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Vier Radiallinien zeichnen die erste Einstellung von SE HACE CAMINO AL ANDAR (The Path Is Made by Walking): Im Hintergrund ist der neblige, undeutlich zu erkennende Horizont. Parallel dazu liegt die starre, objektive Route der Hauptstraße. Im rechten Winkel zu diesen kommt der Feldweg auf uns zu, der sich durch die Landschaft schlängelt und zu dessen einer Seite sich schließlich die sonnendurchflutete, voluminöse Pracht des Maisfelds ausbreitet – das Unbekannte schlechthin. Präzise verbindet das Eröffnungsbild von Paula Gaitáns neustem Film diese Wege und – vor allem – deren Abweichungen. Pfad und Pause, Fluss und Unterbrechung.

Weil Gaitán weiß, dass Filmschnitt Musik ist, beschäftigen sich ihre kürzlich fertiggestellten Arbeiten – immerhin je zwei Lang- und Kurzfilme in nur zwei Jahren! – mit den organischen Rhythmen der Bilder, aus denen ihre Erzählungen entstehen. Die beiden Langfilme É ROCHA E RIO, NEGRO LEO (2019) und LUZ NOS TRÓPICOS (2020) ähneln Flüssen. In beiden ist es ein Fließen – von Wasser oder Gedanken im ersten und des Waldes im zweiten –, das die Zeiten, die Konstanten und die visuellen Ausbrüche bestimmt. Ihre beiden Kurzfilme aus dem Jahr 2021 erfinden singuläre Wiederholung und Spiele, die auf Unterschieden basieren. Gaitán experimentiert mit einzigartigen Rhythmen, weil diese ihren Bildern und den Figuren, die sie filmt, innewohnen. OSTINATO (2021) wird von der Dissonanz Arrigo Barnabés bestimmt, einer herausragenden Persönlichkeit der brasilianischen Avantgarde-Musik. Diese Dissonanz leitet den Film durch Ideen, Musik und den Dialog zwischen Filmemacherin und Protagonist.

In SE HACE CAMINO AL ANDAR (2021) ist das Spiel zwischen Wiederholung und Unterschied noch deutlicher. Hier wird der Ton durch die Beziehung zwischen Körper und Raum gesetzt. Die Bewegungen eines umherschweifenden Körpers – der sich mal wie ein Pfeil schnurgerade auf das Ziel zubewegt, mal im Wind der indigenen Gesänge umherdriftet – überraschen die Kamera und übertragen dessen organische Rhythmen in die Szenerie. Dieser Körper, der in der Geschwindigkeit puren Zufalls umherläuft, scheint auch auf einen Ruf der Ahnen zu reagieren. Das erinnert an LUZ NOS TRÓPICOS, in dem der indigene Protagonist flüchtige Signale vom Wind, vom Fluss und von der Musik der Erde empfängt. Hier, in SE HACE CAMINO AL ANDAR, kann es ein zischendes Summen oder ein tellurisches Trommeln sein, das ihn die Straße verlassen und in den grünen Ozean des Maisfelds eindringen lässt.

Eine Grünverschiebung, um den Titel von Cildo Meireles ikonischer Arbeit „Rotverschiebung“ (portugiesisch: „Desvio para o Vermelho“) zu paraphrasieren, der das kosmologische Phänomen der Rotverschiebung aufgreift: Auf dem Weg von entfernten Galaxien zur Erde wird das Licht durch den sich ausbreitenden Raum gestreckt. Ausdehnung des Raums und Veränderung der Materie. Ist es in SE HACE CAMINO AL ANDAR nicht der Körper, der den Raum durch seine Unberechenbarkeit modifiziert?

Die transgressive Kraft von Gaitáns Filmen liegt in diesen Verschiebungen: etwa in der direkten Wut, mit der der Protagonist sich in den ersten Minuten des Films dem insektenhaften Traktor entgegenstellt. Doch sie geht noch weiter. Vor allem ist es der mutige Leichtsinn mit dem der Protagonist die Landschaft durchbricht – egal, ob Straße oder Plantage –, eigene Leitlinien in den Filmkader einschreibt und einen Rhythmus erfindet, der so unpräzise ist wie die Freiheit selbst. Ein Rhythmus, wie Arrigo Barnabé es in OSTINATO beschreibt, der unmöglich von Diktatoren gepfiffen werden kann. Genauso hat Gaitán über die Jahre ihr Werk aufgebaut: Sie lauscht dissonanten Lockrufen, riskiert Grünverschiebungen, Rotverschiebungen, Freiheitsverschiebungen und bahnt im Gehen neue Wege.

Juliana Costa

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