eingreift. Eine Welt, in der die nachwachsenden Generationen aus El Alto das Skifahren lernen, eine Welt voller Legenden, fantastischer Wesen und psychedelischer Musik. Wir haben die sinnliche Realität vorgefunden und während der Dreharbeiten deutlich gemacht, welche Rolle wir darin spielen. Es geht nicht um rein beobachtendes Filmen, es geht uns vielmehr darum, Menschen kennenzulernen und teilhaben zu lassen an einem kooperativen Projekt für eine kooperative Gemeinschaft, die darum kämpft, die Wunden zu heilen, die ein pervertiertes Wirtschaftssystem verursacht hat.

Übersetzung: Gregor Runge

 

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