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Es ist schwierig einen Libanesen zu finden, der während des Krieges ein künstlerisches Werk geschaffen hat, das in seinen Verästelungen und Verzweigungen nicht den Geruch des Krieges in sich trägt. Der Krieg bildete das Thema aller Libanesen, und er war der fast einzige Ort ihrer Expression. Und all dies war eine unvollständige Akkumulation der Expression in einer Angelegenheit, die selbst noch immer nur sich selbst ausdrückt.

Jede künstlerische Arbeit, deren Thema der Krieg ist, ist entweder eine Impression davon oder eine Meinung bzw. ein Standpunkt ihm gegenüber. Alles, was über den Krieg verfasst wurde, sei es im Kino und Theater oder in Literatur und Lyrik, lässt sich diesen beiden Rubriken zuordnen und ist somit nicht mehr als der persönliche Versuch, Ansätze des Verstehens einer allgemeinen Angelegenheit zu formen. Es ist so etwas wie ein Markstein, ein Wegzeichen oder eine Spur auf dem Weg, der erst endet, wenn das Geschehen abgeschlossen ist. Genauso, wie der Krieg sich selbst in die Zeit hineinschreibt, ist auch die Impression des Künstlers oder seine Meinung darüber im Zeitverlauf nicht abgeschlossen. Denn diese Impression bildet ein persönliches Zeugnis, ein Zeugnis des Betroffenen – und kein fotografisches oder dokumentarisches Zeugnis, das emotional unberührt ist.

Ein libanesisches Bild

Ich hatte nicht berücksichtigt, dass auch ich mich bei allem, was ich während des Krieges über den Krieg gemacht habe, in eben dieser Lage befand. Am Ende wurde mir jedoch klar, dass die von mir produzierten Filme, die den Krieg zeigten, mehr meine Impression über den Krieg darstellten, als eine Expression über ihn, also den Versuch seine Dimensionen zu erklären, zu durchdenken oder zu verstehen. In diesem Sinne hat der Krieg eine kinematographische Kultur hervorgebracht.

Wie war unser Bild vor dem Krieg, und wie sieht es danach aus? Decken sich die beiden Bilder oder unterscheiden sie sich?

Aus meiner Sicht gibt es kein eigenständiges libanesisches Kino. Es gibt ein arabisches Kino. Und selbst das ägyptische Kino ist nicht mehr so präsent wie zuvor. Im Libanon kann unsere Beziehung zum Film und zum Bild auf eine einfache Sache reduziert werden: Es ist nicht mehr möglich, eine Erinnerung zu bilden, ohne dass diese eine tragende Basis namens Bild besitzt. Dies begann Anfang des Jahrhunderts, verbreitete sich schnell und wurde zu einer überall bestätigten Realität. Wie war unser Bild vor dem Krieg, und wie sieht es danach aus? Decken sich die beiden Bilder oder unterscheiden sie sich? Oder besteht zwischen ihnen eine An/Aus-Beziehung? Vor dem Krieg produzierte der Libanon eine gewaltige Menge an Bildern (65 lange Spielfilme und tausende Kilometer von Fotos, einschließlich Foto- und TV-Magazinen). Wären diese Bilder tatsächlich die Erinnerung, dann wären sie nicht beim ersten Schuss des Krieges verschwunden. Alle diese Bilder sind verbrannt und konnten nicht mehr in uns erscheinen, um uns ein Komma oder Wort mehr als das zu sagen, was wir sowieso vor uns sehen. Jene Bilder wurden zu gefälschten: Wir gehen damit um, wie wir mit allem umgehen, was uns über die Moderne übersetzt wurde: übersetztes Kino, übersetzter Sartre, übersetzte Autobahnen, übersetzte Gebäude. Alles bei uns ist übersetzt aber nicht verstanden. Dies ist der Grund dafür, dass von der Quantität unserer kinematographischen Produktion nichts mehr übrig geblieben ist.

In jener Zeit, als dieser Prozess vor und während des Krieges ablief, gab es noch einen anderen Trend, dem wir heute folgen und den wir das alternative oder moderne Kino genannt haben – oder einen der vielen anderen Namen. Dieser Trend hat kritisiert und behauptet, dass diese Bilder nichts mit uns zu tun haben, sondern viel mehr eine Plünderung, Fälschung und Hypnose darstellen. Das allgemeine kritische Umfeld beschuldigte die Filmemacher, erfolglos zu sein, destruktiv und nur an ihrem Eigenwohl und dem Aufbau ihres Ruhms interessiert. Dann kam der Krieg.

Der Krieg

Vor dem Krieg waren das Kino und das Bild soziale Orte in welchem die Leute begeistert klatschten, ein Ort voller Helden und Stars, für welche Cocktailpartys, Geld- und Preisverleihungen veranstaltet wurden. Das Kino war eine Art „Star-System“ oder, so wie der gesamte Libanon, eine Süßigkeit, welche die Fliegen „von überall, sogar aus Istanbul“ anzieht, wie es Nâzım Hikmet ausdrückte. Doch mit dem Krieg fielen die Bilder und die Fotografen rannten weg. An ihrer statt erschienen die jungen Menschen, unbekannt und belagert. Sie blieben aus Absicht oder unabsichtlich unverstanden, was aber keinen Unterschied macht. Doch sie verinnerlichten jene Kritik am Vorkriegs-Kino und produzierten das Bild des kommenden Friedens. Die Bilder, die die neuen, jungen Filmemacher produzierten, sind die Bilder, in denen und durch die der zukünftige Frieden im Libanon zu sehen ist. Namen? Ohne Ausnahmen, es sind alle diese neuen Filmemacher, alle diese jungen Regisseure, erfolglose wie erfolgreiche. Das Kino wurde zu etwas ohne Sozialgehabe und ohne Stars, es wurde zu einem Brennofen, einer Lebensgefahr, einer Vertreibung. Alle diese, wie sie auch heißen mögen, begannen mit einer abbildenden Sichtweise, dem Blick von Impression oder Expression. Ich denke, dass sie alle einen einzigen Körper bilden. Wer von ihnen mit einer Impression oder mit einem Zeugnis aufwartete, ließ aber auch gar nichts aus, und wer mit einer Expression ankam, dessen Expression war ein Punkt, der den anderen Expressionspunkten hinzugefügt wurde. Und selbst von den Bildern, die in ihnen arbeiteten, von der Obsession des Verstehens und des Wissens, und wegen der insolventen Worte, bleiben für die Erinnerung nur das Maß der eigenen Involvierung und Verstrickung. 

Doch mit dem Krieg fielen die Bilder und die Fotografen rannten weg. An ihrer statt erschienen die jungen Menschen, unbekannt und belagert

Das gesamte neue arabische Kino konzentrierte sich in einer seiner Phasen auf die libanesische Erzählung. Die Verschmelzung der libanesischen Erzählung mit der palästinensischen Sache brachte das arabische Kino auf dieses Thema. In der Vergangenheit produzierten wir unser Bild nicht so wie wir uns selbst sahen, sondern so wie andere es im Blick hatten. Das libanesische Kino war entweder ägyptisches Kino oder unechtes libanesisches Kino, aber nicht originär libanesisch. Und immer wiederholten wir das Bild in einem Rahmen, der weder für dieses noch für uns geschaffen war. Es ist ein allgemein arabisches Problem, das sehr stark zugenommen hat. Die Existenz, die Identität, die Persönlichkeit – sie alle haben eine Beziehung zum Bild. Als die Lyrik das Fernsehen der Vergangenheit war, in welchem der Araber sein Bild sah, war die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Bild so groß, dass man nicht mehr wusste, wer wem ähnlicher war: der Araber seinem Bild – oder das Bild dem Araber. Im gegenwärtigen Zeitalter ist das Bild der größte Adressat, die größte Ansprache an das Selbst. Unzweifelhaft hat das „wie sind wird?““ einen Bezug zu unserem Bild. Es gibt fast so etwas wie eine wechselseitige Beziehung mit dem Bild.

Nach unserem eigenen Bild

Unser heute verbreitetes Bild ist eine Karikatur von uns, die wir auf unserem Bildschirm sehen – und zumeist vergessen uns die Menschen. Es gibt aber noch ein anderes Bild von uns (du brauchst dir nur das Araber-Bild in der westlichen Werbung für das Automodell Cleo im französischen Fernsehen anzusehen, um zu wissen, was der Gipfel des arabischen Bildes ist). Und in diesem Sinne auch die Bilder der Werbung in der arabischen Welt und über die arabische Welt (das Bild eines Arabers in seiner Dischdaschah, der in der Wüste eine Coca-Cola trinkt, nur als Beispiel ...). Es ist das einzige Bild von uns, das wir sehen, und es ist eine Karikatur, die behauptet, uns ähnlich zu sein, weshalb wir letztlich ihr zu ähneln haben.

Jeder Mensch muss sein eigenes wahres, inneres Bild erzeugen, damit das ihm von Außen angeheftete Bild nicht wieder entstellt und schädlich wirkt, sondern bereichernd

Ist es etwa dieses Bild, das verantwortlich ist? Nein, verantwortlich ist nicht dessen Existenz – sondern das Fehlen unseres ursprünglichen, originären Bildes, das jenes Bild relativiert und den Grad des Karikaturistischen daran bestimmt. Du kannst die Welt nicht daran hindern, dich zu fotografieren. Der Franzose kann die Welt nicht daran hindern, den Franzosen zu fotografieren. Der Deutsche kann die Welt nicht daran hindern, den Deutschen zu fotografieren, und der Araber kann die Welt nicht daran hindern, den Araber zu fotografieren, besonders wenn die Welt sich darum bemüht, den Araber als Beweis für die Wichtigkeit der Position des Arabers in der Welt zu fotografieren. Es ist das Fehlen des originären Bildes des Arabers, was die Produktion des verdrehten, karikaturistischen Bildes erlaubt. Stell dir vor, wie das Bild des Franzosen in der Welt aussehen würde, wenn dessen originäres Bild fehlen würde? Das Bild des Franzosen könnte in diesem Fall nichts anderes als einen „Liebhaber an den Ufern der Seine“ darstellen, und das Bild des Italieners nichts anderes als einen „Spaghetti verschlingenden Mann“. Bei Präsenz des originären Bildes des Italieners bildet die Spaghetti hingegen nur eine neue Farbe, welche das kulturelle Abbild des Italieners bereichert.

Jeder Mensch muss sein eigenes wahres, inneres Bild erzeugen, damit das ihm von Außen angeheftete Bild nicht wieder entstellt und schädlich wirkt, sondern bereichernd. Es gab viele und lange Diskussionen um das Bild, das uns von Außen aufgedrückt wird, und um die Reaktion darauf. Viele sprachen sich dafür aus, das äußere Bild zu stoppen: Wir produzieren nicht unser inneres Bild, und ein Bild von uns kommt von Außen. Also müssen wird dieses äußere Bild stoppen. Dies ist natürlich nur bedeutungsloses Gerede, nicht nur aus rein technischer Sicht des Prozesses, sondern auch aus menschlicher Sicht. Gleichzeitig kann es kein Gesetz geben, das die Neugier des Menschen unterbindet. Die Herausforderung, der wir gegenüberstehen, lautet: Wie viele „originäre Bilder“ werden bei uns produziert?

Neue Stimmen, neue Kinos

Wir begannen das „originäre Bild“ im neuen arabischen Kino zu sehen, im Klima dieses Kinos. Selbst das frühere ägyptische Kino war eine Karikatur von uns. Der Libanese war im ägyptischen Kino nicht mehr als ein „Witz“, gespielt von Bishara Wakim, wann immer der Regisseur in seinem Film eine libanesische Dimension haben wollte. Ein arabisches Kino gab es nicht. Das „arabische“ Kino war ein ägyptisches. Das Neue ist heute, dass, wenn wir beispielsweise einen Film des Tunesiers Nouri Bouzid oder des Syrers Mohammad Malas anschauen, wir nicht ausschließlich einen tunesischen Film sehen oder ausschließlich einen syrischen, so wie wir früher ausschließlich einen ägyptischen Film angeschaut haben, sondern wir sehen einen arabisch-tunesischen Film (denn es kann kein arabischer sein, sofern er keinen Standort oder Platz besitzt, von dem aus er angeschaut werden kann. In diesem Sinne kann ein libanesischer Film kein arabischer sein, sofern er nicht auch ein libanesischer ist …). Heute ist das Kino von Nouri Bouzid und das Kino von Mohammad Malas ein und dasselbe. Was also hat sie zusammengebracht? Sie wurden von dem neuen arabischen Kino zusammengebracht. Das arabische Kino blieb nicht an ein und demselben Ort (wie die Regionalität eines jeden Fernsehprogramms), noch blieb es gestohlen (indem es unser Bild in unserem Auftrag produziert).

Audiovisuelle Sprache

Die gegen dieses Kino gerichtete Kritik sagt vielleicht, dass es ebenfalls ein karikaturistisches Bild produziert, nur von anderer Art. Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass Bouzid und Malas und andere Übertreibungen begehen werden, aber innerhalb dieser Übertreibung wird sich eine Relativierung bilden. Jede Tat und jede Aussage ist eine Übertreibung, die von einer entgegengesetzten Tat oder Rede aufgedeckt und annulliert wird. Dem neuen Kino reicht es, dass es den Blick als eine Sprache benutzt, mit der es die „Melodie“ unserer audiovisuellen Sprache herausarbeitet. Die Vision der Menschen wurde audiovisuell. In dieser Zeitperiode, in der wir uns befinden, übernimmt die audiovisuelle Sprache Stück für Stück, aber auch recht schnell, den Platz der geschriebenen Sprache, und die Bildsprache übernimmt den Platz der gesprochenen Sprache. Sie füllt jenen Platz natürlich nicht aus, aber sie bedrängt sie dort.

Wenn der Mensch heutzutage (der arabische und der nicht-arabische) mit sich selbst mehr und mehr mittels des Bildschirms umgeht, so fragt er sich, sobald er sein Bild auf dem Bildschirm sieht: Wie? Wann? Wo? Hat dieses Bild einen Platz? Lebt es? Oder ist es nur ein Bild?

In alle deine Beziehungen zwischen dir und deinem Selbst ist die Sprache des Bildschirms, des Computers und der Informatik eingedrungen, so wie früher der Film und das Papier in deine Beziehungen zu dir selbst eingedrungen sind. Der Bildschirm beginnt das Papier und den Film zu verdrängen. Auf diesem Bildschirm gibt es eine Vision und einen Blickwinkel: Die Linien werden darauf in dieser oder jener Form verteilt, gemäß dem ausgeführten oder produzierten Programm. Es lassen sich drei Linien zeichnen, die sich nur im Grad ihrer Bereicherung unterscheiden – woraufhin wir erfahren, dass dies eine römische Säule sei, die zweite eine griechische Säule und die dritte eine arabische Säule. Es gibt diverse Visionen der Menschen alleine nur zu diesen Linien („es gibt so viele Sprachen, wie es Blickwinkel gibt“).

Wenn der Mensch heutzutage (der arabische und der nicht-arabische) mit sich selbst mehr und mehr mittels des Bildschirms umgeht, so fragt er sich, sobald er sein Bild auf dem Bildschirm sieht: Wie? Wann? Wo? Hat dieses Bild einen Platz? Lebt es? Oder ist es nur ein Bild?

Die Freiheit zu schaffen

Kurz gefasst, der libanesische Krieg hat die Libanesen entflammt. Er wandelte die Kunst, die Expression und die Kreativität von einer willentlichen Tat zu einer Pflicht. Er produzierte eine große Menge an Texten und Expressionsformen. Die wirkliche Motivation für diese große Menge war jedoch die Pflicht und der Schuldkomplex. Was fühlt ein Maler, wenn er seine Stadt brennen sieht? Er empfindet es als seine Pflicht zu malen, mitzufühlen. Es ist eine Emotion, über die wir aber nicht sofort urteilen sollten. Ich selbst sehe in dieser Menge an künstlerischer und expressiver Produktion der Libanesen nicht viel Kreativität.

Kurz gefasst, der libanesische Krieg hat die Libanesen entflammt. Er wandelte die Kunst, die Expression und die Kreativität von einer willentlichen Tat zu einer Pflicht

Es ist ungesund, dass wir nicht diese gewaltige Menge an Expression besitzen. Ebenfalls ungesund ist, dass sie keinen bestimmten Anteil an Kreativität beinhaltet. Der Kritiker sollte jedoch nicht ungehalten sein, wenn er in dieser gewaltigen Menge an Expressionen nicht viele kreative Perlen erkennen kann, sondern sollte sich vielleicht sogar darüber freuen, weil sich ihm hier die Gelegenheit bietet, einmal in der Geschichte sehen zu können, wie eine künstlerische Produktion eine Pflicht bis zu diesem Grad darstellt – und das Resultat eines Schuldkomplexes und nicht des Luxus, wie es zuvor der Fall war. Ich bin gegen die Verleumdung und Diffamierung der nicht erfolgreichen künstlerischen Arbeiten dieser gewaltigen Menge. Und ich bin nicht einverstanden mit den Kritikern, die ihnen entgegenrufen, dass man die Menschen tun lassen sollte, was sie wollen und können. Diejenigen, die sich ausgedrückt und Arbeiten produziert habe, die vielen Leuten nicht gefallen, tragen keine Schuld. Sie haben zum Beispiel niemanden getötet, und sie haben niemandem etwas Böses getan. Sie haben ein Bild gemalt, das gemäß bestimmter künstlerischer Maße nicht schön ist, sie haben einen langweiligen Film produziert, einen schlechten Roman geschrieben usw. … Ein jeder von uns sollte den anderen gegenüber barmherzig sein: Dies ist die Zeit der Barmherzigkeit.

Borhane Alaouié

Ubersetzung: Achmed Khammas

Veröffentlicht im „Al-Hayah Magazine“ am 20. September 1993

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