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Ein Jahrzehnt nachdem sich Yvonne Rainer als eine Schlüsselfigur der New Yorker Tanzavantgarde behauptet hatte, führte sie in den siebziger Jahren der Wunsch, narrative Möglichkeiten zu erkunden zum Medium Film. Ihr filmisches Werk setzt sich aus fünf Spielfilmen zusammen: LIVES OF PERFORMERS (1972), FILM ABOUT A WOMAN WHO ... (1974), KRISTINA TALKING PICTURES (1976), JOURNEYS FROM BERLIN/1971 (1980) und THE MAN WHO ENVIED WOMEN (1985). Diese Filme haben zwar eine scheinbar erzählerische Struktur, sind aber formal vielschichtiger, konsequenter und intellektuell fordernder als die meisten Independent-Filme. Sie erkunden Themen wie die oft gewaltsame Beeinflussung des Publikums durch eine Fiktion, die Schwierigkeiten der filmischen Repräsentation von Frauen und die Grenzen narrativer Codes. […]

Mitchel Rosenbaum: In letzter Zeit haben einige Kritiker*innen Ihre Arbeit mit der von Woody Allen verglichen. Wie denken Sie darüber?

Yvonne Rainer: Das trifft es eigentlich nicht richtig. Höchstens vordergründig. THE MAN WHO ENVIED WOMEN ist ein New-York-Film mit einer großen Portion Schlagfertigkeit, die natürlich Allens Spezialität ist. Aber der Rest des Films unterscheidet sich so stark von allem, was er drehen würde, dass mich dieser Vergleich abschreckt. Jim Hoberman hat darauf hingewiesen, dass das New York, das ich in diesem Film zeige, mit seinen heruntergekommenen Lofts und Armenvierteln, ein ganz anderes ist als Woody Allens gepflegtes New York in HANNAH UND IHRE SCHWESTERN mit seinen schönen Menschen und Upper West Side Apartments. Ich muss zugeben, dass ich für die Partysequenz zunächst ein schickes Apartment haben wollte. Als ich die Szene drehte, gab es da nur ein Korridor vor einer geschlossenen Tür, durch die man Stimmen hörte. Hätte ich mehr Geld gehabt, so hätte ich mich vielleicht für eine Art Luxuswohnung entschieden. Aber in gewisser Hinsicht bin ich froh, dass ich das nicht getan habe, denn darum ging es wirklich nicht. Der beengte Raum des Korridors war schlussendlich eine viel reichere Metapher.

Einige Leute haben ein Problem mit der Flachheit des Schauspiels in Ihren Filmen. Die Erzähler*innen in Ihren Filmen klingen zum Beispiel ziemlich monoton. Man könnte das jedoch auch als eine sehr selbstverständliche Art des Schauspiels ansehen, weil es die Art und Weise ist, wie Menschen in einer alltäglichen Unterhaltung sprechen, oder als Nicht-Schauspielen.

Nun, das ist ein Stil, den ich kultiviert habe.

Die Konventionen des narrativen Films bieten eine Möglichkeit, die Menschen anzusprechen oder ihnen Zugang zu dieser vertrauten Welt der Identifikation zu verschaffen, aber ich habe nicht das Gefühl, mich an diese Konventionen binden zu müssen.

Natürlich halten manche Leute das für unerfahrenes Schauspiel oder „bad acting“.

Ich habe Probleme mit dem so genannten bad acting, bei dem nichts im Film darauf hinweist, dass der Kunstgriff der Täuschung aufgedeckt werden soll. Genau hier mischt sich das bad acting ein. In JOURNEYS FROM BERLIN, wo der Text sehr verfremdet ist und es sich offensichtlich um eine Art surreale Aufführung handelt, ist Annette Michelsons verfremdete Darstellung durchaus passend. Der Schauplatz verrät, dass es sich nicht um einen realistischen Film handelt, so dass es gar nicht mehr darum geht, eine absolut glaubwürdige Darstellung zu betonen. Und trotzdem wird ein Charakter aufgebaut. Das ist das Erstaunliche am Film. Allein durch den Rahmen und den Fokus auf eine sprechende Person, entsteht eine Verbindung zum Publikum, und durch diese Illusion baut sich die Figur auf. Das funktioniert in beide Richtungen: Das Publikum, das sich identifiziert, ist bereits in die Konstruktion der Figur involviert. Das ist ein viel unmittelbarerer Prozess als auf der Bühne, wo es immer darum geht den Zweifel zu überwinden. Der Zweifel ist im Kino durch den dunklen Raum a priori aufgehoben. Es ist diese atavistische Beziehung zu einem Bild, die einige Theorien mit der frühesten Erfahrung des Säuglings an der Brust vergleichen, der die Schatten auf der Oberfläche der Haut der Mutter beobachtet. […]

In THE MAN WHO ENVIED WOMEN scheinen Sie sich dem Problem gestellt zu haben, mit dem politische Filmschaffende konfrontiert sind: Sie sprechen weniger zu einem Kreis von Eingeweihten, sondern weisen diese zurecht.

Ich lasse eine Tirade auf sie los.

Niemand von den Linken kommt ohne Ohrfeige davon. Vor allem Künstler*innen – zu denen Sie sicher auch gehören – kriegen eine Menge Prügel ab.

Künstler*innen werden im urbanen Raum als gefährdet angesehen, während sie in anderen Bereichen versuchen, zukunftsweisend zu arbeiten. Meiner Meinung nach ist dies die Situation, in der sich New Yorker Künstler*innen heute befinden. Ich musste dieses Problem aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: politischer Aktivismus, Wohnen und Feminismus.

Ich habe die männliche Figur absichtlich zu einem Feministen gemacht, um zu zeigen, wie eine scheinbar aufgeklärte Position eigentlich wieder nur für die eigene Profilierung genutzt werden kann.

Und wie steht es heute um den Feminismus? In diesem letzten Film scheinen Sie den aktuellen Standpunkt des Feminismus sowohl hervorzuheben als auch zu verspotten. Ein Beispiel dafür ist die Figur der Jackie Raynal – eine Femme fatale, deren Dialoge sich aus poststrukturalistischen feministischen Texten zusammensetzen.

Das ist kompliziert. Sie fragen hier nach meiner Haltung zu einem sehr vielschichtigen Material. Nichts ist gelöst. Ich folge den Debatten über sexuelle Differenz und Women Against Pornography. Ich engagiere mich persönlich in der Abtreibungsrechtsbewegung. Was in THE MAN WHO ENVIED WOMEN zum Ausdruck kommt, ist genau das, was Jackie mit dem Essay von Meaghan Morris zitiert, der aufzeigt, wo der Feminismus diese Verwechslungen zwischen Recht auf Leben und Abtreibungsrechten macht. Es ist kompliziert. Ich habe die männliche Figur absichtlich zu einem Feministen gemacht, um zu zeigen, wie eine scheinbar aufgeklärte Position eigentlich wieder nur für die eigene Profilierung genutzt werden kann. […]

Was sagen Sie zu den Kritiker*innen des New American Cinema, die anführen, dass diese neue Erzählform, der sich die Filmemacher*in auf Grundlage eines Textes zuwendet, wesentliche Aspekte des traditionellen narrativen Filmemachens und seiner Identifikationsform bloß auf eine andere Ebene verschiebt?

Feministische Theoretikerinnen wie Mulvey und Kaplan haben darauf hingewiesen, dass das Melodram, ja sogar die Seifenoper, ein Ort ist, an dem die Dilemmata der Frauen sichtbar und ausgetragen werden. Dies eröffnet der Avantgarde-Filmemacher*in eine formale Arena, die Spannungen und Dilemmata von Frauenleben im Patriarchat erkennbar zu machen. Das ist im Wesentlichen meine Haltung zu diesen Formen heute. Sie pauschal abzulehnen, das halte ich nicht für sehr produktiv. […]

Ob etwas narrativ ist oder nicht, hängt stark davon ab, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet. Aus der Perspektive Hollywoods, mache ich keinen narrativen Film. Für mich persönlich ist es nicht von Interesse, ob etwas narrativ ist oder nicht. Worauf es ankommt, ist, wie man das Publikum einbezieht und wie man es dazu bringt, sich zu beteiligen – und zwar auf eine andere Art und Weise, als es das Melodrama normalerweise verlangt. Das Melodram schafft eine Erzählung mit Abschluss und suggeriert den Menschen eine aristotelische Lösung der Vollständigkeit: das Leben geht trotz Mord und Zerstörung weiter und alles kommt wieder in Ordnung.
Ich denke, dass die Konventionen des narrativen Films eine Möglichkeit bieten, die Menschen anzusprechen oder ihnen Zugang zu dieser vertrauten Welt der Identifikation zu verschaffen, aber ich habe nicht das Gefühl, mich an diese Konventionen binden zu müssen.

In der Eröffnungsszene von THE MAN WHO ENVIED WOMEN gibt es eine Handlung. In den folgenden Szenen jedoch werden einfach Situationen geschaffen, die von der Kamera, von extradiegetischem Material oder von einer „Idee“ geleitet werden, und zwar an Orten, die zumindest anfänglich eine gewisse fiktive Glaubwürdigkeit ausstrahlen, wie der „Hörsaal“, das „Büro des Therapeuten“, das „Café“ usw. Die Erzählebene bleibt dabei sehr statisch. Es gibt nur ein einziges Handlungselement, und das dient nicht dazu, eine Folge von Ereignissen zu entwickeln oder zu vollenden, sondern dazu, ihn [Jack Deller] und das Publikum mit verschiedenen Argumenten und Informationen vertraut zu machen.

Können Sie darüber sprechen, wie Sie in diesem letzten Film mit der Frage des Blicks umgehen? Es scheint, als hätten Sie das Problem des male gaze mit einer Abwandlung von Buñuels doppelten Schauspielerinnen in DAS OBJEKT DER LIEBE gelöst.

Bei Buñuel sind die weiblichen Objekte für den männlichen Protagonisten austauschbar. In THE MAN WHO ENVIED WOMEN fehlt die weibliche Figur im Bild, wodurch die männlichen Objekte für das Publikum austauschbar werden. Das schien mir die Problematik des Bildes der Frau als Objekt des herrschenden Blicks ziemlich wörtlich zu nehmen. Während ich ihre physische Präsenz vollständig wegließ, verdoppelte ich den Mann als Objekt und ließ die gleiche Rolle von zwei Männern spielen. Damit wird ziemlich unklar wie der Blick eigentlich funktioniert. Diese Herangehensweise entzieht ihn der Erzählkonvention. Hier passiert etwas, das vieles, was über den Blick gesagt wird, widerlegt. Die belauschte Heldin kann nicht als Objekt eines herrschenden Blicks innerhalb des Films bezeichnet werden, weil sie ja gar nicht sichtbar ist, aber Jack Deller ist es auch nicht, obwohl beide ein Identifikationsobjekt für das Publikum sind. Die traditionellen Achsen von Blick, Macht und Identifikation verschieben sich und ermöglichen der weiblichen Zuschauerin über die Stimme der Heldin einen weniger ambivalenten Zugang zum Bild. Der männliche Protagonist wird jedoch nicht durch eine einfache Umkehrung objektiviert. Seine „Vorstellung“ wird durch seine wuchtigen „Diskurse“ und durch sein überwachendes und beherrschendes Verhalten abgemildert, so etwa in der Metapher der Kopfhörer. Er wird zum Sinnbild und Verwalter des patriarchalen Missbrauchs. Was die Erzählung angeht, so bleibt sein Fall ungelöst. Er wird nie „unter Kontrolle“ gebracht, wie es bei seinem filmischen Gegenstück, der „wilden Frau“, traditionell der Fall ist. Das wäre für meinen Geschmack zu utopisch. […]

Während ich die physische Präsenz der Frau vollständig wegließ, verdoppelte ich den Mann als Objekt und ließ die gleiche Rolle von zwei Männern spielen.

Eine der Szenen in THE MAN WHO ENVIED WOMEN, die am schwierigsten zu entschlüsseln ist, ist die Vorlesungssequenz. Zum Teil wegen ihrer schieren Länge und zum Teil, weil die Bedeutung des Raums, in dem die Vorlesung stattfindet, unklar ist. Sie ruft bei den Menschen ganz unterschiedliche Reaktionen hervor.

Das Problem der Leute und warum sie sich mit dem Vortrag so schwertun, ist, dass sie ihn [Jack Deller] an diesem Punkt völlig aufgeben. Später tun sie ihn ab, wenn er mit seinem Psychiater über Frauen redet und dieses selbstmitleidige, imperiale Geschwätz abgibt. Danach wollen sie ihn noch etwas verprügeln. Und dann wissen sie einfach nicht, was sie damit anfangen sollen, wenn er beginnt dieses Foucaultsche Zeug zu erzählen. Ist das nur ein weiterer Schwachsinn? Wird das für vollkommen irrsinnige Zwecke eingesetzt? Ich kann das mit der Komplexität der Figur rechtfertigen. Er ist nicht absolut schlecht, kein vollkommener Trottel. Er besitzt auch einige intellektuell fortschrittliche Qualitäten. Ich habe zum Beispiel Stimmen eingesetzt, die auf die Abbildungen an der Wand reagieren. Er spricht über Zigarren und billige Arbeitskräfte in Mittelamerika.

Doch für Leute, die ihn für einen Trottel halten, ist er einfach eine Agitprop-Figur.

Bei ihm handelt es sich offensichtlich um eine Pastiche und eine Konstruktion. Seine Rede ist eine Collage aus verschiedenen Dingen, auch aus dem wirklichen Leben. Ich mache einen berechnenden Film, in dem man nur so weit gehen kann, dass man kohärente Positionen von mir oder den Figuren erkennt, bevor man einen Schritt zurück geht und sagt: „Hey, wer ist diese Person? Wie ist er gemacht? Er ist voller widersprüchlicher Informationen – was soll das bedeuten?“ Und dann muss man sich mit den Informationen auseinandersetzen und nicht nur mit ihm. […]

Haben Sie die gleiche Ambivalenz gegenüber der Figur Jackie Raynal?

Nein, denn bei Jackie handelt es sich noch viel offensichtlicher um eine Konstruktion. Sie tritt nur in einer einzigen Szene auf und zitiert aus einer einzigen Quelle, „The Pirate’s Fiancée“, einem Essay der australischen Journalistin, Theoretikerin, Feministin und Foucaultianerin Meaghan Morris. Auch Jackie benutzt die Sprache, um zu verführen – und zwar in der Gestalt der Femme fatale. Jetzt kehrt das zuvor verdrängte Frauenbild mit einer gebieterischen Stimme zurück. Die ganze Szene ist so voller Ironie, Exzess und Spannung, dass sie funktioniert: die Enge des Raums; die Art und Weise, wie sie sich nur ein paar Schritte auf einmal bewegen können; die Problematisierung des Raums für feministische Intellektuelle; die anhaltende Abrechnung mit Lacan; der Traum in der Mitte mit dem Aufbrechen verwechselter Identitäten und Rollen – der Austausch von Sohn/Ehemann durch die zusammenfallende Mutter/Tochter – der ganze ödipale Zirkus auf den Kopf gestellt.

Dieser Text erschien zuerst auf Englisch in: Persistence of Vision, Nr. 6 (Sommer 1988), S. 101–108.

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