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Im Oktober 2018, in einem Jahr voll überwältigender politischer, persönlicher und existentieller Veränderungen, beschloss ich, ein Filmtagebuch zu drehen. Ich wollte mich von der Kinopraxis des ständigen Projizierens und Repräsentierens befreien und ein lebendiges Kino finden, das den außergewöhnlichen Alltag des Lebens widerspiegeln könnte – all das, was normalerweise an den Rändern des Films verbleibt. Ich fand mich mehr und mehr auf der Suche nach etwas, das ich ein „Kino der Erscheinungen“ nennen würde, im Gegensatz zu einem „Kino der Darstellungen“. Ohne Drehbücher und Projektionen würde die Kamera zu einer Komplizin bestimmter Momente des Lebens werden, die auf dem Zelluloid gespeichert blieben, bis sie enthüllt würden. Eine Art Stoffwechsel des Bildes, innerhalb dessen die Praxis des Filmens nicht mehr, als ein zentraler metabolischer Vorgang wäre. Die Bilder würden so lediglich Energien einfangen – spektrale, historische, emotionale – und sie in Form visueller Darstellungen speichern.

Mit diesen Ideen im Hinterkopf habe ich in den letzten Jahren in einer Reihe von kurzen filmischen Ritualen diese kleinen Lichtblitze gefilmt, die den Moment festhalten, in dem Zelluloid auf das Leben trifft. Es ist zu einer nicht sehr regelmäßigen und ziemlich instinktiven Praxis geworden. Im Jahr 2020 realisierte ich meinen ersten Film aus den ursprünglich für das Tagebuch aufgezeichneten Bild-Ritualen. Zu meiner Überraschung wurde der Film zu einem ersten Metamorphose-Ritus. In PSEUDOSPHYNX (2020) wurde ein erschütterndes politisches Ereignis [die Wahlen von 2018, bei denen die extreme Rechte in Brasilien an die Macht kam] durch das Auftauchen eines Dutzends Feuerraupen durchschnitten, die sich darauf vorbereiteten, sich in „Hexen“ zu verwandeln und damit auch den gesamten politischen Horizont mit ihrem animalischen Zauber zu verwandeln, indem sie die von mir durchquerten Orte miteinander verknüpften: Paris, Brasília, das Pyrenäengebirge und Lissabon.

Der Film wurde zu einer kurzen und intensiven Trance, in der der Alltag durch einen magischen Akt in ein Ritual verwandelt wird. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass Magie nichts anderes ist als die Verwandlung dessen, was wir „real“ nennen, in etwas, das vorher nicht da war (obwohl es vielleicht verborgen, schlummernd oder unsichtbar gewesen ist, bevor der magische Akt – das Ritual – stattgefunden hat). Heute denke ich, dass diese Tagebücher vielleicht eine Art magische Übung im Alltag sind, à la Bruce Baillie, würde ich später denken.

Ich fand mich mehr und mehr auf der Suche nach etwas, das ich ein „Kino der Erscheinungen“ nennen würde, im Gegensatz zu einem „Kino der Darstellungen“.

Damals, zur Zeit dieser alltäglichen magischen Übungen, nahm ich die Einladung von Garbiñe Ortega an, anlässlich der Ausstellung „Somewhere from here to heaven“ über den von mir sehr geschätzten Bruce Baillie nachzudenken, sein Andenken zu ehren und zu filmen. Mit seiner Großzügigkeit, Poesie und Geselligkeit verwandelte Bruce das Kino einer avantgardistischen und intellektuellen Generation in ein körperliches, intimes und fast journalistisches Kino. Ein Kino, das „die erste Person“ nicht verleugnet. In seinen Filmen ist Bruce immer „da“, genau dort, wo seine Figuren sind: Zäune, Cowboys, Indigene, Bienen, Esel, Kinder, Briefe oder Motorräder, er bleibt immer „bei dem, was er filmt“. Wenn ich über Bruce nachdenke, glaube ich, dass dies seine herausragendste Eigenschaft ist: die Fähigkeit, sich der Welt, die er filmt, hinzugeben, jedes Bild, jeden Ort, jeden Eindruck zu verkörpern.

Die Rationalität des letzten Jahrhunderts lehnt ein „Kino in der ersten Person“ zugunsten der Distanz als privilegierte Form der Existenz und der Beobachtung der anderen und der Welt entschieden ab.

Für diesen neuen Film berufe ich mich auf die historische Synthese des perfekten Dramas ALL MY LIFE, auf die Trauer und das Lamento von MASS FOR THE DAKOTA SIOUX, auf die Liebe zu einem tanzenden Körper von TUNG, auf das mystische Porträt von MR. HAYASHI, bis hin zur unmöglichen Grenze von VALENTIN DE LAS SIERRAS und zum Wunsch, die westliche Grenze im aufklärerischen QUIXOTE zu überwinden. All diese Filme scheinen mit dem im Entstehen begriffenen A ÁROVRE (Der Baum) zu verschmelzen, einem rituellen Film über meinen Vater, den Künstler, Musiker und Mystiker des Waldes, Guilherme Vaz, einen Mann, der ebenfalls an der Grenze lebte und über den fatalen Vormarsch der Moderne gegenüber den Völkern der Erde nachdachte, einen Mann, der instinktiv Musik schrieb, der das Kino als seinen „spirituellen Vater“ betrachtete und dessen größtes Werk, sein gelebtes Leben war. Ich zitiere hier eine Passage aus einem sehr schönen Text, den er im Frühjahr 2007 in Rio de Janeiro schrieb, „Três ventos: dois vácuos e uma espada“:

1.    Das Kino als Kampfsport

Zwischen zwei Winden gibt es eine Leere. Der Blick des Schwertes gleitet durch sie hindurch. Dies ist die Bewegung, die die Ausrüstung des Kinos bedingt, noch vor der Entstehung der Dinge. Wir sagen, dass das Kino vor allem anderen existiert, denn es gab schon immer einen Wind zwischen zwei Leeren oder eine Leere zwischen zwei Dingen und eine weit verbreitete archaische Philosophie. Zwischen zwei Köpern oder zwei Winden liegt das ursprüngliche Territorium des Blicks und die Vorstellung vom filmischen Sturm, vom sehenden Geist. Wenn der Geist um die Objekte kreist, sieht er sie nicht. Das tut er nur, wenn er in die Leere eintritt, die sie besitzen. Zukunftsweisend. Ein Objekt kann eine Gesellschaft sein und muss eine Leere in seinem Zentrum haben. Je kompakter das Objekt ist, desto verborgener ist die Leere. Aber sie besitzen sie alle. Um diese Bilder in einer einzigen Geste zu vereinen, muss man wissen, wie man die Leerstellen zusammenklebt. Die verbundenen Leerstellen bilden eine einzige Geste, in der der Krieger einen vollen Schwung mit seinem langen Schwert in einem einzigen Kreis ausführt. Die Abfolge dieser Kreise der Enthauptung, der Evakuierung und der Taufe ergibt eine Abfolge von Bedeutungen, Quipos, aus dem Werk.

Und so wird geboren:

A ÁROVRE: ein Meditationsfilm in 30-Sekunden-Sequenzen, der Geografien, Zeiten, Lebende und Tote mit einem metallenen Schwert verbindet – der Montage, die Leerstellen und innere Anwesenheiten in den Sequenzen verbindet.

A ÁROVRE: ein Film über die Metamorphose eines Riesen.

A ÁROVRE: ein Dialog mit dem Vater durch die Leeren.

A ÁROVRE: orbitale Ebenen, die versuchen, die Orte zu verbinden, die wir durchquert haben und die unsere Vorfahr*innen durchquert haben könnten.

A ÁROVRE: Rio de Janeiro, Brasília, Porto, Lissabon, Belém.

A ÁROVRE: ein Porträt des Vaters, der nicht da ist und doch da ist.

A ÁROVRE: das Kino filmt Abwesenheiten, es ist grundsätzlich phantasmagorisch.

A ÁROVRE: den Spuren folgen, auf die Bewegung und Metamorphose aller Dinge vertrauen.

A ÁROVRE: ein Kapitel eines langen lebenden Filmes, der neben all den anderen läuft, der mit den Geistern geht.

A ÁROVRE: Kino des Schwertes, Kino als Kampfkunst.

A ÁROVRE: wenn der Reisende den Weg schon kennt, dann deshalb, weil er sich verlaufen hat.

A ÁROVRE: zweites Kapitel in einer Reihe von Gesten, die miteinander verbunden sind.

A ÁROVRE: ein Tagebuch, in dem die erste Person innerhalb und nicht außerhalb der Welt steht – das „Ich“ führt zur Welt und nicht umgekehrt.

A ÁROVRE: Kreuze, Abwesenheiten, Gespenster.

In A ÁROVRE versuche ich eher, meine Geister zu ehren als einen Fremden. Der Film ist keine Elegie auf Bruce Baillie, sondern eine Reflexion über alles, was seinem Werk zugrunde liegt: die Grenze, der Wunsch nach Begegnung, die Metamorphose, Amerika.

Ana Vaz, Paris, Juni 2022

Übersetzung: Tomke Braun

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