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1968 kam Cemal Yavuz direkt von der Hochebene Türkisch-Kurdistans nach Hamburg. 15 Jahre lang arbeitete er auf der Werft, schnitt täglich Tonnen von Schrott klein, träumte von Heimkehr und legte jedes Mal noch ein Jahr zu. Zwei seiner Söhne holte er nach Hamburg nach. Die Frau und die anderen Kinder mussten in Kurdistan bleiben. Nach sechzehn Jahren Trennung war Schluss. Überstürzt und ohne Anspruch auf Altersversorgung kehrte Cemal Yavuz zurück. Er hat es nicht mehr ausgehalten. Seither lebt er als Bauer wieder in seinem Heimatdorf.

Eine ganz gewöhnliche Geschichte, möchte man meinen. Für den Regisseur Yüksel Yuvaz ist es die Geschichte seines Vaters, seiner Familie. Also auch seine Geschichte. Er fährt in das kurdische Dorf zurück, um sich seiner Herkunft zu vergewissern. Spricht nach Jahren mit seiner Mutter über ihr Leben, ihre Wünsche und Hoffnungen. Er holt die Familie auf Besuch nach Hamburg. Die Barackensiedlung, Klein-Istanbul genannt, steht noch wie je, aber auf der Werft lässt man den Vater nicht einmal mehr seinen alten Arbeitsplatz sehen. Er ist fassungslos und nennt den Werfteigentümer einen undankbaren Menschen. Es ist, als sei er nie dagewesen. Und wäre nicht der Film, niemand wüsste etwas von seiner Geschichte.

Ein Film sorgfältig komponierter Gegensätze. Hier die kurdische Landschaft, so intensiv fotografiert, dass man sie zu riechen und zu schmecken scheint. Dort die Werft, kalt, geschäftig und laut.

Nicht die faktischen Ereignisse machen MEIN VATER, DER GASTARBEITER zu einem beeindruckenden Dokument. Es ist die Art, wie Yüksel Yuvaz seine Recherche in Worte und Bilder fasst. Dies erst macht sinnfällig, was es heißt, zu jener zweiten Generation von Einwanderern zu gehören, die nirgendwo zu Hause ist. Ein Film sorgfältig komponierter Gegensätze. Hier die kurdische Landschaft, so intensiv fotografiert, dass man sie zu riechen und zu schmecken scheint. Dort die Werft, kalt, geschäftig und laut. Yüksel Yuvaz fotografiert sie nicht in denunziatorischer Absicht, dazu hat er zu viel Respekt vor menschlicher Arbeit und Leistung. Er gewinnt dieser Atmosphäre aus Stahl und Schweißfunken poetische Bilder ab. Dazu die Beschreibung eines Lebens. „Die Industriearbeit“, sagt der Autor, „hat eine merkwürdige Eigenschaft. Sie hinterlässt keine Spuren, außer an den Körpern. Wieviel Kraft es kostet, ein Schiff zu bauen – aber man wird sagen: Die Werft hat das Schiff gebaut. Letzte absurde Möglichkeit, die Illusion ihrer Würde zu retten: Man wird sagen, es ist ein deutsches Schiff.“ Doppelte Fremdheit der „Gastarbeiter“, sehr klar und einfach beschrieben.

Spuren hinterlassen – in diesem Motiv erkennt Yüksel Yuvaz das Lebensmuster des Vaters. Sein Leben lang habe er das versucht, „die letzte und sicherste Spur sollte ich sein“. Der Sohn ist dann doch nicht Schweißer geworden, sondern Regisseur. Das politische Schicksal der Eltern dagegen wird nur angedeutet. Während die Bewohner des kurdischen Dorfes ihrer Feldarbeit nachgehen, den Weizen mit der Handsichel mähen, ein Mädchen einen Eimer Wasser bringt, fahren auf der Straße türkische Panzer, brennt in Sichtweite ein Gehöft. Man sieht nur dies und die Gesichter der Menschen. Sie sprechen nicht vor der Kamera, sind vorsichtig. Das lässt das Ausmaß der Bedrohung erst wirklich ahnen. Früher oder später würden sie hier wegziehen müssen, meint die Mutter, „was sollen wir hier allein?“. Im Klartext: ein ganzes Leben gearbeitet, um dann vom türkischen Militär vertrieben zu werden. MEIN VATER, DER GASTARBEITER ist ein ruhiger, schöner Film, sehr persönlich, aber ohne Larmoyanz erzählt, eine Selbstvergewisserung, aber so formuliert, dass sie auch andere interessieren kann.

Fritz Wolf (1947-2021) war Film- und Medienjournalist und langjähriges Mitglied der Jury des Grimme-Preises.

Die Kritik erschien ursprünglich in: epd Kirche und Rundfunk 100/95 vom 20.12.1995

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