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Halbdunkel, Licht fällt auf ein weißes Kopfkissen, den zerzausten Hinterkopf eines älteren Mannes auf einer Liege (ein Krankenbett?). Aufgenommen ist die Szene von schräg hinter dem Liegenden (die Position des Analytikers?), zu hören das knarrende Quietschen der beweglichen Rückenlehne, die langsam auf und ab fährt. Eine Männerstimme wiederholt erst flüsternd, dann bestimmter: „Es scheint, die Zeit ist gekommen für unsere übliche Flucht.” Und dann wie im Selbstgespräch: „Ich frage mich, ob er zu mir spricht oder dem toten Deutschen.”

Es ist tatsächlich eine vieldeutige „Flucht“, von der Fabrizio Ferraros Film LA VEDUTA LUMINOSA  (THE LUMINOUS VIEW) erzählt, und gleichzeitig ihr Gegenteil, eine Annäherung an und Suche auf den Spuren Friedrich Hölderlins (1770 – 1843). Geboren 1770 im schwäbischen Lauffen, Utopist, Anarchist, Pantheist, poetologischer und politischer Revolutionär, philosophierender Dichter und dichtender Philosoph. Nach der gewaltsamen Einlieferung in eine Tübinger Nervenklinik 1806 entmündigt, als unheilbar entlassen und, gerade mal 36-jährig, dem Schreinermeister Ernst Zimmer zur Pflege übergeben. Nach weiteren 36 Jahren im Tübinger Turm (Klavier spielend, zeichnend, weiter dichtend) verstarb er 1843. Die Hinterlassenschaft: sinnliche Wörterwelten und Denksätze, gänzlich ungeeignet, in gemeine Verständigungsprosa übersetzt zu werden. Dichtung, so intellektuell komplex, dass der „Verstand sich krümmt vor Erkenntnis“ (Hölderlin) und auch mal kapituliert – gleichzeitig so kinderleicht wie Musik, Gesang, ein geglückter Reim.

Vertrauen in die Mittel der Kinematografie

Was ist diese lebendige poetische Rede, und lässt sie sich filmisch adaptieren? Nach Filmemacher*innen wie dem elsässischen Regieduo Jean-Marie Straub und Danièle Huillet und Harald Bergmann, dessen jahrelange Beschäftigung mit Hölderlin gleich vier Filme hervorgebracht hat, antwortet darauf Fabrizio Ferraro mit einem ähnlich eigensinnigen Werk. LA VEDUTA LUMINOSA (dt. „Die lichte/leuchtende Aussicht“) ist kein Film, der einen an die Hand nimmt, der Erklärungen, biografische Daten, Quellenangaben liefert. Ferraro, der Filmwissenschaft und Sprachphilosophie studiert hat, verlässt sich ganz auf die Kraft des (bewegten) Bildes, die ureigenen Mittel der Kinematografie. Das ist zugleich die Stärke seines Films wie auch Herausforderung für jene, die nicht zuhause sind im komplexen Hölderlin-Universum.

Der Plot ist schnell erzählt: Ein offenbar lange verschollener Regisseur, Herr Emmer, und die Assistentin seines Produzenten, Catarina, unternehmen einegemeinsame Recherche-Reise von Rom nach Tübingen, auf der Suche nach inspirierenden Hölderlin-Orten, um ein altes Filmprojekt wiederzubeleben. Der sich den sozialen Normen verweigernde Regisseur und die zunehmend genervte junge Assistentin überqueren im Auto die Alpen, setzen irgendwann die holperige Reise zu Fuß fort und stranden, buchstäblich und metaphorisch, im Dickicht des Schwarzwalds.

Hölderlin ist in diesem Film so fern wie gegenwärtig, im Ganzen wie im bedeutsamen Detail. Um das erste Bild von LA VEDUTA LUMINOSA – die historische Zeichnung einer Häuserzeile am Fluss – zu entschlüsseln, muss man wissen, dass jener berühmte „Hölderlinturm“, in dem der angeblich geistesgestörte Dichter (vermutet wird Schizophrenie) seine zweite Lebenshälfte verbrachte, eigentlich das Erkerzimmer eines Wohnhauses war, mit Aussicht durch mehrere Fenster auf den Neckar. Die dort entstandenen kurzen, eigentümlichen Gedichte – zumeist zur Natur, den Jahreszeiten – unterschrieb er oft mit fiktiven Datumsangaben und dem Namen „Scardanelli“. Und natürlich bezieht sich Ferraros Filmtitel auf Hölderlins allerletztes überliefertes Gedicht Die Aussicht aus dem Jahr 1843. Sein erster Vers „Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben“ ist dem dritten Filmkapitel vorangestellt. Zwei Hinweise auf jene Thematik, die Ferraros Film erkundet: den Widerstreit von Mensch und Natur, von aufgeklärter Rationalität und sinnlicher Präsenz, festgestelltem Begriff und unmittelbarem, poetischen Ausdruck, der Hölderlins Leben und Werk eingeschrieben ist.

Konzentration auf den späten Hölderlin

Dass Ferraro sich auf den späten Hölderlin konzentriert wundert kaum, lässt sich doch der „Irrsinn“ des Dichters als Ausdruck dieser zerreißenden oder zerrissenen Spannung lesen. Allerdings ist gerade Hölderlins „Wahnsinn“, die identifikatorische Deutung des leidenden, an der Welt irre gewordenen Dichters, zu finden in Sekundärliteratur wie in künstlerischen Adaptionen, eine gefährliche Gratwanderung. Der biografische Spielfilm FEUERREITER (1998) von Nina Grosse etwa inszeniert Hölderlins Liebe zu der verheirateten Susette Gontard (die sich als Liebesgöttin Diotima in seine Texte einschrieb) als simples Psychodrama: schweißtriefend, mit offenem Hemd und wirrem Haar, wirft der am Liebeswahn leidende Dichter nächtens geniale Sätze aufs Papier; die einsame Fußwanderung über die Alpen von Frankreich zurück nach Deutschland führt quasi schnurstracks und folgerichtig in die Anstalt. Das Bild vom Künstlergenie unterschlägt nicht nur, dass Hölderlin als Dichter, bei aller intuitiven Vorgehensweise, ein akribischer Wortarbeiter war.

Andere wagen einen differenzierten Blick auf Hölderlin im Turm. „Ich bin überzeugt, dass Hölderlin die letzten dreißig Jahre seines Lebens gar nicht so unglücklich war, wie es die Literaturprofessoren ausmalen“, vermutet schon Robert Walser: „In einem bescheidenen Winkel dahinträumen zu können, ohne beständig Ansprüche erfüllen zu müssen, ist bestimmt kein Martyrium. Die Leute machen nur eins draus.“ Diese Perspektive klingt auch in Harald Bergmanns Film SCARDANELLI an, dem dritten Teil seiner zwischen 1992 und 2000 gedrehten Hölderlin-Trilogie. In den ersten beiden Teilen, LYRISCHE SUITE / DAS UNTERGEHENDE VATERLAND und HÖLDERLIN COMICS konzentriert sich der Berliner Filmemacher auf das Werk vor 1806, im Schlussteil SCARDANELLI rekonstruiert er die zweite Lebenshälfte im Turm. Mit Abstand, Respekt und Behutsamkeit ist dieser Film inszeniert, nimmt eine radikale Außensicht ein, hält sich an die Texte und die in ihnen enthaltenen Bilder, statt eine illusionistische Erzählung anzubieten. Wir sind Zeitzeugen der Gedichte, nicht eines Lebens. Während Bergmann dokumentarisches Material – Primärtexte, Zeitzeugenaussagen, Briefe – im Stil eines Re-enactment inszeniert, überträgt Fabrizio Ferraro die Scardanelli-Thematik in die Jetztzeit und macht Herr Emmer zu einer Art Wiedergänger Hölderlins. Ganz so einfach ist das allerdings nicht.

Das Leitmotiv des Lichts, der Spiegelung, Reflexion, zieht sich durch. Ferraro arbeitet mit der Plastizität von Fokus und Unschärfe, auf der Suche nach originären Bildern, die unmittelbar in einen atmosphärischen Raum hineinziehen.

Sein Film,  schreibt der Regisseur, sei ein Porträt von Hölderlin/Scardanelli, „das der Offenheit Hölderlins sehr nahe kommt“. Bei dem es nicht um Ähnlichkeiten gehe, sondern darum, „flüchtige Passagen herauszukristallisieren und in einem Punkt zu kondensieren, so weit wie möglich virtuell und entfernt.“ Kenner werden in diesem „Porträt“ Hölderlinsche Wörter, Verse, philosophische Implikationen identifizieren, allen anderen bleibt nur, sich dem Licht- und Schattenspiel der Kamera anzuvertrauen. Denn LA VEDUTA LUMINOSAist auch ein Versuch, Hölderlin ästhetisch zu übersetzen. Filme entstünden heute im „Bunker der Postproduktion“, so Ferraro, und setzt diesen allgegenwärtigen „flachen“ Bildern das „umhüllende Licht“ seiner Kamera entgegen. Das Leitmotiv des Lichts, der Spiegelung, Reflexion, zieht sich durch (unscharfe Rot-Gelb-Grün-Flecken einer Ampel, Rücklichter im Dunkel eines Tunnels, regennasse Autoscheiben, Rückspiegel, der Sonnenuntergang …). Ferraro arbeitet mit der Plastizität von Fokus und Unschärfe, auf der Suche nach originären Bildern, die unmittelbar in einen atmosphärischen Raum hineinziehen. Sinnlich und metaphorisch sucht er damit die Trennung von Subjekt (Zuschauer) und Objekt (Film) aufzulösen, Zusammenhang, ein „Ganzes“ herzustellen – und hier braucht es kaum den Verweis des Regisseurs auf das griechische Hen kai pan (das eine in sich unterschiedene Ganze, die „Alleinheit“), dem der Dichter zeitlebens auf der Spur war.

Allerdings, das weiß auch Ferraro, ist Hölderlin längst kein Grieche mehr, der ganz eins mit der „himmlischen Natur“ auf der Erde wandelt, wo sich sogar Götter und Halbgötter unter die Menschen mischen: „In LA VEDUTA LUMINOSA haben wir es mit einem Hölderlin zu tun, der die Abwesenheit der Attraktion des Göttlichen Feuers akzeptiert und die erzwungene Hinwendung der Menschen zu einer Natur sieht, die nicht mehr das Haus des Himmlischen ist.“ Nicht nur ästhetisch, auch in diesem Sinne ist Hölderlin ein „Moderner“, der das Abwesend-Anwesende besingt: die (fehlende) Liebe. „Ein Liebes-canto für eine leidende Natur“ hat Ferraro sein poetisches Filmessay benannt. Vor dem philosophischen Hintergrund Hölderlins erschließen sich Handlungsstränge wie ein Besuch im Tierpark, dem verbliebenen „Reservat“ der Natur, in dem Herr Emmer und Catarina die sprachlosen Tiere beobachten, insbesondere die Affen: „Man sollte ihnen in die Augen gucken … tagelang.” Im Gestrüpp des Schwarzwalds, das Herr Emmer ziellos suchend durchstreift, ist der „heilige Hain“ vielleicht noch im durch die Bäume fallenden Licht präsent, die Realisierung des geplanten Films aber – überhaupt irgendeines Films – scheint unmöglich. Die Reise erweist sich als unfruchtbar. Es gibt viele potenzielle Wälder, sinniert Herr Emmer, den Wald des Försters, den des Jägers, des Malers … Diese Potentialität und Offenheit scheint jeder konkreten Realisierung eines Projekts im Wege zu stehen, und so treibt auch den realen Filmregisseur Fabrizio Ferraro ein Paradox: „etwas ausdrücken wollen, ohne etwas auszudrücken“.

Dagegen drängt Catarina – Vertreterin des Realitätsprinzips – auf ein zählbares, datierbares, greifbares Ergebnis. Und der Film würde ins Geraune kippen, brächte diese Gegenfigur, ihren Rollkoffer genervt über Kuhwiesen ziehend, am Handy mit dem abwesenden Produzenten verhandelnd, nicht eine zeitgenössische Perspektive hinein. Die schwierige „Vermittlung“ (ein Schlüsselbegriff Hölderlins) beider Prinzipien zeigt sich nicht zuletzt, wenn die beiden abwechselnd auf Italienisch, Englisch, Portugiesisch oder in deutschen Hölderlin-Versen aneinander vorbeireden.

Dem poetischen Geist auf der Spur

So ist auch Fabrizio Ferraro, und das kennzeichnet alle ernsthaften Hölderlin-Adaptionen, der Verfahrensweise des poetischen Geistes auf der Spur. Wie lässt sich Hölderlin ins Kino übertragen? Für das gemeinsame Filmschaffen von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub sind die Texte der zentrale Bezugspunkt, etwa in ihrer Bearbeitung der unvollendeten Empedokles-Fragmente (DER TOD DES EMPEDOKLES, gezeigt auf der Berlinale 1987), von Hölderlin 1799 unter dem Eindruck der Französischen Revolution verfasst. Der unerschütterliche Kommunist Straub liest Hölderlin politisch, und er „liest“ ihn wirklich – streng ist noch ein mildes Wort für die präzise, extrem fordernde ästhetische Umsetzung. Die metrischen Originaltexte werden von Sprechern in antiken Kostümen aufgesagt, in wortgetreuer Betonung und gänzlich untheatralisch, gebrochen von der Rhythmik der Begriffe und Bilder, womit sich der Terreur in die klassischen Verse einschleicht. Der Einklang vonMensch und Natur, den Empedokles beschwört, ist entzweit. Gleichzeitig gelingen Huillet/Straub großartige Bilder, aufgenommen in den Bergen Siziliens: ein von Naturgeräuschen, Wind, Vögeln begleitetes Lichtspiel (darin Fabrizio Ferraros Film verwandt).

Von Huillet/Straub hat wiederum Harald Bergmann viel gelernt, gleichzeitig aber eine ganz eigene Sicht auf Hölderlin ins Bild gesetzt. Das poetische Sprechen im Kino, vielleicht ist es ihm am eindrücklichsten geglückt. Seine Hölderlin-Trilogie von drei abendfüllenden Spielfilmen in drei Stilarten ist eine Auseinandersetzung mit Leben und Werk, die insbesondere ein faszinierendes Spektrum an technischen und ästhetischen Möglichkeiten zeigt, Dichtung ins bewegte Bild zu übersetzen. Bergmann kombiniert rekonstruierte Zeitzeugnisse, Rezitation, Interview- und Reportage-Elemente. Die in allen Filmen eingesetzte „Sichtbarmachung“ von Hölderlins Niederschrift per Trickanimation ist ein Schlüssel zu Bergmanns Arbeit. Sie lässt die Handschrift handgreiflich werden, setzt Schrift als Bild, zaubert den dichterischen Entstehungsprozesses auf die Leinwand. Das dient aber gerade nicht der Mystifizierung dieses Vorgangs, sondern seiner schlichten Anerkennung: der Rehabilitierung dichterischer Wahrheit. Hier wird nicht Wirklichkeit abgebildet, hier ereignet sich etwas.

Es ist schon auffällig, welche Faszination Hölderlins Dichtung auf Künstler*innen aller Sparten ausübt und sie in der produktiven Aneignung im besten Falle zur Höchstform motiviert. Immer dann, wenn es gelingt, die poetische Ausdrucksform zu aktualisieren, welche die komplexe Erfahrungsweise gelebten Lebens am unmittelbarsten zu fassen vermag. Wie erklärt sich diese oft lebenslange Faszination? Harald Bergmann hat diese Frage sechs Hölderlin-Süchtigen gestellt. Der daraus entstandene Fernsehfilm PASSION HÖLDERLIN, gewissermaßen der ergänzende Metafilm zu seiner Trilogie, zeigt das Echo der Dichtung in den verschiedensten Disziplinen, von der Musik bis zur Hirnforschung.

Hölderlin heute, diesem Thema widmet sich auf eigene Weise auch Fabrizio Ferraro, offenbar ebenfalls ein „Passionierter“.  Die allerletzte Einstellung seines Films ist ein zeitgenössisches Update der historischen Zeichnung zu Beginn, diesmal als Lichtspiel in Farbe: der für das Hölderlinjubiläum 2020 zu Renovierungsarbeiten eingerüstete Turm am Neckar, irgendwoher schallen Kirchenglocken, menschliche Stimmen, flüchtiger Alltag, vergehende Zeit. „Was bleibet aber stiften die Dichter“. Und manchmal schreiben die Filmemacher es in Lichtbildern fort.

 

Melanie Weidemüller lebt als freie Kulturjournalistin und Redakteurin in Köln und arbeitet für Print und Hörfunk (u.a. Deutschlandfunk, WDR, Stadtrevue Kölnmagazin).

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