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Ariel Smith: Deine neuste Arbeit MEDICINE AND MAGIC besteht aus zwei separaten Videos, die in einer 2-Kanal-Videoinstallation präsentiert werden. Das eine Video erzählt von der Geschichte deiner Nêhiyawak-Familie, das andere von der deiner schottischen Familie. Kannst du davon berichten, warum du dich dazu entschieden hast, zwei getrennte Videos zu machen, die dann gleichzeitig in einem Raum gezeigt werden?

Thirza Cuthand: Es sind zwei unterschiedliche Geschichten, die aus zwei unterschiedlichen Kulturen stammen, die wiederum gleichzeitig in mir, in meinem Körper leben. Ich denke, deshalb habe ich mich für zwei separate Videos entschieden, die gleichzeitig abgespielt werden – fast so, als würden sie sich unterhalten.

AS: Auf das Thema der Identität, die sich aus indigenen und nicht-indigenen Familienhintergründen zusammensetzt, kommst du in deiner Arbeit immer wieder zurück. Ich denke dabei zum Beispiel an frühere Videos wie THROUGH THE LOOKING GLASS sowie die neuere Arbeit THIRZA CUTHAND IS AN INDIAN WITHIN THE MEANING OF THE INDIAN ACT. Du hast gesagt, dass du dich mit deiner Nêhiyawak-Kultur verbundener fühlst …

TC: Ja, ich weiß nicht so viel über schottische Dinge. Es gibt ein paar Gerichte, die meine Großmutter gekocht hat und meine Mutter manchmal auch, aber eigentlich waren sie britisch. Ich wurde nicht so erzogen. Meine Großmutter war die einzige weiße Person in meiner Familie. Ich bin nicht wirklich mit weißen Menschen aufgewachsen, außer mit denen, mit denen ich zur Schule gegangen bin und wenn ich meine Großmutter besucht habe.

AS: Das heißt, du bist im Umfeld deiner Cree-Familie und deren Familiengeschichte aufgewachsen und du weißt weniger über deine schottischen Vorfahren.

TC: Stimmt.

Es sind zwei unterschiedliche Geschichten, die aus zwei unterschiedlichen Kulturen stammen, die wiederum gleichzeitig in mir, in meinem Körper leben.

AS: In einem der Videos von MEDICINE AND MAGIC, dem mit den Bären, hören wir eine Geschichte über deinen Ururgroßvater, der mit einem Bärengewand geheilt wurde. Das ist Teil deiner aufgezeichneten und mündlich übertragenen Familiengeschichte, mit der du aufgewachsen bist. Das zweite Video erzählt von einer Frau aus Schottland, Isobelle Sinclair, von der du erst kürzlich durch deine eigene Internetrecherche erfahren hast und die eine Vorfahrin von dir sein könnte. Wie unterscheidet sich deine Beziehung zu den beiden Geschichten? Fühlt sich eine emotional näher oder authentischer an?

TC: Ja, denn Misatimwas ist mein Ururgroßvater, ich stamme direkt von ihm ab. Ich weiß genau, dass und wie ich mit ihm verwandt bin und ich habe in meiner ganzen Kindheit Geschichten über ihn gehört. Isobelle Sinclair hingegen ist eher… Es ist komplizierter, da ich nur weiß, dass Sinclair ein Name ist, der in Verbindung zu meiner Familiengeschichte in Schottland steht. Und sie lebte ganz in der Nähe der Gegend, von der aus meine Urgroßmutter nach Kanada auswanderte. Es ist also gut möglich, dass wir verwandt sind, aber andererseits starb sie 1633 und ich weiß nicht viel über sie. Es gab nur sehr dürftige Informationen in der Datenbank …

AS: Du hast sie in einer „Übersicht der schottischen Hexerei“ entdeckt, die online zugänglich ist, richtig?

TC: Richtig. Es gab dort nicht viele Informationen über sie. Ich glaube, es stand dort nicht einmal, wie alt sie war, als sie starb oder ob sie Kinder hatte. Deshalb kann ich nicht sagen, wie sie mit mir verwandt sein könnte. Wir haben einfach nur denselben Nachnamen in unseren Geschichten. Das ist also eher dürftig, so wie meine Beziehung zu meiner väterlichen Seite sowieso.

AS: Dürftig?

TC: Ja. Ich habe eine so viel stärkere Verbindung zu der Geschichte von Misatimwas, weil ich diese Geschichte von klein auf kenne, wohingegen Isobelle Sinclair nur ein Name ist und eine tragische Geschichte, die ich in einer Online-Datenbank über hingerichtete Hexen gefunden habe. Außerdem ist sie auch weiter von mir entfernt, weil es so lange zurückliegt. Auch 1885 ist lange her, aber eben nicht so lange im Vergleich.

AS: Wie hat sich deine unterschiedliche Verbindung zu den beiden Geschichten auf die Art und Weise ausgewirkt, wie du die Geschichten dem Publikum vermittelst?

TC: Ich denke, es besteht eine gewisse Distanz in der Bildsprache und in der Art, wie die Geschichte über Isobelle erzählt wird. Im Text kommen nur die Fakten über sie zur Sprache und ein paar allgemeine Tatsachen über die Hexenverfolgung in Schottland. Die Geschichte über Misatimwas, dessen Wunde verarztet wird, scheint hingegen intimer oder …

AS: … körperlicher?

TC: Genau! Ich mache übrigens ein weiteres Video darüber, warum Misatimwas verwundet wurde. Ein komplettes Video nur über diese Geschichte.

AS: Cool.

TC: Ja.

AS: Das ist spannend, denn als ich deine neue Arbeit gesehen habe, habe ich über deine Erfahrung nachgedacht, wie du durch Internetrecherche eine Person findest, die eine entfernte Verwandte sein könnte und es hat mich daran erinnert, wie das nicht-indigene Menschen mit indigenen Vorfahren machen …

TC: 23 and Me.

AS: Haha, genau, aber unter umgekehrten Vorzeichen. Es ist das Gegenteil von dem, was wir gewohnt sind zu hören: nicht-indigene Personen, zum Beispiel Siedler*innen, entdecken, dass sie einen entfernten indigenen Verwandten haben und spinnen plötzlich ihre Identität um diese Erzählung. Ich fand dieses Ebene interessant und hab mich gefragt, ob dir das in den Sinn gekommen ist, als die Arbeit entstand.

TC: So habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht. Aber es ist ein interessanter Gedanke, denn ich kenne tatsächlich einige Personen, die sowohl schottische, als auch Cree-Vorfahren haben, die versuchen, Kontakt zu ihrer schottischen Seite aufzunehmen. Es ist offensichtlich anders, denn etwas über seine schottischen Vorfahren herauszufinden bedeutet nicht, eine Identität anzunehmen, die einem Vorteile bei der Vergabe von Stipendien und Jobs verschafft. Aber es stimmt, das dreht die Dinge auf den Kopf.

AS: Diese neue Arbeit scheint auch ein Kommentar über die Unterdrückung und Verdrängung durch die britische Kolonisation zu sein – sowohl der Medizin der Nêhiyawak und ihrer zeremoniellen Traditionen als auch dem, was man schottische Medizin und zeremonielle Traditionen nennen könnte.

TC: Das stimmt. Genau das ist das Problem, wenn man indigene Kunst macht, alles läuft immer wieder auf die Kolonialisierung hinaus. Schottische Magie war offensichtlich eine große Sache, und dann kam das Christentum und fing an, Leute herumzustoßen und zu versuchen das loszuwerden, was sie als heidnisch oder dämonisch ansahen, weil es Teufelszeug war. Genau dasselbe passierte mit Ritualen der Cree oder anderer indigener Völker, mit Zeremonien und Praktiken. Tatsächlich wurde das in dieser Arbeit erwähnte Medizinbündel, das zum Heilen verwendete Bärengewand, in einem anonymen Grab beerdigt, so dass es Anthropolog*innen nicht klauen und an das Smithsonian oder so verkaufen konnten.

AS: Grabräuber*innen.

TC: Genau! Ich denke also darüber nach, über das Begraben eines zeremoniellen Objekts und vergleiche es damit, einen Menschen zu verbrennen, was Isobelle Sinclair widerfahren ist, weil sie ein Ritual vollzogen hat, mit dem ihre Mitbürger*innen nicht einverstanden waren. Dabei war es ein wirklich harmloses Ritual. Sie hat nur einen Zauber oder ein Gebet gesprochen, um das Vieh zu schützen.

AS: Es ist interessant, diesen Zusammenhang herzustellen, denn das British Empire hat das, was es bei der Kolonialisierung von Schottland und Irland gelernt hat, auf sein weltweites völkermörderisches Projekt des Ausbaus seines Weltreiches angewandt, einschließlich hier, in dem Gebiet, das wir heute Kanada nennen.

TC: Exakt.

Normalerweise bin ich selbst in meinen Videos, aber diese Geschichten handeln von realen Personen, nicht von mir, so erschien es mir besser, sie durch die Tiere zu repräsentieren, mit denen sie in den beiden Geschichten verbunden sind: Bären und Kühe.

AS: Du hast diese Arbeit während der COVID-19 Pandemie und während unterschiedlicher Stadien der sozialen Isolation und Quarantäne – oder was ich einfach nur „Endzeit“ nenne – entwickelt. Wie war es, in diesem Kontext zu arbeiten, und hatte es Auswirkungen auf das Projekt?

TC: Ein Großteil der Aufnahmen ist Stock-Material, das ich gekauft habe. Das hätte ich mit oder ohne COVID so gemacht, denn ich wollte Bilder vom Meer nutzen und ich lebe nicht in der Nähe von einem Meer. Ich hätte nicht in Schottland drehen können, Pandemie hin oder her, denn dafür fehlt mir das Geld. Die Bilder der Kühe konnte ich in meiner Nachbarschaft aufnehmen.

AS: Kühe?

TC: Ja, direkt um die Ecke ist ein Bauernhof, ich konnte einfach hinüberlaufen und sie filmen …

AS: Stimmt, Riverdale Farm!

TC: Genau. Und das Material der Bären habe ich letzten Sommer auf Super-8 in Saskatchewan aufgenommen und habe es in Kombination mit einigem Stock-Aufnahmen von Bären verwendet. Aber ja, es war kompliziert, denn man kann nicht wirklich drehen – während ich diese Arbeit gemacht habe, war es absolut nicht möglich. Ende dieses Monats habe ich einen Dreh mit Schauspieler*innen, einem Set und allem Drum und Dran, und das wird jetzt ganz anders sein müssen.

AS: Als ich mir die Fragen für dieses Gespräch überlegt habe, habe ich über Isolation nachgedacht, über soziale Isolation während der Schaffensphase und ich glaube, dass es bei der Entstehung von Kunst immer eine Periode der Isolation gibt – zu Teilen oder sogar komplett. Das heißt, vielleicht hat es sich für dich überhaupt nicht anders angefühlt?

TC: Ich weiß es nicht. Ohne COVID wäre es vielleicht anders geworden. Ich bin mir nicht sicher. Die Möglichkeiten, die mir zur Verfügung gestanden hätten, wären größer gewesen. Gleichzeitig denke ich, dass die Nutzung von Stock-Material zu der Distanz zwischen mir und den beiden Geschichten passt. Normalerweise bin ich selbst in meinen Videos, aber diese Geschichten handeln von realen Personen, nicht von mir, so erschien es mir besser, sie durch die Tiere zu repräsentieren, mit denen sie in den beiden Geschichten verbunden sind: Bären und Kühe.

AS: Du bist in einem Großteil deiner Medienarbeiten sehr präsent, sei es durch deinen Körper, deine Stimme oder beides. In dieser neuen Arbeit, wie du gerade erwähnt hast, kommst du nicht wie normalerweise vor. Du hast dich nicht nur nicht selbst gefilmt, die hast außerdem die Worte von anderen als Erzählmittel genutzt. Ich weiß nicht, ob ich je eine Arbeit von dir gesehen habe, in der weder deine Stimme, deine Worte oder dein Körper vorkommt. Das Bärenvideo enthält die Worte von Fine Day. Es ist die Geschichte deines Ururgroßvaters aber erzählt von FineDay. Im Video mit den Kühen nutzt du den Text der Online-Datenbank. Warum hast du dich bei dieser Arbeit für eine andere Herangehensweise entschieden?

TC: Ich habe anfangs tatsächlich versucht, Monologe zu schreiben, die als Voice-Over den Videos hinzugefügt werden sollten, aber das hat nicht funktioniert. Und dann fiel mir wieder die Geschichte aus dem Buch von Fine Day ein, in dem die Geschichte wie Misatimwas mit dem Bärengewand geheilt wird, vorkam. Ich erinnere mich, wie magisch und spannend es war, diese Geschichte über meinen Vorfahren zu lesen. Und genauso – ähnlich wie ich diese Geschichte zum ersten Mal erfahren habe – wollte ich sie präsentieren: in einem Text von jemandem, der sie vor langer Zeit aufgeschrieben hat. Wie ich erwähnt habe, werde ich die Geschichte von Misatimwas in einer anderen Arbeit noch persönlicher erzählen, aber hier wollte ich, dass sie weniger von meiner Sichtweise und meinen Gefühlen gefärbt ist.

Co-publiziert von imagineNATIVE und Vtape

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