Direkt zum Seiteninhalt springen

Bäume und Berge rauschen an einem vorbei. Gefilmt wird aus einem Zugfenster im schmalen Academy Format, in der Spiegelung ist eine kleine Filmcrew zu sehen. Die Fahrt geht nach Leshan, einer Stadt in der Provinz Sichuan. Die Dauer der Einstellung von zehn Minuten versetzt mich in einen aufmerksamen Dämmerzustand, wie wenn man tagsüber mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegt und sich im Kopf Gedanken ungeordnet aneinanderreihen.

Time present and time past
Are both perhaps present in time future,
And time future contained in time past.
If all time is eternally present
All time is unredeemable.
What might have been is an abstraction
Remaining a perpetual possibility
Only in a world of speculation.
1

SICHUAN HAO NUREN (THE GOOD WOMAN OF SICHUAN) schaut der Zeit beim Vergehen zu. Ein kontemplativer Film, der nicht nur auf eine große Leinwand, sondern auch auf einen abgedunkelten Saal mit Sesseln und das vorgegebene Zeitfenster der Projektion angewiesen ist, um sich entfalten zu können. Wer sich diesem »Zwang zur Wahrnehmung« (Lars Henrik Gass) hingibt, wird mit einem Gefühl von „Vergegenkunft“ belohnt, Zukunft und Vergangenheit kulminieren in der Gegenwart.

Eine junge Frau schläft auf einer Fensterbank. Wie ein junger Hund, der gerade gestreichelt wurde, liegt sie auf dem Rücken, ihren Kopf zur Seite gedreht. Nicht nur die Dauer, auch die präzise Kadrage der Bilder erzeugt Spannung und transzendiert die gefilmten Alltagsbeobachtungen. Undramatische Handlungen werden im Kino selten gezeigt, dabei machen sie einen Großteil des Lebens aus: schlafen, Haare schneiden, Spazierengehen, miteinander plaudern. Im Innenhof einer Wohnanlage stupst die Frau mit ihrem Fuß Pedale eines Outdoor-Beintrainers an und betrachtet, wie diese hin- und herschwingen. Wie in einem Haiku verweist jedes Bild des Films nur auf sich selbst. Gerne überlasse ich mich den Evidenzen, die von keiner Bedeutungslast erdrückt werden, mir Raum für eigene Überlegungen und Erinnerungen geben.

What might have been and what has been
Point to one end, which is always present.
Footfalls echo in the memory
Down the passage which we did not take
Towards the door we never opened
Into the rose-garden. My words echo
Thus, in your mind.
But to what purpose
Disturbing the dust on a bowl of rose-leaves
I do not know.

Other echoes
Inhabit the garden. Shall we follow?
2

Aus dem Dialog im Off erfahre ich, dass eine Schauspielerin für ein paar Tage eine Freundin besucht und auf der Suche nach Inspiration für eine freie Theaterproduktion ist. Sie soll Shen Te in „Der gute Mensch von Sezuan“ spielen, einem Text an dem wohl auch in China niemand in der Schule vorbeikommt. Zusammen mit seinen beiden Mitarbeiterinnen, Ruth Berlau und Margerete Steffin, benötigte Brecht bis zur Fertigstellung des Parabelstücks ganze 27 Anläufe und insgesamt zwei Jahre. „Sezuan“ – die fiktive Hauptstadt der Provinz Sichuan – sollte idealtypisch für einen Ort stehen, wo „Menschen von Menschen ausgebeutet werden“. So lautete eine Anmerkung im Programmheft, die Brecht dem Text bei der Uraufführung 1943 im bourgeoisen Zürich voranstellte. Nach Gründung der Volksrepublik China 1949 befand er, dass die Provinz Sichuan nicht mehr zu diesen Orten gehörte. Und heute?

Obwohl die Parabel in einer fiktiven Stadt angesiedelt ist, kam der Filmemacherin Sabrina Zhao der Kosmos immer vertraut vor. Für die Dreharbeiten reiste sie von Kanada, wo Zhao Filmproduktion studiert, zurück in ihre Heimatstadt Chengdu – die tatsächliche Hauptstadt der Provinz Sichuan – und beschloss zusammen mit ihrer Kamerafrau Sherry Wu den Drehprozess ins nahgelegene Leshan zu verlegen, ein Ort, der den beiden bis dato fremd war. In dem Film sind von dieser Drei-Millionenstadt nur Ausschnitte zu sehen. Zhao und Wu ließen sich nicht von neuen, überraschenden Eindrücken mitreißen, sondern suchten im Unbekannten das Bekannte auf. Vielleicht gelingt es ihnen über diesen Umweg gewöhnlichen Orten, wie dem schattigen Grünstreifen auf der Hofseite einer Wohnanlage, etwas eigenartig Entrücktes einzuschreiben.

Die globalisierten, kapitalistischen Leistungsgesellschaften setzen Menschen mit Konkurrenzdenken und Effektivitätszwang unter Druck. Bei sich zu sein ohne eigennützige (oder überhaupt eine) Absicht, wäre demnach eine Provokation.

Vielleicht muss man aber auch zum tieferen Verständnis des Films und seiner ästhetischen Strategie den gesellschaftlichen Kontext außerhalb des Kinos mit in Betracht ziehen. Die globalisierten, kapitalistischen Leistungsgesellschaften setzen Menschen mit Konkurrenzdenken und Effektivitätszwang unter Druck. Bei sich zu sein ohne eigennützige (oder überhaupt eine) Absicht, wäre demnach eine Provokation. An der Wand in Bertolts Brechts Arbeitszimmer hing eine Maske mit Goldlackierung, japanisches Holzwerk. Sie bildete einen bösen Dämon ab. Brecht notierte in sein Arbeitsheft: „Die geschwollenen Stirnadern deuten an, wie anstrengend es ist, böse zu sein.“ So gesehen wäre SICHUAN HAO NUREN eine subversive filmische Aktion, die einem die bösen Falten zumindest eine Zeitlang von der Stirn zu vertreiben vermag.

Alle von mir besuchten Bühnenaufführungen von „Der gute Mensch von Sezuan“ waren herbe Enttäuschungen. Die Theatererlebnisse blieben weit hinter meinem Leseeindruck zurück. Ausagiert, blieb es papieren und rhetorisch, obwohl der Text ja weniger ein Lehrstück als ein Hybrid ist. Eine wilde Mischung aus Melodram und Komödie, die chorische Elemente aus der griechischen Tragödie ironisch aufgreift und viele Gestaltungsmöglichkeiten anbietet. Als sich im Jahr 2008 die Berliner Obdachlosentheatergruppe RATTEN 07 der Sache annahm, präsentierten die vornehmlich männlichen Spieler ihre vom Leben auf der Straße gezeichneten Körper lustvoll im Rampenlicht. Mit großer Leidenschaft betrieben sie einen anarchischen Spaß. Die zum Großteil bürgerlichen Zuschauenden wohnten einem solidarischen Kraftakt bei und staunten nicht schlecht über die produktiven Funken, die der Aufprall der ausgeklügelten Spielanordnung Brechts auf den Erfahrungsraum der Erniedrigten und Beleidigten entzündete.

Zum Ende von Sabrina Zhaos Film: brüllendes Gelächter von sechs jungen Männern im Smoking. Zum Junggesellenabschied müssen sie in absurden Kraftproben ihre Männlichkeit beweisen. Die Kamera wackelt, wohl eine dokumentarische Handy-Aufnahme. Aufgrund des ruhigen dahinfließenden Vorlaufs wirkt dieses Intermezzo wie ein Horrorfilm, eine böse Farce. Erst jetzt wird mir die Abwesenheit von Männern den ganzen restlichen Film über bewusst. Eine Landstraße inmitten eines Waldes. Wie Furchen in einem alten Gesicht ziehen sich tiefe Risse über den grauen Asphalt. Die Schauspielerin spaziert mit einem Regenschirm am Straßenrand entlang. Eine zweite Frau, vielleicht ihre Freundin, folgt ihr. Beide tragen Sommerkleider. Nach einiger Zeit hält ein Auto und der Fahrer spricht die beiden an. Glaubt er, dass sie Sexarbeiterinnen sind? Die beiden Frauen winken ab, wollen unter sich bleiben und spazieren weiter durch das Dickicht des Waldes an das Ufer eines Flusses.


I am awake but can’t move.

Nailed to the bed.

I can’t open my eyes. 3

Im Off berichtet die Schauspielerin ihrer Freundin von einem Traum und versucht ihn zu deuten. Während sie schlief, kam jemand ins Zimmer und legte sich auf sie. Sie versuchte sich zu wehren, doch konnte ihren Körper nicht bewegen. Der Mann hatte Sex mit ihr. Als sie ihre Augen nach der Vergewaltigung wieder öffnen konnte, sah sie vor sich keinen Erwachsenen, sondern einen zehnjährigen Jungen. Helle Klänge legen sich über die Bilder, etwas Bedrohliches schleicht sich in den Film ein. Die Theaterschauspielerin verkörpert eine Katze, miaut laut auf, leckt ihre Hände wie Pfoten und rezitiert dabei einen Monolog von Shen Te.

Für Brecht war der V-Effekt eine soziale Maßnahme. Er wollte den „einzelnen typus und seine handlungsweise so bloßlegen, dass die sozialen motoren sichtbar werden, denn nur ihre beherrschung liefert ihn dem zugriff aus. (…) die stellung des individuums in der gesellschaft verliert ihre ‚naturgegebenheit‘ und kommt in den brennpunkt des interesses“.4 Die Neuinszenierung, von der die Schauspielerin in Zhaos Film erzählt, soll ganz anders werden: abstrakt und fluid. Die Theaterregisseurin arbeitet mit Improvisation. Für die erste Probe soll jede Performerin sich ein Tier aussuchen, das sie darstellen möchte. Auch SICHUAN HAO NUREN ist während des Drehprozesses gemeinsam entstanden. Die Crew hat sich treiben lassen und zum Glück darauf vertraut, dass sich der Produktionsprozess in den Film einschreibt.

In der letzten Einstellung findet eine auf der Parkbank liegen gelassene Mütze nicht ihre Besitzer, ein Junge aber seine Eltern wieder. Munter hüpft er auf dem Schoß seines Vaters auf und ab. Der Film vermag diesen Zustand zwischen Wachen und Schlafen zu evozieren, dem es gelingt Verknüpfungen zu stiften, die nichts abschließen, sondern Neues eröffnen.

 

Nicolas Wackerbarth arbeitet als Filmemacher, unterrichtet an Filmhochschulen und ist Mitherausgeber der Filmzeitschrift Revolver.

 

1T.S. Eliot: Burnt Norton, Four Quartets, New York, Harcourt Brace and Company, 1943, S 43

2Ebd. S. 43

3Untertitel aus SICHUAN HAO NUREN von Sabrina Zhao

4Jan Knopf (Hg.): Brechts Guter Mensch von Sezuan, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1982, S. 16

Zurück zum Film

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur