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Cristina Nord: Der Begriff „Fiktionsbescheinigung“ kommt aus einem bürokratischen Kontext, aus dem Ausländerrecht. Wie kommt es, dass es zum Titel eines Filmprogramms wurde? 

Biene Pilavci: Eine Fiktionsbescheinigung bekommt ein Bürger oder eine Bürgerin, der oder die nicht aus der EU stammt, damit er oder sie weiterhin in Deutschland bleiben darf. Er oder sie stellt einen Folgeantrag auf Bleiberecht, und bevor dieser Antrag geprüft wird, erhält er oder sie eine Fiktionsbescheinigung ausgehändigt. Man geht grundsätzlich davon aus, dass er oder sie erst einmal bleiben darf. Es ist eigentlich im Sinne des oder der Antragstellenden. Bezeichnend und in meinen Augen typisch Alman daran ist, dass man überhaupt für diese Phase einen neuen Namen erfinden muss. Denn streng genommen erlaubt der Antrag an sich, dass man in Deutschland bleiben darf, solange dieser Antrag eben geprüft wird. Der zweite Aspekt ist, dass Fiktion natürlich an Film denken lässt. Man kommt nicht sofort darauf, dass es etwas mit Amtsdeutsch zu tun hat. Uns geht es hier um die Fiktion vom deutschen Filmkanon, von einer deutschen Filmhistorie. Die gibt es auch nicht, jedenfalls nicht so, wie sie gemeinhin gedacht wird. Wir wollen das ganze Brimborium damit ein bisschen aufs Korn nehmen und die Deutungshoheit in Frage stellen.

Enoka Ayemba: Der zweite Teil des Wortes ist ja „Bescheinigung“. Jemand erhält eine Bescheinigung, damit er oder sie bleiben kann. Und das ist etwas, was wir auch aus Kunst und Kultur kennen. Eine Akademie, Kurator*innen, eine Gruppe von erlesenen Personen entscheiden, wer zum Kanon, zur Filmgeschichte dazugehört und wer nicht, und diese Assoziation war so frappant, dass wir den Begriff treffend und pointiert fanden. Die Pointe gilt allerdings nur für Menschen, die nicht davon betroffen sind. Für die, die auf eine Fiktionsbescheinigung angewiesen sind, ist es alles andere als witzig, nicht zu wissen, ob man am Ende bleiben oder nicht bleiben darf. 

CN: Im Programm von diesem und letztem Jahr sind einige Regisseure und Regisseurinnen vertreten, die in Deutschland studiert und danach versucht haben, hier zu arbeiten. Sie konnten nicht Fuß fassen. Ich denke an Raoul Peck, Wanjiru Kinyanjui oder an Idrissou Mora-Kpai. Alle drei haben das Land verlassen und anderswo ihre Karrieren verfolgt. Man kann das als eine Art von umgekehrtem Braindrain beschreiben. Ich würde gerne die Frage aufwerfen, was das Ziel von „Fiktionsbescheinigung“ ist. Ein Bewusstsein für diese Lücken zu schaffen? 

EA: Uns geht es um die Frage der Zugehörigkeit. Welche Filme und welche Filmemacher*innen sind anerkannt und selbstverständlicher Teil der Filmkultur und welche nicht? Und weshalb ist das so? Für uns, die wir uns mit diesen Thematiken beschäftigen, war es einfach, aus dem Stegreif Filme zu nennen, die eigentlich dazugehören müssten und es nicht tun. Unser Ziel war, solche Filme auszusuchen, zu zeigen und dann die Gründe des Ausschlusses zu thematisieren.

CN: Wie seid Ihr denn bei der Filmauswahl vorgegangen? 

BP: Selbstbestimmtheit ist ein Schlüsselwort. Welche Filme sind selbstbestimmt erzählt, welche erzählen von innen heraus und gucken nicht von außen auf die Lebenswelten und Erfahrungen, die People of Color und Schwarze Menschen in Deutschland machen? Meine Recherchen ergaben, dass man als Filmemacher*in of Color radikal sein muss, damit man wahrgenommen wird. Entweder konzentriert man sich radikal auf seine Migrationsgeschichte und schöpft daraus, oder man entwickelt andere, radikale Geschichten. Nur die, die Aufmerksamkeit erregen, können sich etablieren. 

EA: Wir haben uns bei den Filmhochschulen umgeguckt. Dort beginnt man klassischerweise in Deutschland, wenn man Filmmacher*in werden möchte. Wir haben geschaut, auf welche Filme, die wir nicht kennen, wir stoßen. Aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Dann haben wir uns gefragt: Waren die Filmemacher*innen weiß, waren sie nicht weiß, welche Biographie hatten sie? Und warum kennt keiner diese Filme?  Um das zu überprüfen ist es oft gut, die Filmemacher*innen direkt zu fragen.
 

CN: Nicht alle Regisseure und Regisseurinnen im Programm sind unbekannt geblieben. Hito Steyerl ist erfolgreich im Kunstbetrieb, Thomas Arslan ist etabliert. Serpil Turhan ist vielleicht nicht so etabliert wie Thomas Arslan, macht aber regelmäßig Filme und zeigt sie auf Festivals. Sind das die glücklichen Ausnahmen? 

BP: Man muss es genauer betrachten. Mit Blick auf Arslans Biografie weiß ich nicht, ob ich es als Erfolg verbuchen würde, wenn ich gefühlt alle drei Jahre einen Film mache und nebenher eine Filmprofessur ausüben muss, um meine Fixkosten zu decken. Hito Steyerl hat ja gewissermaßen die Branche gewechselt. Möglicherweise aufgrund der Arbeitsbedingungen beim Film. Ich gehe bei ihr davon aus, dass die Strukturen im Kunstbereich grundsätzlich durchlässiger zu sein scheinen. 

EA: Uns ging es gerade darum, Filme zu zeigen, die tatsächlich nicht so große Resonanz bekommen haben. Unsere Vermutung ist, dass das an den Themen liegt, die die Regisseur*innen of Color in den Filmen behandeln. Vielleicht waren sie zu kritisch oder haben versucht, etwas anderes zu machen, als aufgrund ihrer Biographie von ihnen erwartet wurde. Wir wollten nicht unbedingt den hundertsten Film über die türkische Community vorstellen. Ein Künstler mit einer Biographie wie Thomas Arslan kann einen Film machen, der sich mit Filmgeschichte aus Frankreich beschäftigt. Die Biographie und das filmische Werk können sich ja voneinander lösen. Wie bei allen anderen Künstlerinnen und Künstlern besteht die Möglichkeit, beides zu entkoppeln. 

CN: Das ist ein gutes Stichwort und es erklärt, warum die Filme von Thomas Arslan so bemerkenswert sind. Die Trilogie aus GESCHWISTER – KARDEŞLER, DEALER und DER SCHÖNE TAG entstand in den 1990er- und frühen Nuller Jahren, zu einer Zeit, in der Migration ausschließlich als Problem begriffen wurde, auch im Kino. Es gab also Problemfilme, bis Thomas Arslan eine vollkommen andere Perspektive etablierte. Eine Perspektive der Selbstverständlichkeit, wenn man so will. Selbst noch da, wo ein Dealer die Hauptfigur ist, widerlegt der Film, was man an stereotypisierter Wahrnehmung im Kopf haben mag. Für mich war das seinerzeit ein echtes Aha-Erlebnis: Hier geht es um die Anordnung der Figuren im Raum und nicht um Kreuzberg-Klischees.

Zugleich gibt es im Programm Filme, die sich sehr dezidiert mit Rassismus und rassistischem Terror auseinandersetzen, ich denke an die Arbeiten von Forensic Architecture, Hito Steyerl und Cana Bilir-Meyer. Wir arbeiten ja nun schon eine Weile zusammen, und wir haben uns in dieser Zusammenarbeit oft darüber unterhalten, inwieweit es sinnvoll ist, Rassismus wieder und wieder zu thematisieren. Die Risiken sind groß: Zuschauer*innen of Color können durch die Bilder auf der Leinwand auf eigene schmerzhafte Erfahrungen zurückgeworfen werden, weiße Zuschauer*innen denken, sie hätten ihre Schuldigkeit getan, wenn sie sich im Kino mit Rassismus beschäftigen.

Was dabei in weite Ferne rückt, ist die Freiheit, die Thomas Arslan sich nimmt, wenn er einen Film über eine junge Schauspielerin in Berlin macht, die U-Bahn fährt, ein paar Stunden an einem See verbringt und als Synchronsprecherin arbeitet. Und gleichzeitig hilft es auch nichts, dieses Sujet auszuklammern. Am Anfang von Fiktionsbescheinigung hat mal eine*r der Kurator*innen – ich glaube, es war Karina Griffith – Toni Morrison zitiert, Rassismus sei eine Form der Ablenkung, die einen daran hindere, das eigene Potential zu erkennen und auszuschöpfen. Selbst wenn man anfängt, künstlerisch zu arbeiten, wird man immer wieder darauf zurückgeworfen, muss man sich damit auseinandersetzen, kann man sich nicht davon freimachen. In meinen Augen ist das ein Dilemma. Wie denkt Ihr darüber? 

BP: Ja, das ist tatsächlich ein Dilemma, Du hast recht, bzw. Toni Morrison hat recht. Thomas Arslans Filme zum Beispiel sind sehr durchlässig, er nimmt sich das Recht zu tun und zu lassen, was ihm vorschwebt. Wenn man einen Job hat, der einen unabhängig macht, dann hat man auch die Freiheit, einen Film selbstbestimmt zu erzählen. Dann können einem die Redakteure oder andere Geldgeberinnen nicht ständig reinquatschen, dann können sie nicht verlangen, dass man ihre stereotypisierte Wahrnehmung bestätigt. Das passiert ja oft genug, dass ein Regisseur, eine Regisseurin of Color eine Geschichte umsetzen soll, die eigentlich jemand anderes im Kopf hat. Dabei kann man sich weder weiterentwickeln noch entfalten. Wobei ich sagen muss, dass bei Arslans Trilogie immer das Kleine Fernsehspiel mit an Bord war. Damals waren die Formatzwänge offenbar weniger ausgeprägt als heute. 

EA: Ich denke es geht darum, dass Künstler*innen die Freiheit haben, sich ihre Sujets auszusuchen, ohne ständig auf Herkunft und Biographie verpflichtet zu werden. Wenn sie sich dann mit dem, was ihre Biographie mitbringt, befassen, können sie dies meist sehr viel besser als jemand, der andere Erfahrungen gesammelt hat. Denn sie stecken ja drin, sie haben eine Innenperspektive. Und das sollten wir als Reichtum für unsere Filmlandschaft betrachten. Ich kenne keinen Filmregisseur, keine Filmregisseurin, die wirklich mit Lust zum Thema Rassismus arbeitet. Aber sie müssen das auch machen. Einerseits. Und andererseits müssen die Künstler und Künstlerinnen auch die Möglichkeit haben, andere Sachen zu machen und dabei genauso erfolgreich zu sein wie ihre weißen Kollegen und Kolleginnen. Es ist eine mehrgleisige Herangehensweise.
 

BP: Cristina, war es für Dich eine schwierige Entscheidung, eine zweite Edition von „Fiktionsbescheinigung“ zu machen und die Mittel aufzutreiben? 

CN: Nein. Recht früh in der Planung der ersten Ausgabe habt Ihr mir zu verstehen gegeben, dass eine langfristige Perspektive wichtig ist, dass es ein zweites Mal und auch ein drittes Mal geben wird. Wie es danach weitergeht, ist noch offen. Die Frage klang ja eben schon an: Wie sehr legt man sich auf eine Identität fest, wie sehr möchte man aus der Identität heraustreten und ganz andere Sachen machen? Das ist für mich die Grundspannung, die in „Fiktionsbescheinigung“ drinsteckt.

Die Filmreihe muss sich im Sinne eines strategischen Essentialismus irgendwann selbst erübrigen: Heute ist es wichtig, „Fiktionsbescheinigung“ zu machen, um Sichtbarkeit für das, was Ihr beschrieben habt, herzustellen. Und irgendwann, hoffentlich sehr bald, werden die Sujets und Ästhetiken, die „Fiktionsbescheinigung“ bündelt, zu einem regulären Bestandteil in den Programmen von Filmfestivals. Zum Teil geschieht dies ja schon, etwa wenn wir im Forum in diesem Jahr Lina Rodriguez‘ Dokumentarfilm MIS DOS VOCES zeigen. Rodriguez ist eine kolumbianische Filmemacherin, die in Kanada lebt, und sie hat einen behutsamen Dokumentarfilm über drei Frauen gemacht hat, die aus Kolumbien und Mexiko nach Kanada eingewandert sind. 

EA: „Fiktionsbescheinigung“ ist selbst das Ergebnis eines langen Prozesses. Am Anfang schwebte Dir vor zu überlegen, wie man mit rassistischen Werken in der Filmgeschichte umgeht. Wir sind dann aber recht rasch von dieser Frage abgekommen. Wie sehr haben die Überlegungen der letzten eineinhalb, fast zwei Jahre Deine persönliche Sicht und die Herangehensweise des Forums geprägt und verändert? 

CN: Seit wir an „Fiktionsbescheinigung“ arbeiten, habe ich eine Menge gelernt. Nehmen wir die Frage des Rassismus: Wie limitierend es ist, wenn man als Person of Color in rassistischen Strukturen lebt und sich dann auch noch in der Kunst ständig damit auseinandersetzen soll, ist mir jetzt deutlich klarer, und ich kann die Weigerung, sich mit verletzenden, beleidigenden Werken zu beschäftigen, in der ich früher nur einen zensorischen Eifer erkannt habe, heute besser verstehen.

Auch blicke ich mit leiser Skepsis auf meine eigene Kinosozialisation. Manche Filme, die mir mal viel bedeutet haben, schätze ich heute deutlich weniger. Und es gibt Filme, die zu meiner Filmsozialisation dazugehören, die ich nicht missen möchte, von denen ich aber zugleich nicht weiß, wie ich heute auf sie reagierte. Ich fürchte mich ein wenig davor, Jean Rouchs LES MAÎTRES FOUS wieder zu sehen, weil dieser Film für mich sehr kostbar war und ich zugleich nicht weiß, was Rouchs ethnografischen Blick heute bei mir auslöste. Das wäre einmal ein Experiment wert.

Allgemeiner gesagt: Wie kann ich mich als Filmliebhaberin, als jemand, die mit Filmen arbeitet, produktiv dazu verhalten, dass ein großer Teil der Filmgeschichte rassistisch und sexistisch eingetrübt ist? Ich habe darauf keine fertige Antwort. Meine Hoffnung ist, dass das Bewusstsein für das Problem größer wird und dass eine Reihe wie „Fiktionsbescheinigung“ dazu beiträgt. 

EA: Ich merke, dass die Diskussion mit Euch allen, mit allen Kollegen und Kolleginnen, meine Sinne schärft. Immer wieder. Wir machen „Fiktionsbescheinigung“ ja nicht, damit sich alle weißen Personen im Kino schlecht fühlen. Das wäre total fehl am Platz. Es geht nicht um eine Einbahnstraße, das heißt, auch ich, der ich als Schwarz gelesene Person sozusagen betroffen bin, lerne viel. Für mich ist es ein kollektives Lernen. Trotzdem gibt es natürlich Strukturen, die bestimmten Menschen mehr Einfluss und Gestaltungsspielraum verleihen als anderen. Denken müssen wir trotzdem alle zusammen, damit sich irgendetwas bewegt. Die Antwort von Dir könnte auch eine von mir sein, obwohl ich nicht in Deiner Position bin. 

BP: Alles, was wir besprochen haben, ist ein Beweis dafür, dass der Film lebt. Genauso wie alte Gemälde, Figuren von Rubens zum Beispiel, die hat man damals auch anders gesehen, als man sie heute sieht. Bei Filmen ist es genauso. Man sieht sie anders als damals, weil die Zeit lebt. Sie ist wie ein eigenes Organ. 
 

Enoka Ayemba ist Filmkurator und Filmkritiker mit Fokus auf afrikanische Kinematografien, die nigerianische Videoindustrie und antikoloniale Bewegungen. Seit 2019 ist er als Berater für das Berlinale Forum tätig.

Biene Pilavci schloss 2012 mit ALLEINE TANZEN ihr Studium an der DFFB ab. 2013 entstand mit dem ZDF und ARTE und gemeinsam mit Ayla Gottschlich CHRONIK EINER REVOLTE – EIN JAHR ISTANBUL. Pilavci ist Mitgründerin der filmpolitischen Initiative NichtmeinTatort und des Filmnetzwerks Neue Deutsche Filmemacher*innen.

Cristina Nord war 13 Jahre lang Redakteurin für Film bei der tageszeitung. Von 2015 bis 2019 war sie Leiterin des Kulturprogramms Südwesteuropa beim Goethe-Institut in Brüssel. Seit August 2019 leitet sie das Berlinale Forum.
 

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