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Spärlich bewachsene Erdwände ziehen am Fenster vorüber. Das Rattern des Zugs weicht anderen Geräuschen, es hört sich an, als würden Steine bearbeitet und im Kies gescharrt. Eine junge Frau im Wald. Ihre Atmung und Körperhaltung verraten Stress. Erschöpft läuft sie zu einem See, sinkt auf die Knie und trinkt. An einem anderen Ort: Drei junge Männer und eine Frau. Das Museum, zu dem sie wollen, hat geschlossen. Weil das Wetter schön ist, beschließen sie, durch den Wald um das Museum herum zu laufen. Sie stoßen auf eine ehemalige Bahntrasse. Einer der jungen Männer witzelt: „Vielleicht kommt nachts jemand und baut die Trasse fertig …“ In JAI JUMLONG (COME HERE), dem neusten Film der thailändischen Regisseurin Anocha Suwichakornpong, fügen sich diese verschiedenen Ebenen erst allmählich zusammen.

Die drei jungen Männer sind Teil einer Theatergruppe, die junge Frau ist mit ihnen in die Gegend um die Stadt Kanchanaburi gefahren. Wieder und wieder nimmt der Film eine Abbiegung, um jeder einzelnen Figur Raum zu geben. Die malerische Landschaft der Umgebung hat eine besondere Geschichte: Die Bahntrasse am Hellfire Pass, die die Gruppe eingangs durchwandert, war Teil der Eisenbahnlinie zwischen Thailand und dem heutigen Myanmar. Errichtet wurde die Verbindung ab 1942 von Kriegsgefangenen Japans und Arbeitern aus der Region – über 100.000 starben an Erschöpfung, Misshandlungen und Krankheiten.

"Im Thailand der Gegenwart ist die Auffassung von Liebe kompliziert. Die Liebe, als Ideologie, ist untrennbar mit der Nation verknüpft", erklärt Suwichakornpong.

Am Anfang des Films stand für Suwichakornpong die Gruppe junger Menschen. In einem Programmtext für das Film Studies Centre von Harvard erklärt die Regisseurin: „Ich wollte einen Film über junge Menschen machen. Das führte mich unweigerlich zu Fragen über die Liebe. Im Thailand der Gegenwart ist die Auffassung von Liebe kompliziert. Die Liebe, als Ideologie, ist untrennbar mit der Nation verknüpft (…) sie wird genutzt, um das pflichtbewusste Verhältnis des Einzelnen zu Nation, Religion und König zu beschreiben.“

In JAI JUMOLONG wird aus dieser Verwobenheit privater Gefühle mit politischer Überformung ein Gewebe aus Szenen und Tönen. Viel ähnelt dem Vorgängerfilm KRABI, 2562, bei dem Suwichakornpong mit dem britischen Regisseur Ben Rivers kooperierte. Beide Filme sind um einen Ort herum angeordnet – KRABI, 2562 etwas strenger, JAI JUMLONG etwas lockerer –; beide entwickeln aus einem Mosaik aus Erzählungen, Legenden und historischen Versatzstücken eine Studie der thailändischen Gegenwartsgesellschaft. Beide sind stark von der Tonspur geprägt, die Ernst Karel gestaltet hat. Anders als in früheren Filmen von Suwichakornpong wird ihr eine größere Autonomie zugestanden: etwa in der Eröffnungsszene, in der der Ton die Geschichte der Landschaft evoziert, durch die der Zug fährt. Zugleich verbinden sich die Hintergrundgeräusche stärker als früher zu einer durchgehenden Klanglandschaft, in der es meist leise zirpt, rauscht, brummt und wummert.

Wiederkehrende Elemente

Eine junge Frau setzt in KRABI, 2562 mit der Fähre auf eine der Inseln der bei Touristen aus aller Welt beliebten titelgebenden Provinz über. Von einer jungen Fremdenführerin lässt sie sich die Sehenswürdigkeiten der Insel zeigen. Sie gibt sich als Location Scout aus; gegenüber der Rezeptionistin im Hotel tritt sie dagegen als Marktforscherin auf, einem Filmvorführer erzählt sie, ihre Eltern wären früher oft in dem Kino gewesen. Die jeweiligen Erzählungen öffnen ihr die Orte in verschiedenen Weisen: Die Fremdenführerin rattert Filme herunter, die in der Umgebung gedreht wurden; das Gespräch mit dem Filmvorführer öffnet die Welt des thailändischen Kinos während der Demokratisierung der achtziger Jahre. Dann verschwindet die Frau plötzlich und ihre Begegnungen werden von der Polizei untersucht. Dazwischen schweift der Film immer wieder ab: inszeniert die Miniatur eines Werbeclip-Drehs am Strand, zeigt die junge Frau, wie sie die Gegend erkundet und die Touristenführerin beim Besuch bei einem örtlichen Imker. Jede Szene, manchmal nur eine einzelne Einstellung lang, darf sich in Ruhe entfalten.

Blickt man von JAI JUMLONG zurück auf die Langfilme, die Suwichakornpong zuvor realisiert hat, fallen eine Reihe von wiederkehrenden Elementen auf. Dies gilt insbesondere für die drei Filme ab DAO KHANONG (2016). Davor liegt ihr Debüt JAO NOK KRAJOK (2009), das heraussticht, vor allem weil es deutlich klassischer erzählt ist. Anhand des Verhältnisses zwischen einem jungen gelähmten Mann aus reicher Familie und seinem Pfleger umkreist der Film die Themen Begehren und Klassenstrukturen im heutigen Thailand.

Offene Erzählstruktur

In Suwichakornpongs zweitem Spielfilm DAO KHANONG dringt erstmals die Geschichte der fragilen Demokratisierung Thailands an die Oberfläche. Vierzig Jahre nach einem Massaker an protestierenden Studierenden der Thammasat Universität in Bangkok fährt eine junge Filmemacherin mit einer der ehemaligen Anführerinnen der Proteste aufs Land, um in Gesprächen mit ihr, ein Drehbuch vorzubereiten. Rückblenden lassen die Geschichte in einfacher Form sichtbar werden. Über den Alltag der beiden Frauen und der jungen Hausangestellten, die sie versorgt, öffnet sich der Film. Die junge Filmemacherin besucht eine nahegelegene Pilzzucht, wandert durch den Wald. Nach einem Zwischenspiel beginnt die Handlung mit ausgetauschten Darstellerinnen erneut. Eine andere Regisseurin befragt eine andere Überlebende.

In DAO KHANONG wird, wie auch in den folgenden Filmen Suwichakornpongs, eine Gesellschaft sichtbar, die von ihrer jüngsten Zeitgeschichte geprägt ist und doch im Alltag von ihr unberührt scheint. Dieses Sichtbarwerden fällt zusammen mit einer offeneren Erzählstruktur. Schon in der Anlage ihrer Filme widersteht Suwichakornpong jeder Versuchung, aus historischen Ereignissen gerade Linien in die Gegenwart zu ziehen. Seit DAO KHANONG finden sich in ihren Filmen Ausschnitte aus historischem Filmmaterial. Dort greift sie eine Szene aus George Méliès’ LE VOYAGE DANS LA LUNE (1902) auf: Einer der Mondausflügler steckt seinen Regenschirm in den Mondboden, der prompt zum Pilz anwächst. Der Ausschnitt weist zurück auf das Thema der Pilzzucht, das zuvor bereits aufgetaucht ist, und teilt den Film in zwei Hälften.

Die Regisseurin hat zu einer Form gefunden, in der alle Elemente gleichermaßen sinntragend sind und sich wechselseitig beeinflussen.

Auch in KRABI, 2562 markiert ein kurzer historischer Filmausschnitt die Hälfte des Films. Hier handelt es sich offenbar um einen ethnographischen Film, der die Höhlen der Insel zeigt. In JAI JUMLONG werden historische Aufnahmen eines Zoos in Bangkok mit Audioaufnahmen des letzten Tags vor dessen Schließung Ende September 2018 unterlegt. Geschichte und Gegenwart durchdringen sich bei Suwichakornpong mit großer Beiläufigkeit.

Ebenso kehren ähnliche Figuren und Figurenkonstellationen immer wieder. Das Verhältnis zwischen Touristenführerin und Touristin in KRABI, 2562 ähnelt beispielsweise von der Hierarchie her und den Verhaltensmustern dem der jungen Filmregisseurin in DAO KHANONG zur Hausmeisterin.

In jedem Film seit DAO KHANONG lässt Suwichakornpong ihre Figuren mystisch-surreale Begegnungen im Wald erleben: In DAO KHANONG folgt die junge Regisseurin einem Kind im Bärenkostüm, in KRABI, 2562 hat der Star des Werbeclips eine surreale Begegnung während er an einen Baum uriniert, und in JAI JUMLONG transformiert sich die junge Frau, die eingangs durch den Wald irrt, im Schlaf auf einer Lichtung in einen jungen Mann. Wälder sind in den Filmen Suwichakornpongs Refugien des Fantastischen.

Gerade in ihren letzten Filmen hat die Regisseurin zu einer Form gefunden, in der alle Elemente gleichermaßen sinntragend sind und sich wechselseitig beeinflussen. Die Klanglandschaften fungieren dabei auch als Klammer für die offene Bildebene. Zufällig eingefangene Beobachtungen wie jene Szene in KRABI, 2562, in der Affen ein Kunstwerk entlang klettern und als schattigen Rastplatz nutzen, finden ihren Platz neben den handlungstragenden Spielszenen und den historischen Filmausschnitten. All diese unterschiedlichen Elemente fügen sich in der Montage von Aacharee Ungsriwong zu Momentaufnahmen der thailändischen Gesellschaft, die weder modellhaft verdichten noch einfach Realität imitieren.

 

Fabian Tietke macht von Berlin aus Filmprogramme und schreibt über Filme, letzteres vor allem für die taz – die tageszeitung.

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