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 „Dokumentarische Arbeiten“, hat Hito Steyerl in ihrem Buch Die Farbe der Wahrheit geschrieben, seien „Paläste der Erinnerung, die im Gegensatz zu Archiven, Dokumente nicht im Raum, sondern auch in der Zeit“ ordnen würden. Zweifellos sind ihre frühen Filme – DEUTSCHLAND UND DAS ICH, BABENHAUSEN, DIE LEERE MITTE, NORMALITÄT 1–X – solche Paläste. Das Wort „Palast“ allerdings suggeriert auch Schönheit und Verschwendung – und Betrachtende, die unter „Aahs“ und „Oohs“ durch die Räume schweifen. Solche Assoziationen treffen auf den damaligen Kontext dieser Filme sicher nicht zu. Für jemanden, zumal wenn er die frühen 1990er Jahre miterlebt hat, ist die Erinnerung daran eher klaustrophobisch.

Allerdings hat dieses Jahrzehnt alle Themen aufgeworfen, mit denen wir uns heute noch beschäftigen: die Konstitution von Gemeinwesen, die Auswirkungen von Rassismus und Antisemitismus, den Umgang mit Rechtsradikalismus, den wachsenden Einfluss populistischer Spaltungen, die Homogenisierung der Städte, die Rolle des Militärischen in „identitären“ Auseinandersetzungen, den Wandel von Öffentlichkeit und Medialität, die zunehmende Macht von Bildern und das Problem mit deren Zeugnis und „Wahrheit“. Wenn man so will, leben wir immer noch in einer Konstellation, die wir als „lange 1990er Jahre“ bezeichnen könnten.

Das Hervorbringen lebendiger Personen

Zugleich aber ist die Erinnerung an die damaligen Verhältnisse und Diskurse schwach. Das ist erstaunlich, denn die damalige Zeit war auch die Zeit, in der Aufnahme-, Speicher- und Distributionsmedien in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß zugänglich wurden. Das löste eine populäre Dokumentationswut aus, wodurch die traditionellen Archive durch eine Myriade von ständig verfügbaren, alternativen Wissensdepots ergänzt wurden. Allerdings bedeutet Dokumentieren – Steyerl verweist in Die Farbe der Wahrheit auf Jacques Derridas Gedanken zum Archiv – auch einen Schutz vor der Erinnerung, die es beschützt: Gerade die Aufbewahrung schafft die Möglichkeit zu vergessen. Und gerade weil wir durch das World Wide Web jederzeit zurückgehen und zugreifen können, tut es häufig niemand mehr. In diesem Sinne stehen die Älteren heute oft ratlos vor den Wissenslücken der Jüngeren, die sich diese Lücken erlauben können, weil scheinbar alles Wissen unentwegt zur Verfügung steht. 

Die 1990er Jahre lagen aber noch in der Periode vor dem Internet, und die Arbeit des Erinnerns bestand häufig in einem mühsamen Neu-Anlegen von Archiven, in der Schaffung von alternativen Wissensbeständen. Um die Probleme der Zeit zu bearbeiten, waren die traditionellen Archive nur unzureichend ausgestattet. Für die Forschung zu Rassismus etwa gaben die historischen Archive kaum etwas her; sie hatten kein Wissen über Rassismus; die Dokumente waren in völlig anderen Rubriken zu finden oder die entsprechende Archivierung oder Sammlung war gar nicht geleistet worden. Diese Arbeit des alternativen Dokumentierens war Tätigkeit im eigentlichen Sinne, ein schwieriger Vorgang des Verbindens, Suchens und Ordnens. Hito Steyerls frühe Filme sind solche alternativen Dokumentationen, wobei sie zugleich eben die neuen Möglichkeiten der Aufnahmemedien ausschöpften: Dass plötzlich Handkameras und Computer konnten, wozu vorher nur Riesengeräte und Studios fähig waren, bereicherte die Formen des Dokumentierens enorm. In DIE LEERE MITTE betont Steyerl, sie wolle eine „Tradition verlorener Prozesse begründen“ und „dem Namenlosen einen Namen geben“. Es handelt sich um eine Notiz von Siegfried Kracauer, die dem unvollständigen und posthum veröffentlichten Werk History. The Last Things before the Last als Epilog dient. Im Original lautet der Satz: „Focus on the ‚genuine‘ hidden in the interstices between dogmatized beliefs of the world, thus establishing a tradition of lost causes; giving names to the hitherto unnamed.“ Tatsächlich ist die Kombination aus „genuine“, „causes“ und „unnamed“ bestechend. Im Film ist „causes“ als „Prozesse“ übersetzt, aber das Wort umfasst eine Gemengelage aus Angelegenheit, Anliegen, Gegenstand und Ursache. Das Erinnern bringt einst lebendige Personen hervor, aktive Personen mit Wahrheiten und Anliegen, die bislang namenlos geblieben sind. Kracauer selbst ist nicht nur Stichwortgeber, auch er wird in DIE LEERE MITTE zu einer lebendigen Person, wenn berichtet wird, dass er als Jude aus Nazi-Deutschland fliehen musste. 

Import und Fantasie

Während ich diesen Text schreibe, finden in Deutschland vielerorts massenhafte Solidaritätskundgebungen für George Floyd statt, einem schwarzen US-Amerikaner, der in Minneapolis durch brutale Polizeigewalt ums Leben gekommen ist. Offenbar bedurfte es eines symbolischen Bildes aus den USA – das Knie der Staatsgewalt im Nacken eines schwarzen Mannes –, um Rassismus auf so geballte Weise auf die deutsche Tagesordnung zu setzen. Nach dem rassistischen Anschlag in Hanau mit neun Toten war bereits ein Satz aus den USA übertragen worden: „Say their names“. In Deutschland allerdings verursacht die Staatsgewalt nicht so häufig den direkten Tod der „Namenlosen“ wie in den USA. Die Sicherheitsbehörden verfolgen seit den frühen 1990er Jahren angesichts von in Serie stattfindenden Angriffen eher eine Linie des Rückzugs, der Entnennung, der Opferbeschuldigung, des Ermittlungsversagens und der Verharmlosung. In der Periode zwischen DEUTSCHLAND UND DAS ICH und NORMALITÄT 1–X lag die von endlosen Debatten begleitete Rückkehr der gerade vereinigten Bundesrepublik zur „Normalität“ und die gleichzeitige Neudefinition dieser „Normalität“ für Personen nichtdeutscher Herkunft, nämlich als serielle, rassistische Gefährdung des Alltagslebens. Insbesondere in DIE LEERE MITTE wird wiederholt thematisiert, wie das Fallen von Grenzen wiederum Grenzen hervorbringt; Spaltungen innerhalb der Bevöl- kerung, die eine neue Qualität hatten, aber auf alte Spaltungen zurückgriffen.

Selbstverständlich richtete sich auch damals der Blick auf die USA auf der Suche nach Bezeichnungen oder Erklärungen. Die 1990er Jahre waren auch die Zeit der sogenannten postkolonialen Theorie, einer Theorie, die Geschichte und Kultur immer als Hervorbringungen eines Handgemenges betrachtete, eines extrem ungleichen Handgemenges, das durch Eroberungen, Versklavung, Kolonialismus und verstetigte globale Ungleichheiten geprägt war. So verbirgt sich in der kulturellen Normalität des Westens eine unsichtbare Gewaltgeschichte, die von „verschwiegenen Anderen“ bevölkert wird, wie es bei Stuart Hall einmal hieß, einer Menge von einst lebendigen Personen, die in „unserer“ Geschichte keinen Namen haben und deren Anliegen unterdrückt und vergessen wurden.

Hito Steyerl hat sich diese Theorien zu eigen gemacht, aber sie auf eine unakademische und außerordentlich produktive Art und Weise auf Deutschland bezogen. Tatsächlich findet der Theorie-Import häufig buchstabengetreu statt – in zusammenfassenden Abhandlungen oder in der undifferenzierten Übertragung von Schablonen aus einem anderen Zusammenhang. In den frühen Filmen von Steyerl dagegen werden jüdische, schwarze, migrantische Erfahrungen aufgegriffen, und die Namen der Namenlosen tauchen dort auf, wo Köpfe in Museen aufbewahrt werden, Palais abgetragen wurden oder Spuren sich im Nichts verlieren: Kula, Tony, Moses, Felix, Bayume, Friedrich, Farid. Zentrale lebende Personen der Filme wie etwa die Punks, die mit ihren Bauwagen den ehemaligen „Todesstreifen“ in der „leeren Mitte“ Berlins besetzt halten, wollen ihre Namen nicht nennen, aus Angst vor Sanktionen. Sie leben als Namenlose in einer Transitzone, denn ihnen ist klar, dass nach der kompletten Renovierung der Mitte kein Platz mehr sein wird „für Leute, die andere Lebensansprüche haben“.

Begehungen und Begegnungen 

In Die Farbe der Wahrheit heißt es angesichts der zunehmend prekären Wahrheit und Zeugenschaft von Bildern in dokumentarischen Arbeiten auch, die Form sage dennoch die Wahrheit über den Kontext des Bildes, seine Herstellung und deren Bedingungen. In diesem Sinne ist es lohnenswert, einen Blick auf die formalen Aspekte der frühen Filme zu werfen, denn ihre Machart ist eine spezifische Art der Wissensbildung. Die Filme suchen stets bestimmte Orte auf, sie sind buchstäblich Begehungen durch die Filmemacherin und ihre Kamera. Begangen werden Museen, Friedhöfe, Volksfeste, Kundgebungen, Umzüge, Orte von Brandanschlägen, Baustellen sowie Orte, an denen Geschichte und Geschichten unsichtbar geworden sind, weil die Gebäude nicht mehr stehen oder Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt werden. Der Zusammenhang zwischen den begangenen Orten hat etwas Assoziatives – wie bei einer Recherche kommt die immer selbst präsente Filmemacherin von einem zum anderen. Der Zusammenhang ist stets deutlich, das Historisch-Systemische der Grenzen gewinnt Kontur, aber die Filme erheben weder Anspruch auf Vollständigkeit noch wird die Komplexität der Situation geleugnet und in Schablonen aufgelöst. Wenn es um das ehemalige Vergnügungslokal „Haus Vaterland“ in der Mitte Berlins geht, dann werden die historischen Personen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit belassen. Bayume Mohamed Husen, ehedem in der Kolonie Ostafrika in zweiter Generation Soldat in deutschen Diensten, war im „Vaterland“ Kellner im exotisierten Ambiente, bevor er zum Paradeschwarzen der NS-Filmindustrie avancierte. Grauenhafte Schlager wie „Ich lasse mir meinen Körper schwarz bepinseln, schwarz bepinseln / Und fahre nach den Fidschi-Inseln“ komponierte Friedrich Hollaender nur wenige Jahre, bevor er 1933 als Jude Deutschland verlassen musste.

Die Begehungen sind zugleich auch immer Begegnungen – sowohl gesuchte als auch zufällige. Die jeweiligen „talking heads“ sind keine prominenten Personen, bringen aber ihre Expertise, ihre Anliegen und ihre Erfahrungen ein. In DEUTSCHLAND UND DAS ICH ist es die Nietzsche-Kennerin Britta Glatzeder, in Babenhausen ein Aktivist der antirassistischen Gruppe Café Morgenland, in DIE LEERE MITTE sind es zwei Studierende chinesischer Herkunft, Dong Yang und Huan Zhu, sowie eine Gruppe von unsichtbaren Punks. Diese Personen denken und forschen zusammen mit der Filmemacherin und tragen enorm differenzierte Gedanken zu Identität, Rassismus, Architektur oder Verdrängung bei. Und sie widersprechen auch – am Ende von DIE LEERE MITTE gibt es eine lustige Szene, in der Dong Yang Steyerls Frage als „bisschen langweilig“ abtut. Die Personen und die Art der Zusammenarbeit stehen im maximalen Gegensatz zu den „talking heads“ der gezeigten Talkshows aus dem deutschen Fernsehen. Hier verkünden die männlichen Protagonisten mit großer Sicherheit ihre jeweiligen Positionen zum Thema „Identität“.

Steyerl scheut vor keiner Begegnung zurück. Sie kommt auch mit jenen ins Gespräch, die während ihrer Saufgelage (auf dem Oktoberfest) oder Demonstrationen (der IG Bau gegen „Lohndumping“ durch Arbeitskräfte aus dem Ausland) offen rassistische Parolen grölen. Zudem zeigt sie, dass es auch immer Widerspruch gibt – jedes Mal treten weitere Personen auf, die sich gegen diese Parolen wenden. Bei allen Begehungen und Begegnungen bleibt die Filmemacherin Bestandteil der von ihr erzeugten Bilder. Die Kamera schafft zwar Distanz, aber die Haltung ist eine der Nähe, des Involviertseins, des Suchens, Wissenwollens und der Neugier. Das stimmte damals überein mit einer Haltung, wie sie etwa die Cultural Studies ihren Gegenständen gegenüber einnahmen, und war eben maximal weit entfernt von den damaligen Gepflogenheiten der Kritik in Deutschland, wo stets von einem Außerhalb aus argumentiert wurde – auf der Grundlage jener „dogmatized beliefs of the world“, von denen bei Kracauer die Rede war, egal ob es sich um die neugefundene nationale Identität handelte oder eine leicht abgehalfterte „Kritische Theorie“.

Parallelitäten und Überlagerungen

Filmisch werden die Begehungen und Begegnungen begleitet von einfachen Formen wie Schwenks oder Überblendungen, die dafür sorgen, dass aktuelle Parallelitäten oder historische Überlagerungen sichtbar werden. In DEUTSCHLAND UND DAS ICH gibt es eine Szene, in der Britta Glatzeder von einem Balkon über das „neue Goethe-Institut“ spricht: „Die haben sich da jetzt einen Super-Monumentalbau hingestellt.“ „Als sie allerdings fertig waren“, meint sie weiter, „haben sie gemerkt, dass sie mit der Adresse Dachauer Straße international ziem-lich peinlich dastehen, und daraufhin haben sie dann den Haupteingang von da drüben hier nach hinten verlegt in die Helene-Weber-Allee.“ Allerdings zeigt die Kamera, dass es von diesem neuen, unbelasteten Haupteingang nur eine Drehung benötigt, um vor den lagerähnlichen Baracken einer Asylunterkunft zu stehen. In der nächsten Einstellung wird die Kamera zu einem ausgebrannten Souterrain gerissen, worauf Zeitungsbilder von Feuerwehreinsätzen und Rettungsaktionen eingeblendet werden. Ein Mann zeigt der Filmemacherin in einer absurden Geste stolz sein Feuerzeug mit einer Riesenflamme. In den nächsten Zeitungsausschnitten sind auch die Opfer des Brandanschlages zu sehen.

Überblendungen sind wiederum das Mittel der Wahl in DIE LEERE MITTE. Schon zu Beginn „kehrt die Mitte zurück“, indem ein Bild von der Berliner Mauer überblendet wird mit einem Bild jener Baustelle, die diese neue Mitte zur Zeit der Filmaufnahmen war. „Am Potsdamer Platz überlagern sich die Bilder und die Zeiten“, sagt Steyerl selbst, und genau das zeigt der dann folgende Film in permanenten historischen Überblendungen. Das Besondere an dem Film ist die sehr eigenständige Analyse eines komplizierten Geflechts von Machtarchitektur, inneren Grenzen etwa gegenüber Juden und Eingewanderten, äußeren Grenzziehungen in Europa (Berliner Konferenz von 1878) und in Übersee (Berliner Konferenz von 1884), kolonialer Musealität, exotisierter Unterhaltung, Weltkriegsvorbereitungen und Mauertoten. Widersprüche werden nicht ausgespart: Die teilweise rassistischen Demonstrierenden gegen Lohndumping erscheinen zugleich als fast ängstliche und bedrohte Personen, während die „Anderen“ keineswegs nur als Opfer auftreten – ausführlich erzählt wird die Geschichte der „Legion“ des „freien Indien“ in der Waffen-SS, deren Mitglieder ansonsten von den Nazi-Oberen als „rassisch minderwertiges Material“ betrachtet wurden.

Die Gewalt der Normalität 

Die Rückkehr der Mitte ist in den frühen 1990er Jahren aber eben auch eine Geschichte gewaltsamer Grenzziehung, zumal durch rassistische Gewalt. Diese Gewalt hatte einen seriellen Charakter – es folgte Anschlag auf Anschlag. Diese Serialität hat Steyerl in BABENHAUSEN und zumal in NORMALITÄT 1–X abgebildet. Vor den Gewaltserien versagen allerdings die filmischen Mittel: Was kann abgebildet werden, wenn die Gewalt ein Verschwinden organisiert hat? In BABENHAUSEN begleitet Steyerl eine Kundgebung gegen antisemitische Gewalt. Schmerzhaft lange sind die durch Brände beschädigten Häuser der jüdischen Familie Merin zu sehen. Aus dem Off trägt ein Vertreter von Café Morgenland eine Chronik serieller Ereignisse vor, eine Mischung aus gewalttätigen Attacken und feindseligem Behördenhandeln, die am Ende zum Wegzug der Familie aus dem Ort in Hessen führt.

In NORMALITÄT wird die Gewalt noch beklemmender. Die zehn kurzen Kapitel umfassen die Schändungen der Gräber der jüdischen Zentralratsvorsitzenden Heinz Galinski und Ignatz Bubis und anderer jüdischer Gräber (auch in Österreich), Neonazi-Demonstrationen, den Rohrbombenanschlag auf zum Teil jüdische Einwanderer in Düsseldorf-Wehrhahn, die tödliche Attacke auf Geflüchtete in Guben und die fortgesetzte Schändung des Erinnerungsortes an die Tat. Im siebten Teil, der sich mit dem Anschlag von Düsseldorf befasst, gibt Steyerl die Suche nach Bildmaterial auf – der Bildschirm bleibt schwarz, oder es ist unklar, was eigentlich zu sehen ist. „How can we see the structure of violence?“, fragt sie, und bezeichnet die „Normalität“ der wiedervereinigten Bundesrepublik in den davor liegenden zehn Jahren als Kriegszustand, in dem die Gewalt eine Maßnahme der Normalisierung sei: „a silent war called normality“.

Hat dieser Krieg 20 Jahre später aufgehört? Oder haben wir ihn nicht mehr gesehen oder uns einfach an ihn gewöhnt? Nach 2015 fanden die Anschläge gegen die Unterkünfte Geflüchteter erneut in Serie statt, und die Gewalt steigerte sich bis hin zu den tödlichen Angriffen von Halle und Hanau. Steyerls Schürfungen in den Charakter der sogenannten Normalität, die ein Privileg ist, auf Gewalt fußt und gleichzeitig für bestimmte Personen die Normalität des Lebens ständig gefährdet, sind von erstaunlicher Aktualität. Zweifellos ist die Welt eine andere geworden – in Berlin, in Deutschland, in der Mitte –, aber die Themen der „langen 1990er Jahre“ stehen weiter auf der Tagesordnung. Personen wie Steyerl, die damals bereits zu diesen Themen gearbeitet haben, konnten ein erstaunliches Reflexionsniveau erreichen, weil ihre (dokumentarische) Tätigkeit quasi ohne Vorbild war: Es waren persönliche Subjektivierungen einer Person, die Rassismus aus eigener Erfahrung kannte; notwendig unideologische und autodidaktische Freilegungen von Wahrheiten und vergessenen Anliegen und die produktiven Zusammenschauen eines Feldes, das so nur selten zusammen- geschaut worden war. Sowohl die Herangehensweise, die keineswegs idiosynkratisch ist, als auch das zutage geförderte Wissen haben im Vergleich zu anderen Arbeiten Steyerls bislang zu wenig Beachtung gefunden. So wäre es auch besser für die aktuellen Anliegen, wenn dieses Archiv nicht dem Vergessen seines Inhalts dienen würde.

Mark Terkessidis ist freier Autor und arbeitet zu den Themen (Populär-)Kultur, Migration, Rassismus und gesellschaftlicher Wandel.

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