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Der erste Schnitt führt vom Berlin der frühen achtziger Jahre in die Trümmerlandschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Blickwechsel von der Mensa der Technischen Universität hoch über dem Reuterplatz hin zu den historischen Luftaufnahmen von der zerstörten Stadt wirkt nicht so rabiat, wie es in der Beschreibung scheinen mag. Beiden Bildern fehlt die Farbe. Das zeitgenössische Berlin liegt im Dunst der Zeit, Autos, Industrie, Kohleheizungen, die historischen Aufnahmen sind von ähnlichem, allerdings leicht kontrastreicherem Grau. Der Schnitt begründet schnell und sehr unkompliziert, was den Filmstudenten Raoul Peck offenbar interessiert. Wo bin ich gerade? Was ist das für ein Ort? Was verbindet ihn – und wie – mit der Geschichte? Und wie finde ich Verbindungen von hier, diesem Platz, an dem ich gerade stehe, in die Welt hinaus? Peck findet all diese Verbindungen in der Person Helmut Kohls, der häufiger im Off zu hören als im Bild zu sehen ist und nicht namentlich genannt wird, sondern auftaucht als „Deutscher Kanzler, XX Jahrhundert“, in Schrifttafeln.

„Wir haben die Lektion der Geschichte gelernt“, ist dessen gespreizter Satz, der nachhallt, als Zusammenfassung der letzten Bundestagsdebatte um den NATO-Doppelbeschluss im November 1983. Der Applaus für Kohls Satz klingt tatsächlich laut nach, wenn Peck am Ende wieder über dem Reuterplatz steht mit der Kamera. Berlin, das aktuelle wieder, das Berlin der Bonner Republik, dieses West-Berlin, liegt immer noch im Dunst. Für den Filmemacher hat sich nichts geklärt, ist nichts aufgeklärt, die Suche hat zu einer Kreisbewegung geführt. Und der Hall, der über den letzten Bildern liegt, stellt die Frage, ob das wirklich alles gewesen sein kann. Kann von den Bildern des zerstörten Berlin 1945 ein Weg führen zu den Sätzen Kohls, der ebenfalls noch mit dem Refrain aus seiner ersten Regierungserklärung von 1982 zitiert wird: „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.“ Ist das alles, fragt Raoul Peck und schaut auf West-Deutschland und seine Menschen. Straßenverkehr, Fahrsteige, Alltagsstimmen im Off. Was ist geblieben? Was wissen die? Oder: Was wollen die wissen? Aufgeladen hat Peck diese Bilder da längst mit einem – leicht verkürzten – Clausewitz-Zitat, das die Bilder der Zerstörungen des Krieges kommentiert. Bei Peck: „Kriege gebildeter Völker sind weniger grausam.“

Die achtziger Jahre waren das Jahrzehnt, in dem niemand im Westen, schon gar nicht im Westen Deutschlands, daran gezweifelt hat, dass „wir“ – und ich glaube, dass ist es, was Peck hier sucht, eine Art westdeutsches „Wir“ – gewinnen werden oder längst gewonnen hatten

Peck, der als Kind und Jugendlicher die staatlichen Transformationen vom kolonialen Belgisch Kongo bis zu Mobutus Kongo, also erneut unter anderen Umständen westgesteuerten, Zaïre miterlebt hat, erlaubt sich da einen Spott, der jedem Bild und jedem Ton des Films erhalten bleibt. Spöttisch ließe sich auch der Titel verstehen: MERRY CHRISTMAS DEUTSCHLAND ODER VORLESUNGEN ZUR GESCHICHTSTHEORIE II könnte mühelos einen fünfstündigen Filmessay ankündigen statt einen Kurzfilm, der gerade einmal 18 Minuten dauert und zur Miniatur schrumpft, was im Land selbst gern als groß und bedeutend wahrgenommen worden ist. Wie oft dem welterfahrenen Peck in West-Deutschland nach ein paar Semestern Studium wohl schon die Welt erklärt worden war? Die achtziger Jahre waren das Jahrzehnt, in dem niemand im Westen, schon gar nicht im Westen Deutschlands, daran gezweifelt hat, dass „wir“ – und ich glaube, dass ist es, was Peck hier sucht, eine Art westdeutsches „Wir“ – gewinnen werden oder längst gewonnen hatten. Da kriegt der Clausewitz dann noch den doppelten Boden. Über die neue Nachkriegslogik war ja längst ein neues Wir oder vielleicht auch ein multiples Wir entstanden, das sich in Teilen bis heute erhalten hat. Wir: Der Westen nämlich.

Die gebildeten Völker jedenfalls hatten einen ordentlichen Anteil daran, dass die postkoloniale Ordnung des größeren Kongo, gleich ob das staatliche Gebilde nun nach der Abwicklung von Belgisch Kongo dann Republik Kongo oder Demokratische Republik Kongo oder eben Zaïre genannt wurde, über eine postkoloniale Unordnung nicht hinauskam. Die gebildeten Völker sorgten da schon für. Hat Raoul Peck, der hinabblickend auf einen mehrmals gezeigten Fahrsteig auch hinter der Kamera stand, die Leute in ihrer statischen Bewegung noch schnell gefragt, ob sie darum wussten, was auch in ihrem Namen in Zentralafrika geschehen war und noch passierte? Oder haben die, die sich umdrehen und sich fragen, was das für einer ist, der da hinter der Kamera steht, nicht mehr gesehen als einen, der nicht dazu gehört? Also ganz alltäglich und der Logik der Weltenzeit gehorchend?

Kanzler Kohl wusste die Antwort auf diese Fragen und auf noch andere. „Wir Deutsche“, sagt er, im Off, während Mitglieder der Bundestagsfraktion der Grünen gezeigt werden, die protestierend großformatige Kriegsfotos durch den Plenarsaal tragen, „wir wollen diesen Frieden in Freiheit“. Der Filmstudent Raoul Peck hat in West-Berlin der achtziger Jahre weder den Frieden gefunden noch die Freiheit. Das ist es, was dieser kurze Film erzählt.

Max Annas ist Schriftsteller und lebt in Berlin.

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