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„Ich wollte alles filmen“, erinnert sich der argentinische Filmemacher Ignacio Ceroi, als er Ende 2019 für längere Zeit seine Freundin im südfranzösischen Toulouse besucht. Doch dann findet er im Speicher der Kamera, die er gebraucht über Ebay gekauft hat, die Aufnahmen eines französischen Rentners. Ceroi bleibt an ihnen hängen, fast scheint es, als hätten sie ihn ausgewählt. Die tagebuchartige Erzählung, als die QUÉ SÉRA DEL VERANO (WHAT WILL SUMMER BRING) begonnen hat, schlüpft in ein anderes Leben, ein anderes Ich hinein.

Ceroi kontaktiert den ehemaligen Besitzer der Kamera und fragt ihn, ob er mit den Bildern etwas machen könne – „etwas, das mit Kino zu tun hat“. Es solle ein Spiel mit der Imagination eines fremden Lebens sein, konkretisiert er. Der Mann mit dem Namen Charles antwortet, dass er das Kino liebe und erklärt sich bereit, seine Erinnerungen an die Videos und die darin festgehaltenen Erlebnisse aufzuschreiben – auch wenn er einräumt, dass sie inzwischen etwas verschwommen seien. Eine freundschaftliche Korrespondenz nimmt ihren Anfang, die das Drehbuch zu dem vorliegenden Film schreibt. Ceroi liest den Briefwechsel zu den Videobildern von Charles aus dem Off vor und ergänzt ihn mit seinen Gedanken. Hinzu kommen eigene Aufnahmen, die während des Aufenthalts in Südfrankreich entstanden.

Das gefundene Material umfangreich und berückend unspekakulär: Man sieht Charles, beim Grillen im Vorgarten, bei Spaziergängen mit seinen drei Hunden Tití, Jamón und Queso, seine Frau in der Küche, die Mutter, Zusammenkünfte mit der Verwandtschaft, zwei Mitarbeiter seiner kleinen Spedition, die bald Pleite geht und seinem Leben eine andere Wendung geben wird. Dazu die Erinnerungen von Charles: an die anfänglichen Schwierigkeiten nach seinem langen Fabrikarbeiterleben bei Airbus, die prekäre ökonomische Situation als Rentner, die wachsende Entfremdung und Wortlosigkeit in seiner Ehe und an einen Freund der Familie, über den er schließlich einen Job als Fahrer bei der französischen Botschaft im kamerunischen Yaoundé bekommt. Und dort beginnt dann noch mal ein ganz anderer Film.

Zweigleisige Autobiographie

So knapp und schmucklos QUÉ SÉRA DEL VERANO im Ton ist, so verschlungen und ausladend ist der Film in seinen Erzählbewegungen. Elemente des Home Movies, des Found-Footage- und Amateurfilms zum einen und des recherchebasierten Essayfilms zum anderen verknüpfen sich zu einer zweigleisigen Autobiografie, in der ein leiser Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Erzählung stets eingetragen ist. Anders als im „Recycled Cinema“ geht es Ceroi nicht darum, das Found Footage durch Neu-Konfigurationen in einen neuen Zusammenhang zu stellen oder auseinanderzunehmen. Vielmehr zeigt er sich von der Unverstelltheit und Aufrichtigkeit der Bilder ernsthaft berührt. Aus dem „Rohmaterial des eigenen unverkleideten Wesens“ (Vivian Gornick) formt er eine Geschichte.

„Seit ich mein Leben in Sätze umwandle, finde ich mich interessant. In dem Maße, wie ich zur Figur meines Romans werde, kann ich mich für mich begeistern“, schreibt der französische Autor Serge Doubrovsky, dem die „Erfindung“ des literarischen Begriffs „Autofiktion“ gemeinhin zugeschrieben wird in Un Amour de soi (1982). Auch Ceroi, Erzähler und Protagonist der Rahmenhandlung, wandelt das Leben von Charles in „Sätze“ um, macht ihn interessant. Er gibt ihm eine romanhafte Form – mit Charles als Hauptfigur und Ich-Erzähler.

QUÉ SÉRA DEL VERANO findet sich so innerhalb des in den letzten Jahren zunehmend florierenden Feldes des „First Person Cinema“ in der Gesellschaft jener Filme wieder, die das auktoriale Ich mit der Fiktion unmittelbar zusammendenken. Anstatt die doppelte Position, die jeder autobiografischen Äußerung eigen ist, zu vertuschen – also die Tatsache, dass Filmemacher*innen immer gleichzeitig Autor*innen wie Figuren ihrer Filme sind – wird diese als Ressource erst produktiv gemacht, etwa in Form von Selbstreflexionen, Inszenierungen oder auch Momenten, die das Ich als verlässliche Quelle des Texts in Frage stellen. In QUÉ SÉRA DEL VERANO sind die autofiktionalen Mittel subtil in die Text-Bild-Montage eingewebt. Etwa wenn die beiden Erzählerfiguren immer wieder spiegelbildlich aufeinander bezogen werden. So wie Ceroi anfangs erklärt, alles filmen zu wollen, so erklärt auch Charles nach seiner Ankunft in Kamerun alles erblicken zu wollen: „Ich dachte mir: Ich werde alles sehen, was ich kann.“ Die Rolle des Erzählers hat er inzwischen vollständig angenommen.

Während sich in Frankreich die Proteste der Gelbwesten zuspitzen und Ceroi im Tränengasnebel seine Kamera auf die Konfrontationen zwischen Demonstrierenden und Polizei richtet, wird Charles immer mehr zum aktiv teilnehmenden Beobachter der politischen Erschütterungen in Kamerun.

Mit dem Schauplatzwechsel von Frankreich nach Kamerun quillt das Erzählmaterial regelrecht auf. Vom beiläufigen „Mitfilmer“ seines häuslichen Umfelds wandelt sich Charles zu einem Dokumentaristen einer ihm fremden Außenwelt. In seinem Blick, der sich anfangs auf das unübersichtliche Treiben auf den Straßen von Yaoundé richtet (er filmt meist aus dem Auto heraus), mischt sich ein touristisches Interesse mit einer quasi-ethnografischen Perspektive. Seine Position als Weißer aus dem Land der ehemaligen Kolonialmacht bleibt dabei zunächst ein irritierend blinder Fleck. Bei Abendgesellschaften in der Botschaft oder bei einem Auftritt eines französischen evangelikalen Priesters, der die Gemeinde in ekstatische Zustände versetzt, mischt sich die Kamera so unbefangen und körperlich nah unter die Menschen, dass auch der Filmemacher sich wundert: „Wie kommt es, dass er in einem Land, das die kolonisierenden Franzosen hasst, so frei filmt? Wie kommt es, dass er dazu die Nerven hat? Wie kommt es, dass er so mutig ist, sich an diese Orte zu begeben, wo er der einzige Weiße ist? Ist das nicht eine weiterentwickelte Form des Kolonialismus?“ Die Frage nach der Selbstverortung als Weißer in der postkolonialen Gegenwart geht über die Figur Charles weit hinaus. Sie eröffnet auch eher einen Resonanzraum, als nach Antworten zu verlangen.

Während sich in Frankreich die Proteste der Gelbwesten zuspitzen und Ceroi im Tränengasnebel seine Kamera auf die Konfrontationen zwischen Demonstrierenden und Polizei richtet, wird Charles immer mehr zum aktiv teilnehmenden Beobachter der politischen Erschütterungen in Kamerun. Er zeigt sich mehr und mehr betroffen von dem drohenden Bürgerkrieg zwischen Separatisten und den Sicherheitskräften der Regierung, außerdem macht er die Bekanntschaft einer Frau, die mit Vorträgen über Natur und persönliches Wachstum durch den Süden Kameruns tourt. Charles beginnt nicht nur, ihre Lectures für sie zu filmen. Auf der Suche nach ihrem Sohn, der sich einer Miliz angeschlossen hat, begibt er sich bald tief in den Dschungel hinein. Bis er sich irgendwann fragt, ob er nicht vielleicht ein „pathetischer und fetter Indiana Jones“ sei. Als er nach dem Abenteuertrip die Korrespondenz plötzlich abbricht, ist er auch aus dem Film verschwunden.

Erzählungen fließen ineinander

Wie genau sich QUÉ SÉRA DEL VERANO zum „Spiel mit der Imagination eines fremden Lebens“ verhält, das Ceroi zu Beginn des Films angekündigt hatte, bleibt gewollt ambivalent. Die beiden Erzählebenen des Films stehen in ständiger Kommunikation miteinander, ihre Grenzen sind durchlässig. Tatsächlich gleitet der Film mehr in das Leben dieses unbekannten Mannes hinein, als es sich mit einer offensichtlichen Geste der Aneignung zu greifen. Die gemeinsam benutzte Kamera und das Teilen der Bilder binden die zwei Figuren und ihre Erzählungen wie mit einem Faden zusammen. Auch visuell fließen die beiden Erzählungen ineinander. Irgendwann hat man das Gefühl, dass sich Ceroi die Ästhetik von Charles zu eigen macht, sich dem fremden Material regelrecht anverwandelt. Sein Stil, oder vielmehr die scheinbar völlige Abwesenheit von Stil, macht nicht zuletzt die schwer zu beschreibende Wirkung der Bilder aus. Hier hat keiner Anstrengungen unternommen, ansprechende Home-Movie-Szenen zu drehen, die Kamera wirkt oft wie abgestellt und vergessen, die Perspektiven sind mitunter gekippt. Die Gedankenlosigkeit, mit der Charles die Kamera einfach weiterverkauft hat, ohne das Material zu löschen, ist auch in den Bildern spürbar, gleichzeitig spricht aus ihnen Interesse und Empathie – und eine leichte Melancholie. Das Nachwirken seines Blicks ist noch in Charles Abwesenheit gespensterhaft spürbar. Am Ende filmt Ceroi eine Katze, so wie Charles immer wieder seine Hunde gefilmt hat. Er wird zum Ghostwriter im Wortsinn.

 

Esther Buss lebt in Berlin und arbeitet als Filmkritikerin. Veröffentlichungen u. a. in: kolik.filmTexte zur KunstJungle World und Filmdienst.

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