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Im Jahr 2020, lange nach dem Tod meines Großvaters Gani Bilir, stieß ich in einer Schachtel im Haus meiner Großmutter Vehbiye Bilir in Mersin auf seine Gehaltsabrechnungen. Die Lohnzettel erstrecken sich von Dezember 1976 bis Februar 1983. Der Lohn und das Gehalt von Gani Bilir aus der Kieler Triebwerkfabrik blieb all die Jahre von 1962 bis 1988 immer gleich, wobei andere, nichtmigrantische deutsche Arbeiter*innen aufstiegen. Die über hundert Lohnzettel sind Fragmente, sind Erinnerungen von über zehn Jahren als Arbeitsmigrant in Deutschland. 2020, lange nach dem Tod von Gani Bilir, bin ich auf die Lohnzettel in einer Kiste bei meiner Großmutter Vehbiye Bilir in Mersin aufmerksam geworden. Zwischen den Arbeitsdokumenten von meinem Großvater befanden sich zwei von ihm auf Folien gemalte Zugvögel. Er malte und zeichnete sehr viel und brachte mir in meiner Kindheit bei, einen Vogel zu malen.

1962 – im Jahr der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei – begann Gani Bilir in Kiel in der Triebwerkfabrik Maschinenbau Kiel (MaK) zu arbeiten.

Meine Mutter Zühal erinnert sich:

„Wir als Kinder und Jugendliche, ich war neun Jahre alt, als mein Vater ging, und in der Zeit wurden wir wie sonderbare Menschen angesehen, der Vater ist in ein Land gegangen, vor dem jeder Angst hatte. In Deutschland gab es Krieg, und es lag in Asche und Schutt, mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Ein Land, ganz weit weg, etwas Komisches und mit einer gefährlichen Geschichte. Wir hatten Angst um meinen Vater, weil: Deutschland war gedanklich und geografisch sehr weit weg von uns, wer macht die Reise nach Deutschland? Heute ist es viel mehr selbstverständlich, jeder in der Türkei hat Verwandte in Deutschland.“

Ca. 1964 – zwei Jahre nachdem Gani Bilir in Deutschland ankam, druckte die türkische Nachrichten- und Presseagentur Haber Ajansi einen Bericht über ihn und seine Geschichte als Arbeitsmigrant. Interessant dabei ist die Überschrift des Berichts: „Mit den 30.000 Mark, welche ihr Ehemann in zwei Jahren verdient und ihr geschickt hat, hat sie sich ein Haus gebaut.“

Zühal erwidert daraufhin:

„Mein Vater hat sehr arm gelebt und auf den Feldern gearbeitet, auch am Wochenende. Dann ist er sieben Jahre nicht in die Türkei zurückgekommen und ist durch die Hölle gegangen. Sein Ziel war es, in der kürzesten Zeit Vermögen zu generieren und seinen Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen und sehr bald zurückzukehren. Dafür musste er sehr hart arbeiten und hatte keine Ferien oder sonst etwas. Das war ein sehr anstrengendes Leben voller Verzicht. Er muss sehr arm gelebt haben. Auch wir haben auf den Vater verzichtet, und meine Mutter musste mit den fünf Kindern alleine zurechtkommen.“ (Interview Z. B-M)

Man hat meinen Vater sozusagen politisch und wirtschaftlich instrumentalisiert.

In dem bereits genannten Zeitungsbericht der Haber Ajansi wird mein Großvater mit folgenden Worten zitiert: „Bitte seid nicht enttäuscht, wenn ich ohne Geschenke zurückkomme. Ich habe Tränen in den Augen vor Freude, wenn ich jede Mark sende, die ich mit meinen großen Anstrengungen ehrlich verdient habe.“ Weiter heißt es: „Gani Bilir hat jeden Tag zusätzliche Sechs-Stunden-Schichten gearbeitet, um sein Einkommen zu erhöhen.“

Zühal erzählt weiter:

„Das Ziel der Arbeitsmigration war es, Arbeiter*innen nach Deutschland zu ,verkaufen‘ und die Arbeitslosigkeit zu senken sowie Devisen zu generieren. Das war der Anfang des Endes unseres Dramas der Migrationsgeschichte. Man hat meinen Vater sozusagen politisch und wirtschaftlich instrumentalisiert. Sehr lange haben die Migrant*innen nicht zugegeben, dass es sehr schwer für sie war, dass sie in Deutschland in der dreckigsten Arbeit eingestuft worden sind, auch in der Lohnzahlung. Mein Vater war der Lockvogel. In Deutschland brauchte man dringend Arbeitskräfte.“ (Interview Z. B-M)

In dem Zeitungsbericht heißt es weiter:

„Mersin: Die Familie Bilir hat bereits ein Einkommen im Rekordbetrag von 30.000 Mark erreicht, die unser Arbeiter Gani Bilir seit seiner Reise nach Deutschland vor zwei Jahren bis heute verschickt hat. Gani Bilir, der in der Triebwerkfabrik in Kiel arbeitet, hatte 25 Tage nach Arbeitsbeginn seine erste Überweisung über 300 Mark gemacht. Er wurde der Arbeiter, der den höchsten Geldbetrag in die Türkei schickte. Gani Bilir, 45 Jahre, mit fünf Töchtern, hat nur einen Kühlschrank als Ware verschickt und den Zollwert von 3000 Lira bezahlt.“

„Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ Max Frisch

Was auf den ersten Blick in diesem Zeitungsbericht nicht sichtbar ist, ist die brutale Realität der Arbeits- und Lebensbedingungen der sogenannten Gastarbeiter. Die kritische Migrationsforschung hinterfragt schon seit Langem die Ausbeutungsstrategien auf dem Arbeitsmarkt. Nach der kapitalistischen Logik werden Menschen nach ihrem ökonomischen Mehrwert bemessen und ob sie von wirtschaftlichem Nutzen sind. Sie werden nicht in erster Linie als Menschen gesehen. Max Frisch hat es in diesem Sinne ganz treffend auf den Punkt gebracht: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“

„Es war gerade 1961, die Mauer wurde zu Ende gebaut, 1962 kam mein Vater als einer der Ersten, und man hat Arbeitskräfte dringend gebraucht. Die schlechte Arbeit haben die Deutschen nicht gemacht. Die Deutschen konnten bessere Arbeiten machen und studieren. Der strukturelle Rassismus ist bis heute vorhanden und seit damals nicht weniger geworden. In dieses Deutschland bin ich gekommen.“ (Interview Z. B-M)

Castro Varela beschreibt den inhumanen Umgang der „Gastarbeiter“ und ihre fehlende Anerkennung als Bürger*innen in Deutschland wie folgt: „Es wurden weder Deutschkurse noch humane Unterbringen bereitgestellt, stattdessen wurde viel Energie darin investiert, die migrantischen Arbeitnehmer*innen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft fernzuhalten und eine Solidarisierung zu verhindern.“(3) Auch meine Mutter Zühal beschreibt die Situation so: „In Kiel waren die Arbeiter*innen weit weg von der Mehrheitsgesellschaft und nah an den Fabriken, die Unterkünfte nur für sie, Frauen und Männer getrennt.“ (Interview Z. B-M)

Die Solidarisierung, von der Castro Varela spricht, fehlte auch, als mein Großvater in der Fabrik arbeitete und seine deutschen Kollegen als Reaktion darauf, dass sie in Kurzarbeit mussten, in den Streik getreten sind. Es hieß ihrerseits: „Der Türke muss weg.“ Dies war nicht nur eine ferne Parole für meinen Großvater, sie war eine Lebensrealität. Er, der mit seinem jahrelang gleichen Gehalt in derselben Lohnklasse arbeitete, wurde in die Forderungen der Streikenden nicht eingebunden. Sie positionierten sich mit ihren Parolen und Forderungen sogar gegen die Arbeitsmigrant*innen und entsolidarisierten sich mit ihrem Kampf um Anerkennung in einer Gesellschaft, welche sie nur als Gast gesehen und nicht wahrgenommen hat. Ein „Spiegel“-Artikel aus dem Jahre 1973 mit dem Titel „Die Türken kommen – rette sich, wer kann“, in dem von einer „Invasion“, von aufkeimenden „Ghettos“ und „Kriminalität“ gesprochen wird, ist ein Beispiel für die aufgeheizte rassistische Stimmung dieser Zeit.

1973 gab es den sogenannten Anwerbestopp in der BRD, meine Großmutter Vehbiye Bilir, die sich schon in Deutschland befand und in einem Krankenhaus als Putzkraft arbeitete, und mein Großvater sahen sich gezwungen, ihre sechs Kinder, darunter meine Mutter Zühal Bilir-Meier, nach Deutschland zu holen. Im Fall meiner Familie bedeutete das vor allem für die jüngeren Kinder, dass sie plötzlich aus ihrem gewohnten Lebensumfeld, weg von ihrer Schule, von ihren Verwandten und Freund*innen, gerissen wurden. Im Jahr 1988 kehrten meine Großeltern nach Mersin zurück.

Heute habe ich das Gefühl, dass meine künstlerische Praxis eng mit meiner persönlichen Erfahrung und meinem Aktivismus verwoben ist. Solidarisches Handeln mit anderen ist ein wichtiger Schritt, um meine eigenen Privilegien zu hinterfragen und Ressourcen zu teilen, zum Beispiel indem ich anderen Stimmen in Ausstellungen oder Projekten Raum gebe oder finanzielle Mittel zur Verfügung stelle. Meine künstlerischen Arbeiten und Filme fokussieren überwiegend auf das migrantisch situierte Wissen und arbeiten mit der Nonlinearität von Erinnerung und Geschichte und Gegennarrativen. Das Projekt „Migratory Birds“ beschäftigt sich mit Migration und Arbeitskämpfen, mit dem Kampf um Anerkennung migrantischer Menschen, mit den Parallelen migrantischer Perspektiven und dem Kampf gegen mehrdimensionale Diskriminierungsformen wie: alltäglichem Rassismus, Klassismus und Sexismus.

Cana Bilir-Meier

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