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„Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“ (Theodor W. Adorno)

Eine Rückbesinnung auf eine Herkunftskultur – oder der Versuch einer Selbstbestimmung, die erst gelingen kann, wenn man mit seiner Vergangenheit Frieden schließt? Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich STE. ANNE geraume Zeit, ohne einer Richtung eindeutig den Vorzug über die andere zu geben. Auf jeden Fall handelt sich um einen Film mit biografischen Anleihen: Schon der Titel des Langfilmdebüts der Kanadierin Rhayne Vermette verweist auf die Stadt in der Provinz Manitoba, an dem sich einst ihre Familie niedergelassen hat. Noch vor jeder narrativen Engführung geht es um eine poetische Evokation: Vermettes Film ist eine Ode an das Land ihrer Vorfahren, die wie sie selbst Angehörige der Métis sind, einer ethnischen Minderheit, die Ende des 18. Jahrhundert aus der Vereinigung von französischstämmigen Siedlern und indigenen Bevölkerungsgruppen hervorgegangen ist.

Das Land, gleichermaßen Anschauungsobjekt wie „Seelenzustand“, erscheint im Film so nah wie entrückt. Nah, weil es sich für Vermette um ein vertrautes Umfeld handelt, eine Landschaft, die sie nur allzu gut kennt; entrückt, weil die Landschaft in STE. ANNE kein realistisches Setting bietet, durch das sich die Protagonist*innen gewohnheitsmäßig bewegen. Vielmehr wird sie hier von Anfang an entfamiliarisiert: Schon die ersten Aufnahmen des Films, an der Schnittstelle zwischen Tag und Nacht gedreht, lassen die Zuschauer*innen eine Art Schwelle passieren, eine twilight zone betreten. Man betrachtet gemäldeartige Bilder einer steppenähnlichen Natur mit mächtigen Wolkenformationen, dazu erklingt Vogelgezwitscher und ein zurückhaltender Ambient-Sound, der kurz bedrohlich anschwillt.

Narbe im Familiengefüge

Die Frau, die eines dieser Bilder müde durchschreitet, heißt Renée. Sie kehrt Jahre nach ihrem mysteriösen Verschwinden zurück zu der Siedlung, wo auch ihre Tochter Athene lebt, die inzwischen von Renées Bruder Modeste und seiner Frau Eleanor wie ihr eigenes Kind aufgezogen wurde. Bevor wir noch etwas von Renées Motiven erfahren, richtet sich Athene an ihre verschollen geglaubte Mutter – in einem intimen Voiceover-Monolog gibt sie der Hoffnung Ausdruck, ihr endlich näherkommen und die Geister, die diese umtreibt, nun auch mit ihr teilen zu können.

Vermette bettet diesen inneren Monolog von Athene in eine Szene kommunaler Gemeinsamkeit ein, auf Szenen dieser Art kommt der Film immer wieder zurück: Menschen, die sich rund um ein Lagerfeuer versammelt haben, ein Folk-Song wird gesungen; Menschen, die sich bei Tisch versammeln. Nach dem atmosphärisch uneindeutigen Beginn überwiegt nun die Freude des Wiedersehens. Die Trennung hat jedoch eine Narbe im Familiengefüge hinterlassen – nicht zuletzt wird Athenes Selbstverständnis herausgefordert. Hat sie nun zwei Mütter, hat sie also „einfach nur Glück“, wie sie das einmal gegenüber einer Freundin formuliert?

Sowohl für ihre Mutter Renée als auch für sie selbst führt die Wiedervereinigung zum Versuch, die eigenen Wurzeln besser kennenzulernen. Vermette erzählt diesen Prozess einer Annäherung und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit allerdings nicht mit dem Regelwerk einer Fiktion, die auf Konventionen zurückgreift. Man sieht zwar wiederholt, wie Mutter und Tochter gemeinsam durch Familienalben blättern, doch gleich in der ersten dieser Szenen tritt der abgebildete Vater selbst als transparenter Geist in den Bildausschnitt. Unheimlich ist dies nicht: Er verspeist gerade einen Apfel und blickt dabei freundlich auf die anderen hinunter. Man kann die Szene als erstes Indiz dafür nehmen, dass es in STE. ANNE mehr um ein Nebeneinander geht: um Bilder, die Erinnerungen, Visionen oder Anschauungen sein können oder mehreres davon zugleich, die aber eben nur selten realistische Dokumente sind.

Fotografien haben als Artefakte im Film einen besonderen Stellenwert. Renée besitzt eine zerknitterte alte Aufnahme eines in Ste. Anne gelegenen Grundstücks, das sie erworben hat, und wo sie sich gerne einmal niederlassen würde. Das Bild ist Sehnsuchtsobjekt und zugleich ein Handorakel, das ihr den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft anzeigt – wobei ihr Vorhaben nur über den Umweg der Erfüllung einer mythischen Prophezeiung möglich scheint. Athene wiederum heftet das Foto ihrer Mutter aus dem Familienalbum an die Wand. Wenn sie es berührt, scheint dies eine chemische Reaktion auszulösen, die das Filmbild zum Erzittern bringt und in Form von wechselnden Farbnuancen scheinbar eine innere Intensität des Bildes, sein affektives Potential aktiviert.

Physische Verwobenheit von Bild und Welt

Das fotografische Bild (auf filmischem Trägermaterial) unterhält nach dem Semiotiker Charles S. Pierce eine indexikalische Verbindung zur Wirklichkeit. Es ist ein physisches Zeichen, ein Lichtabdruck und zugleich das Ergebnis einer medialen Übertragung. Vermette schließt mit ihrer Arbeit bewusst an diese physische Verwobenheit von Bild und Welt an. Sie geht sogar noch darüber hinaus, wenn sie dem Bild eine Magie zuschreibt, einen Überschuss oder Rest von Transzendenz, die dem bloßen Auge verborgen bleiben muss. Horrorfilme (man denke nur an das schreckliche Foto des Mädchens am Anfang von Nicholas Roegs DON’T LOOK NOW) haben sich diese mysteriöse Aufladung von Bildern wiederholt zu eigen machten. In STE. ANNE geht es allerdings mehr um ein spirituell-kosmisches Flackern, um die Koexistenz unterschiedlicher Zeit- und Seinsebenen. Bilder erscheinen am ehesten in der Lage zu sein, an das zyklische Prinzip der Kultur der Métis anzuschließen. Die Zeitebene des Films bleibt daher bewusst unklar, Vergangenheit und Gegenwart scheinen sich zu überlagern; zugleich ist die Kamera für Vermette aber immer schon selbst das Medium, um sich in der Gegenwart in ein Verhältnis zu diesen Traditionen zu setzen. Dass sie selbst in der Rolle von Renée zu sehen ist (und diverse Familienmitglieder auftreten), verleiht dieser künstlerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunftsgeschichte noch zusätzlich Dringlichkeit.

Essenziell für Vermettes ästhetischen Zugang ist der Rückgriff auf das filmische Trägermaterial. Sie dreht mit einer Bolex-Kamera auf 16mm und bezieht sich schon mit dieser Praxis auf Methoden des Experimental- beziehungsweise Avantgardefilms; in Interviews erwähnt sie etwa den Kitzel, der daraus resultiert, dass man nie ganz mit Sicherheit weiß, wie das fertig entwickelte Bild am Ende aussehen wird. In ihren Kurzfilmen hat sie noch ausdrücklicher die Materialität des Films zum Thema gemacht, beziehungsweise die Fiktion selbst an die Flüchtigkeit des Mediums zurückgebunden. In LE CHÂSSIS DE LOURDES (2016), der mit STE. ANNE am stärksten korrespondiert, reflektiert sie ihre Flucht aus dem Familienverbund und arbeitet dann, gleichsam aus der neu gewonnenen Distanz, die Filme und Fotografien durch, die ihr Vater mit einer Kamera gedreht hat, die er an sie weitergegeben hat.

 

Kurzfilm LE CHÂSSIS DE LOURDES (2016) von Rhayne Vermette

Kurzfilm LE CHÂSSIS DE LOURDES (2016) von Rhayne Vermette

Mittels einer fließenden, gleichwohl hochfrequenten Montage erzeugt sie mit den Aufnahmen aus dem Haus ihrer Kindheit einen Sog, der mit Hilfe des Mediums Film jenen imaginären Ort dekonstruiert, den man gemeinhin als „home“, also gleichermaßen als Heim und Haus, bezeichnet. Erinnerung wird als Konstruktion kenntlich gemacht und das private Umfeld, das man noch einmal in Bildern durchschreitet oder vielmehr durchscannt, zu einem kollektiven Raum erweitert. Indem Vermette das Filmmaterial, die einzelnen Kader, die Tonspur und die Perforation des Filmstreifens, sichtbar macht, kehrt sie auch die semantischen Einheiten nach außen. Sie rearrangiert und animiert (bis in die Bearbeitung der Einzelkader) das Ausgangsmaterial, nicht zuletzt über den Sound, indem sie von Wortzitaten über Songs und Chansons bis zum knarzenden Störgeräusch alle Register zieht.

LE CHÂSSIS DE LOURDES ist als (Rück-)Aneignung und Erweiterung der eigenen Familiengeschichte dennoch ein anders gepoltes home movie als STE ANNE. Denn erst ihr Langfilm stellt die Frage danach, wie sich die Zugehörigkeit zu einer traditionellen, aber bereits fragmentierten Kultur mit den individualistischen Ansprüchen einer modernen Frau vereinen lässt. Statt einer fortschreitenden Handlung zu folgen, erstellt Vermette Passagen, die sie dann mit einer dem Sampling ähnlichen Methode aufeinander bezieht (den HipHop-Künstler und Produzenten Madlib bezeichnet sie als eines ihrer Vorbilder). Motive werden angestimmt, treten in Hintergrund und werden später wieder aufgegriffen. Eines ist die matriarchale Struktur der Métis-Gemeinschaft, die sich bereits früh im Film im geselligen Miteinander zeigt, bei dem Anekdoten über die Vergangenheit ausgetauscht werden. Besonders eindringlich gerät jene Sequenz, in der die Frauen in anachronistischen Kostümen als Nonnen mit einbandagierten Gesichtern von Haus zu Haus gehen. Glaubt man sich zuerst in einem Horrorfilm, wird das Szenario später als Ritual ausgewiesen, das mit dem ausgelassenen Festessen der erbeuteten Delikatessen endet – ein rebellischer Akt, der unter den Frauen Gemeinsamkeit stiftet.

Metaphysik in Bewegtbildern

Vermette bettet solche Passagen in impressionistische Landschaftspanoramen, in denen die Natur (und ihre spirituellen Kräfte) in der Materialität des Films zu einer eigenständigen Gegenwart gelangen. Die Aufnahmen von kargen Herbstwäldern, winterlichen Schneelandschaften und Flüssen, die fragile Texturen und changierende Farbintensitäten aufweisen, funktionieren nicht einfach nur als poetische Einschübe. Sie bilden vielmehr den größeren Resonanzraum für die Veränderungen, die sich im Familiengefüge anbahnen. Wiederholt sieht man die Großmutter, die in die Nacht hinausblickt, auf den Mond und einen streunenden Hund, als sähe sie darin ein Vorzeichen. Die Natur hat eine somatische Qualität, die sich auch im Korn der 16mm-Bilder manifestiert oder den Farbschleiern, die die Bilder umzüngeln – ein Effekt, der durch das komplexe Sounddesign noch gesteigert wird. Einmal tauchen faltige Hände in ein Gewässer ein, was auf der Tonebene eine Kettenreaktion auszulösen scheint. Wenn sich Eisblumen auf Fenstern, verzierte Emaille und das Kringelmuster auf einem Gewässer zu einem figurativen Reigen zusammenfinden, dann erzählt das auch von einem kosmischen Dach über den Menschen und Dingen.

Davon zeugt auch jene hervorgehobene Szene, in der die Immanenz dieser Gemeinschaft – man fühlt sich an einen Film von Apichatpong Weerasethakul erinnert – im Film am deutlichsten zutage tritt: Wie in einem Tagtraum erklimmt Renée in Zeitlupe zuerst eine Anhöhe, auf der Zelte stehen. Danach leuchten die Hörner eines Stieres im Dunklen, er schnauft wie eine Naturgottheit, während Renée von ihrer Vorahnung eines kommenden Unheils erzählt. Habe es diese Bilder geschaffen, fragt sie das Wesen. Oder ist dieses nur das traurige Ergebnis eines anderen, also selbst Repräsentation?

Das bleibt in STE. ANNE natürlich in der Schwebe; aber unweigerlich denkt man bei diesen Fragen auch an die Regisseurin selbst, die eigentliche Urheberin dieser Metaphysik in Bewegtbildern. Renées Weg in die Eigenständigkeit ist nicht nur um den Preis des Bruchs mit der Herkunftskultur zu haben. Das Ansinnen, sich mit Athene auf eigene Beine zu stellen, führt sie paradoxerweise näher an die eigenen Wurzeln heran. Entscheidend aber bleibt das Medium Film, das den Boden bereitet für die Aussöhnung der gegensätzlichen Welten: ihrer Lebensrealität und des spirituellen Raums der Familientradition. Dieses erst verleiht dem magischen Denken eine Form.

 

Dominik Kamalzadeh ist Kulturredakteur der Wiener Tageszeitung Der Standard und Redaktionsmitglied der Filmzeitschrift Kolik.Film. Er lebt in Wien.

Vimeokanal von Rhayne Vermette

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