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Die Millionenstadt Wuhan ist eine jener boomenden chinesischen Megacities – wie etwa auch Chongqing, Shenzhen oder Tianjin –, von denen man im Westen oft kaum mehr als den Namen kennt. Im Fall von Wuhan hat sich das mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Winter 2019/20 geändert, die Stadt ist schlagartig berühmt geworden, als Ort des Schreckens und Gegenstand von Horror-Schlagzeilen – was natürlich nicht bedeutet, dass das Wissen um die Stadt tatsächlich größer geworden wäre.

Die Filmemacherin Shengze Zhu wurde 1987 in Wuhan geboren, und obwohl sie seit einigen Jahren in den USA lebt, steht ihre Geburtsstadt weiter im Zentrum ihres Filmschaffens: Drei der vier Dokumentarfilme, die Zhu seit 2014 gedreht und gemeinsam mit ihrem Partner, dem Künstler und Filmemacher Yang Zhengfan, produziert hat, sind in Wuhan angesiedelt. Um Städteporträts in einem konventionellen Sinne handelt es sich bei diesen Filmen jedoch keineswegs.  

Der Fluss aus dem Titel von Zhus jüngstem Werk A RIVER RUNS, TURNS, ERASES, REPLACES ist der mächtige Jangtze, der Wuhan durchfließt. Der Film ist das Porträt einer Stadt am Fluss, ein filmischer Bildatlas jener Zonen, in denen Stadt und Fluss sich begegnen. Er vermisst Grenzflächen zwischen Wasser und Land – Ufer, Promenaden, Böschungen –, zeigt Brücken, Barken und Fähren. Die Einstellungen sind statisch und sie dauern, sie lassen den Zuschauer*innen Zeit, die Blicke schweifen zu lassen. Oft lassen die Bilder Gegensätze aufeinanderprallen: bröckelnde Ruinen im Vordergrund, dahinter eine vorm schwarzen Nachthimmel glitzernde, farbig illuminierte Brücke.

Zu sehen sind auch Menschen (der Film besteht zum Großteil aus Aufnahmen, die vor der Pandemie entstanden sind), die am Fluss arbeiten oder die es zum Fluss zieht, um sich dort zu erholen, Menschen, die flanieren, schwimmen, Walzer tanzen. Sie machen aber immer nur einen kleinen Teil des Bildes aus, verschwinden fast in den von Zhu sorgfältig kadrierten Totalen – weit wichtiger sind die urbanen Grenzlandschaften und der Fluss selbst.

Kleiner Ausschnitt einer großen Stadt

Schon in ihren Debütfilm OUT OF FOCUS von 2014 hat Zhu einen eigenwilligen Blick auf ihre Geburtsstadt geworfen. Wuhan hat mehr als acht Millionen Einwohner, ungefähr so viele wie New York, aber der Ausschnitt, den sie in diesem Film von der Stadt zeigt, ist sehr klein: Im Mittelpunkt steht zunächst eine Grundschule, im weiteren Verlauf beschränkt sich der Film dann auf ein enges Ein-Zimmer-Apartment. Beide liegen in Hua’anli, einem ärmlichen Bezirk am Rand von Wuhan, der vor allem von Wanderarbeiter*innen bewohnt wird. Ausgangspunkt des Films ist ein Foto-Workshop, den Zhu, die an der University of Missouri Fotojournalismus studiert hat, für Kinder in Hua’anli gegeben hat.

„Ich habe mich immer dafür interessiert, die Welt durch die Augen anderer zu sehen“, hat Zhu in einem Interview mit dem Filmmaker Magazine gesagt; OUT OF FOCUS setzt dieses Interesse auf sehr konkrete Weise um. Die Fotos der Mädchen und Jungen, die an Zhus Workshop teilgenommen haben, sind integraler Bestandteil ihres Films geworden. Immer wieder wird die Abfolge der Bewegtbilder durch Fotos unterbrochen und stillgestellt, die die Kinder von ihrer Schule, von Zuhause, von ihrem Viertel gemacht haben. Zhu hat die Fotos mit einer Tonspur unterlegt und schlägt so eine Brücke zwischen den Bildern der Kinder und den von ihr gedrehten Filmbildern, nähert Film und Fotografie, eigenes und fremdes Material einander an, „vernäht“ sie.

Später konzentriert sich der Film auf ein Mädchen, Qin, und seine Familie, die zu fünft in einem einzigen engen Raum lebt. Der Film beobachtet den ins Smartphone versunkenen Teenager ausdauernd, aber diskret; nie rückt die Kamera Qin zu sehr auf die Pelle. Close-ups gibt es keine, stattdessen, wie so oft in Zhus Filmen, lange und statische Einstellungen, allenfalls langsame Kameraschwenks, die Qin in Beziehung zum Raum um sie herum setzen.

„Für mich geht es im Kino mehr um Zeit und Raum, die durch Bild und Ton erschaffen werden, als um Geschichten.”

OUT OF FOCUS ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die sich weigert, ihrer Protagonistin ein bestimmtes Narrativ oder einen Entwicklungsbogen aufzudrücken: „Ich bin dagegen, die Perspektive, die Erfahrung, den Hintergrund oder Blickwinkel des Filmemachers oder der Filmemacherin zu nutzen, um etwas zu konstruieren oder aufzuerlegen, vor allem nicht, um dramatische Konflikte zu schaffen. Das ist das Letzte, was ich möchte“, unterstreicht Zhu gegenüber dem Internet-Magazin Sixth Tone. Sie zeigt stattdessen eine Folge von alltäglichen Szenen und Handlungen, lose aneinandergereiht: Wie Qin das Handy auflädt, ihr Pony in die Stirn kämmt, zu Abend isst: „Für mich geht es im Kino mehr um Zeit und Raum, die durch Bild und Ton erschaffen werden, als um Geschichten.”

Weil sie die Interaktion zwischen Mutter und Tochter während der gemeinsamen Abendessen besonders spannend fand, hat Zhu diese zum Gegenstand ihres zweiten Films gemacht. 2016 ist sie zu Qin und ihrer Familie zurückgekehrt: In drei Stunden Laufzeit und dreizehn unbewegten Einstellungen dokumentiert ANOTHER YEAR dreizehn gemeinsame Abendessen. Mit Hilfe des strengen Konzepts entsteht ein genaues Porträt von Menschen, die ihre dörfliche Heimat verlassen haben und unter schwierigsten Umständen ein Leben in Wuhan aufzubauen versuchen.

Stimmen der Marginalisierten

In vielerlei Hinsicht schließen die Filme von Zhu, und besonders ANOTHER YEAR, an das unabhängige chinesische Dokumentarfilmschaffen an, das in den vergangenen Jahren im Westen auf Festivals oft sehr wohlwollend rezipiert wurde. Meist handeln diese Filme von Menschen am Rande der post-sozialistischen chinesischen Gesellschaft, erzählt wird im Modus des rein beobachtenden Dokumentarfilms: ohne Kommentar, ohne Interviews, dafür in langen Einstellungen, die nur lose narrativ verknüpft sind. Am bekanntesten sind die radikalen Filme von Wang Bing, die sich oft über viele Stunden Laufzeit erstrecken und gleichzeitig spartanisch und exzessiv anmuten. Doch auch eine solche Kompromisslosigkeit kann Konvention oder Floskel werden.

Zhus Filme bestechen vor allem auch deshalb, weil sie zwar einerseits an dieses formal strenge, asketische Paradigma anschließen, das es im unabhängigen chinesischen Kino der letzten Jahre zur Blüte gebracht hat. Andererseits aber sind Zhus Filme auch immer wieder bereit, die eigene Stringenz über Bord zu werfen, sich selbst im besten Sinne untreu zu werden und die Bilder und Erzählung zu hybridisieren. In OUT OF FOCUS geschieht das über die Integration von Fotografien in den Film, aber auch über Schwerpunktverlagerungen, vom Kollektiv zum Individuum, von der Schule zur Familie, vom Inneren einer Wohnung ins Draußen der Stadt - und wieder zurück.

Zhus dritter Film von 2019 treibt die filmische Hybridisierung noch weiter und greift gleichzeitig das Interesse an der Bildproduktion von Amateur*innen auf, das schon OUT OF FOCUS bestimmt hat: PRESENT.PERFECT enthält keine einzige von Zhu selbst gedrehte Einstellung, sondern ist ganz aus gefundenem Material montiert, genauer: aus Filmmaterial, das chinesische Internet-User*innen live gestreamt haben. Stilistisch stellt dieser dritte Film eine Abwendung vom Paradigma des rein beobachtenden Dokumentarfilms dar. Zhu selbst betont aber auch Kontinuitäten, etwa in einem Gespräch für den Streaming-service Filmatique: „Ich interessiere mich weiterhin für Menschen, die am Rande der chinesischen Gesellschaft leben, Menschen, deren Stimmen oft im Mainstreamkino oder in den Medien übersehen werden.“

Auch in A RIVER RUNS, TURNS, ERASES, REPLACES lässt Zhu Stimmen auftauchen, die in der chinesischen Medienlandschaft marginalisiert sind; und sie tut es erneut auf eine Art und Weise, die die Bilder hybridisiert und als Bruch oder Riss in der filmischen Form sichtbar wird – bezeichnenderweise sind das auch genau jene Stellen, an denen die Pandemie Eingang in den Film findet. Viermal werden, per Schrift-Insert, Auszüge aus Briefen über die Filmbilder vom Fluss eingeblendet, in denen Menschen aus Wuhan sich an ihre in der Pandemie verstorbenen Angehörigen richten. Es handelt sich dabei, wie im Abspann deutlich wird, nicht um authentische Briefe, sondern um Doku-Fiktionen, um Texte, die Zhu auf der Basis von tatsächlichen Erzählungen selbst verfasst hat – gebrochen wird an diesen Stellen also auch mit dem dokumentarischen und beobachtenden Gestus des restlichen Films.

Der Ausgriff ins Doku-Fiktionale, der sich in der Verknüpfung von Fluss-Bildern und Corona-Epistolarik vollzieht, mag mit der Schwierigkeit zu tun haben, die Pandemie angemessen darzustellen, oder auch präventive Maßnahme gegen mögliche Eingriffe staatlicher Zensur sein. Fest steht, dass Zhu eine Filmemacherin ist, die mit jedem ihrer Filme weiter experimentiert.

 

Elena Meilicke ist Medien- und Kulturwissenschaftlerin und lehrt an der Universität der Künste Berlin.

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