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Auf der provisorisch beleuchteten Treppenhaus-Bühne eines schäbigen Mietshauses stellen sich die fast ausschließlich migrantischen Bewohner*innen vor – Kinder und Erwachsene, schüchtern und mutig beschreiben sie ihre Arbeits-, Schul- und Sprach-Situation. Dieser in seiner Münchner Zeit gedrehte kurze Dokumentarfilm des jugoslawischen Filmemachers Želimir Žilnik INVENTUR METZSTRASSE (1975) könnte bereits der Vorbote eines neuen Blicks auf Migration sein, ein Perspektivwechsel im Sinne der „Autonomie der Migration“. Explizit autobiografisch wird es 1987 mit Goran Rebićs hinreißendem Super-8-Reenactment GEKOMMEN BIN ICH DER ARBEIT WEGEN (1987), worin der Filmemacher die Migrationsgeschichte seines Vaters Ratko Rebić als Roadmovie in Österreich nachinszeniert. Die Musik kommt von den Schallplatten des Vaters, unter anderem der populäre „Drina-Marsch“, der die rastlosen Fahrten von der Arbeitssuche zu den Arbeitsstellen wie ein Refrain begleitet.

„Sprechen mit“, statt „sprechen über“

In den neunziger Jahren öffnen und vervielfältigen sich die Strategien einer selbstbestimmten Bearbeitung von Migrationserfahrungen, das „Sprechen mit“, das speaking nearby (Trinh T. Minh-ha) löst das „Sprechen über“ ab. In MEIN VATER, DER GASTARBEITER (1995) erzählt Yüksel Yavuz seine Familiengeschichte; wie sein Vater 1968 aufbrach und dann 16 Jahre lang auf einer Hamburger Werft tätig war: „Ich sah, dass mein Vater wie ein Wahnsinniger daran arbeitete, Spuren zu hinterlassen, die die Spuren in seinem Körper ausgleichen sollten“, während Yavuz’ Mutter im kurdischen Teil der Türkei, der von immer neuen militärischen Angriffen bedrängt war, „für den Lauf des Alltags sorgte“. Ein Grundprinzip der migrantischen Erzählung kommt hier zum Tragen: eine oft fragmentarische Montage des Transitären, der von Mobilität bestimmten (Nicht-) Einheit von Raum und Zeit. Als ein weiterer späterer Gründungsfilm der autobiografischen Bearbeitung von Migration gilt Fatih Akins WIR HABEN VERGESSEN ZURÜCKZUKEHREN (2001).

Eine Geschichte des autobiografischen migrantischen Films zu schreiben, würde hier den Rahmen sprengen. Erleichterte Zugänge zu Kameras, Aufnahmegeräten, Material und Homevideo-Sammlungen wie auch die Selbstverwertungen im kognitiven Kapitalismus fördern die Formate aus der Ich-Perspektive, an der HFF-München sind aktuell etwa zehn Prozent der Abschlussfilme autobiografisch, an anderen Filmhochschulen und Kunsthochschulen dürften es deutlich mehr sein, auch wenn die postmigrantische Gesellschaft noch längst nicht angemessen in diesen Ausbildungsstätten repräsentiert ist.

Eine wichtige Veränderung des Diskurses zu Migration erfolgte in den späten neunziger Jahren mit dem aktivistischen Zusammenschluss „kanak attak“, eine Plattform, die sich vehement von identitätspolitischen Zuschreibungen distanzierte und deren Einfluss sich bemerkbar machte im „Projekt Migration“ (2005-2006), in Universitäten und Kunstakademien, Publikationen, Ausstellungen, Filmfestivals bis hin zum bundesweiten Bündnis „NSU-Komplex auflösen!“ (2016/17). Mit dem kurzen Kanak-TV-Video WEISSES GHETTO (2002) entstand ein inzwischen legendärer Beitrag gegen den damals weit verbreiteten mehrheitsgesellschaftlichen Integrations-Imperativ.

Die produktiven neunziger und frühen zweitausender Jahre haben das Feld und die Strategien (post-)migrantischer Selbstbilder erweitert mit dokumentarischen und nicht nur autobiografischen Filmen von u.a. Seyhan Derin, Rahim Shirmahd, Angela Melitopoulos, Hatice Ayten, Serap Berrakarasu, Tsitsi Dangarembga, Sylvia Schedelbauer, Hito Steyerl, Angelika Nguyen, Wanjiru Kinyanjui, Angelika Levi, Aysun Bademsoy, Branwen Okpako, Cem Kaya, Sun-ju Choi, Mabouna II Moise und Brigitta Kuster. Das geht bis hin zu Can Candan sowie den eher fiktionalen Arbeiten von Thomas Arslan, Ayşe Polat, Fatih Akin, Hussi Kutlucan, Angelina Maccarone. Das Coming of Age-Kammerspiel GÖLGE (1980) von Sema Poyraz und Sofoklis Adamidis, eine Familienerzählung – wenn auch nicht autobiografisch-dokumentarisch –, gilt inzwischen als der Anfangspunkt des türkisch-deutschen Kinos. An dieser Stelle möchte ich schlaglichtartig einige längere Filme des letzten Jahrzehnts aus dem deutschsprachigen Raum betrachten, deren unterschiedliche Vorgehensweisen, Selbstdarstellungen und Kamerapositionierungen ein sehr bewegtes Feld von situiertem Wissen eröffnen, eher zufällig als gewollt sind hier alles Filmemacherinnen.

Schlaglichter auf ein bewegtes Feld

Mit ihrem Vater inszeniert sich Pary El-Qalqili in einem Kellerraum, gefliester Boden, eine nackte Glühbirne, ein flaches Sitzkissen in der Ecke: eine evokative Verhörsituation, doch in ihrem Kampf um einen Dialog sitzen beide nebeneinander. In SCHILDKRÖTENWUT (2012) geht es darum, dem palästinensischen Vater und seiner Einkapselung näher zu kommen, was überhaupt erst durch Anwesenheit und Autorität einer Kamera möglich scheint. Der Film lebt von strengen Kadragen, von Anspannung, Dunkelheit, empfundener Enge im deutschen Exil – während auf den gemeinsamen Reisen nach Palästina der Blick offener und beweglicher wird und der Habitus des Vaters sich ändert.

Auch für Ines Johnson-Spains Film BECOMING BLACK (2019) ist ein Gespräch mit dem (Zieh-)Vater zentral. Sie ist in der antirassistischen Staatsdoktrin der DDR aufgewachsen, als Tochter eines Studenten aus Togo. „Die Kamera auf mich selbst zu richten, bedeutete auch“, so Johnson-Spain im Gespräch, „bewusst Situationen wiederherzustellen und diesem klassifizierenden Blick von außen ausgesetzt zu sein, unter dem ich Jahrzehnte gelitten hatte. Dieses Mal selbstbestimmt, in einer Art selbst-arrangierter Laborsituation“.

Kurdwin Ayubs Film PARADISE! PARADISE! (2016) handelt als tragikomisches soft-Melodram mit Heimvideo-Momenten von den transnationalen (Gefühls-)Ökonomien einer Familie, die seit 1991 in Österreich lebt. Die Filmemacherin reist als Videobegleiterin ihres Vaters Omar in den Nord-Irak, der dort eine Wohnung kaufen möchte. Sie filmt als kritische und oft ironische Zeugin des Projekts mit präzisem Blick für Investitionslandschaften, Interieurs ebenso wie für Geschlechter- und Familienkonstellationen. Oft lässt sie den Vater eingreifen, der sich dann als gefühlvoller und stolzer kurdischer Patriot inszeniert, voller abgründigem Zweckoptimismus.

Um vieles Unausgesprochene in der Geschichte ihrer jüdisch-griechisch-deutschen Familie kreist Yara Haskiels Film TSAKALOS BLUES (2014). Haskiel selbst ist in Deutschland aufgewachsen, ihr Vater Gabriel lebte als Staatenloser zwischen Thessaloniki, Haifa und München, ihr sephardischer Großvater, der die Verschleppung in das Zwangsarbeitslager in Auschwitz überlebte, war in der Nachkriegszeit Kneipenwirt in München. Haskiel kreiert mit ihrem Film ein imaginäres filmisches Familientagebuch, das nie existierte, weil die Familie keinen Zugang zu Super-8 hatte. „Wir hatten nur Fotos.“ Der Film umkreist die vielen Übergangsräume der Migration: „... eine Geschichte, in der das Eigene aus dem Bindungslosen entstand.“ (Peter Weiss). Mehrmals reicht die Regisseurin die Kamera an ihren Vater weiter und animiert ihn, Fragen an sie zu richten.

In ALLEINE TANZEN (2012) begibt sich Biene Pilavci mit ihrer aus der Türkei stammenden Familie auf die Spur körperlicher und seelischer Gewalterfahrungen. Sie bricht mit Tagebucheinträgen und Heimvideos die Fassaden der Familienrituale auf, kommentiert sie lakonisch oder verzweifelt. Immer wieder wird der Film von den Protagonist*innen beschimpft. Die Kamera ist mal Katalysator mal Schutzschild in den Ausnahmesituationen, die den Umgang der Familie mit ihrer gewaltvollen (Klassen-)Geschichte verändern.

Serpil Turhan beschäftigt sich schon in ihrem während des Studiums entstandenen Hörbild JAHRGANG 76 mit drei Personen aus der zweiten Generation türkischer Immigration. Ihre besondere, zugewandte und ausführliche Form, Gespräche zu führen, entwickelte Turhan weiter in DILIM DÖNMÜYOR – MEINE ZUNGE DREHT SICH NICHT (2013). Sie hat beim Dreh alles alleine gemacht. Die Kamera und den Ton.

Vielfältige Erzählungen von Aufbruch und (Nicht-)Ankommen

Was passiert in allen diesen sehr verschiedenen dokumentarisch-essayistischen Filmen, die oft ihre zentralen Motive und die dramaturgische Verdichtung erst im Verlauf des Drehs oder während der Montage entdecken? Wie deutlich wird die Spannung zwischen vertraulicher Aneignung und gewagter Konfrontation mit den aufbrechenden Familiennarrativen gezeigt? Was wird neu ausgehandelt, und was überhaupt erst durch die technisch ausgerüstete Autorität des/der Filmemachenden ermöglicht? Wie wirken Entrechtungserfahrungen und Arbeitsverhältnisse auf die Familien ein, und wie lässt sich davon erzählen, ohne einfach Viktimisierungen zu wiederholen? Die vielfältigen Erzählungen von Aufbruch und (Nicht-)Ankommen in migrantischen Familien treffen auf die Subtilität widerständiger Körper, auf eigensinnige Strategien, die den Verletzungen trotzen. Da sind Kinder, die ihre Eltern beschützen oder angreifen. Und sich selbst darin verletzlich machen. Geschwister, die verschwinden und wiedergefunden werden. Verlorene Sprachen. Mit dem Schweigen umgehen. Das erzählerische Ich wird zu einer Kippfigur, die sich aussetzt, bestätigt, destabilisiert. Und ob überhaupt jemals die Familie besser verstanden wird? Alle Filme verändern ihre Macher*innen. Neue beunruhigende Rätsel platzen in diesen Raum hinein. Manches Unausgesprochene in den Familien korrespondiert mit Unsichtbargemachtem in der Mehrheitsgesellschaft. Aber alles, was da ist, könnte verbunden sein, und die porösen Subjektpositionen könnten immer neu erfunden werden.

„Der Blick zu mir und mein Blick zurück ist wichtig. Der Blick in die Kamera ist mir wichtig. Dieses Direkte und Klare ... Es war einfach nicht notwendig mich ins Bild zu setzen“, sagt Serpil Turhan im Gespräch über DILIM DÖNMÜYOR – MEINE ZUNGE DREHT SICH NICHT. „Ich bin trotzdem die ganze Zeit da, zu hören, zu spüren, mein Blick, meine Beziehung zu den Personen und den Orten waren für mich auf diese Weise richtig zu erzählen: eine neue Begegnung zu schaffen, Intimität und einen neuen Raum im Gespräch mit den Großeltern und meinen Eltern zu ermöglichen. Ihnen anders, neu gegenüber zu sitzen als sie es gewohnt waren. Als ich es gewohnt war.“
Madeleine Bernstorff, Texte und Filmprogramme.

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