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Erster Eindruck: Unbestimmtes Bildrauschen, digitale Artefaktästhetik. Etwas stört hier. Nur was und wozu, wen und warum? Erste Bilder, die ungegenständliche Muster und Formen in Schwarzweiß zeigen, aber außer einem digitaltechnischen Pulsieren nichts darstellen. Jedenfalls keine Welt. Was es aber gibt: kontinuierlichen Formwandel. Das der Wahrnehmung angebotene Rauschen ist eine unspezifisch vor sich hin morphende Textur. Abstraktes wiederholt Abstraktes. Soll man dennoch Energie investieren, mit Lesen, Deuten, Decodieren beginnen? Warum auch nicht – das Bild, auf der Tonspur zunächst lediglich ebenfalls unbestimmt eingetaktetes Störknistern, lebt. Irgendwoher muss es Energie beziehen. Zweifelsohne verbraucht es welche. Sonst wäre das Muster starr, die Tonspur still. Aber vielleicht klärt sich das Bild in den nächsten Minuten der Exposition dieses Films. Dann hätten wir es möglicherweise mit einem vorübergehenden Schleier des Nochnichtwissens zu tun gehabt, der den Blick jederzeit freigeben könnte und wird. Ist der Techno-Noise des Präludiums sich selbst doch nicht genug? Verbirgt, verdeckt, blockiert er etwas? Mit rezeptionsästhetischer Erleichterung nehmen wir nach rund einer Minute das erste verstehbare Signal wahr. Eine nichtmenschlich klingende Stimme fragt unvermittelt: „How can I help you?“

Eine Letzter-Mensch-Erzählung im Kontext der Biodiversitätskrisen

Keine schlechte Frage. So beginnt Viera Čákanyovás Poznámky z Eremocénu (Notes from Eremocene), der mit den vorhergehenden Arbeiten der Regisseurin, mit Frem (Forum 2020) und White on White (2020), eine Trilogie bildet, mit diesen sogar Material teilt. Zunächst also abstrakte, ungegenständliche Digitalbilder, eine kurze Wartezeit, aufgeschobene Sinnstiftung. Eine programmatische Dramaturgie der Latenz – nicht untypisch für experimentelle Arbeiten, die ein distanziertes Verhältnis zu umweglosen Filmweltaufbauroutinen und dem Erzählen generisch formatierter Geschichten unterhalten. Und doch fängt nach dem Störpräludium – deshalb ist es eine Hinführung – eine Art mnemokultureller Letzter-Mensch-Erzählung an, die aus ferner Zukunft auf unsere Gegenwart blickt. Dass letztere als unerfreuliche Niedergangsphase perspektiviert wird, als Endzeit, teilt sich allerdings gleichfalls umgehend mit. Und schon der Titel des Films verrät, wohin die Reise geht: Eremocene, ein Begriff des US-amerikanischen Biologen E.O. Wilson für ein bereits deutlich am Horizont stehendes „Age of Loneliness“, eine Konsequenz aus den sich eskalierenden Biodiversitätskrisen des Anthropozäns. Übrig bleibt, aber nur temporär, die immer weiter vereinsamende Spezies Mensch, umgeben von einem durch sie verursachten „vielfachen Verlust des Lebens“ (Matthias Glaubrecht).

Der privatistische, aus tagebuchfragmentartigem Material zusammengesetzte Erzählmodus von Poznámky z Eremocénu handelt in gewisser Weise von einer Archivsichtung. Geblickt wird aus einer Ex-post-Perspektive. Jemand geht digitale und digitalisierte Speicherbestände durch, vor allem Bilder und einige Tonaufzeichnungen, deren Existenz und Herkunft sich nicht von selbst erklären. Im Gegenteil: Sie machen die Archivleser*innen – die bis zum Schluss körperlose Stimmen bleiben, sich nie im Filmbild materialisieren – ratlos, verwirren und verlangen nach Kontext. Das Überlieferungsmodell ist also, so könnte man trotz des endzeitlichen Pessimismus denken, die Zeitkapsel: ein Signal ohne benennbaren Adressaten, das zwar auf keinen konkreten Empfänger, aber auf einen sendungsbewussten Absender verweist (man erinnere sich an die „Crypt of Civilization“, das Zeitkapselprojekt der Oglethorpe University aus dem Jahr 1940).

„Das Subjekt von Poznámky z Eremocénu hat im vielfältigen Krisenjahr 2022 effektiv aufgehört, an die Zukunft des Menschen unter den doppelten Negativvorzeichen von kaum gebremster Umweltzerstörung und einer allumfassenden digitalkontrollgesellschaftlichen Technisierung der Lebenswelt zu glauben.“

Was vergleichsweise schnell deutlich wird: Eine aus Sicht des Films weit zurückliegende vergangene Gegenwart, die im Moment möglicherweise noch unsere ist, schickte digital gespeicherte Informationen in eine Zukunft, die offenbar nur als finalisierte Dystopie aus Klimakatastrophe und Digitalfaschismus vorstellbar ist. Denn wo, in Schwundstufen zumindest, noch Leben, Differenz, Hoffnung, Solidarität, offene Zukunft war, kam eine digitale Technologie, die Blockchain, um die Ecke und ersetzte den letzten Rest analoger Unteilbarkeit durch die Unerbittlichkeit digitaler Binarität. Alles, nicht nur die Geldwährung, wird nun ohne Rücksicht auf Verluste digital diskretisiert und komprimiert. So sieht es jedenfalls Poznámky z Eremocénu und zitiert dazu nicht nur den spurlos verschwundenen Erfinder der Kryptowährung Bitcoin Satoshi Nakamoto, sondern auch Lectures des Mathematikers Ralph Merkle, der kryptografische Hash-Funktionen entwickelt hat – vor allem die grundlegende Blockchain-Technologie des „Merkle Tree“.

Virtuelle Alter Egos im Post-Anthropozän

In einer nicht näher definierten Zukunft ist, auch das wird den Zuschauenden schnell klar, jene Stimme zeitlich zu verorten, die eingangs Hilfe angeboten hat. Und auch eine zweite Stimme, die diese Hilfe durchaus in Anspruch nehmen wollen würde, ist in dieser Zukunft zu verorten, wie schon die erste Replik verrät: „Can you help me find my original character?“ Während das Störbildmorphen auf der Bildebene zunächst unbeeindruckt weitergeht, unterhalten sich von nun an offenbar zwei nichtmenschliche, technische oder vielleicht auch irgendwie außerirdische Akteure, die vormals menschliche Informationsbestände archivarisch verwalten und prozessieren. Das also ist das Ende der Zukunft des Menschen, willkommen im Post-Anthropozän. Einem Akteur, dem hilfsbedürftigen, verlangt es dennoch nach Provenienzforschung in eigener Sache. Er*sie möchte wissen, woher er*sie kommt. Das wiederum klingt recht menschlich. Hier jedoch verschärft, denn es handelt sich um die fast schon existenziell zu nennende Sinnkrise eines Avatars, der herausfinden will, wer er*sie ist, wen er*sie vertritt. Der Avatar ist nämlich, wie wir später erfahren, ein Proxy – er*sie vertritt eine als menschlich gelesene Person („gespielt“ von der Regisseurin Viera Čákanyová).

Im Angesicht der vielfältigen Krisen – Klimakatastrophe, Biodiversitätsverlusten, pandemischer Sozialisolation, Erosion demokratischer Ordnungen durch autoritäre Kräfte etc. – hat diese Person sich virtuell kopiert, sich einen Digitalklon ihrer selbst gegönnt, und zwar aus Sicht des Films vor langer Zeit (unserer Gegenwart), als es noch Menschen und nicht nur Bits und virtuelle Alter Egos auf Blockchainbasis gab. Poznámky z Eremocénu erzählt so gesehen von einem ganz aufs Individuum reduzierten, fast schon solipsistischen Zeitkapselprojekt, mit dem keine Objekte in die Zukunft geschickt wurden, die „die menschliche Zivilisation“ repräsentieren sollen, sondern lediglich die virtuelle Kopie eines einzelnen Subjekts. Dieses Subjekt hat 2022 effektiv aufgehört, an die Zukunft des Menschen unter den doppelten Negativvorzeichen von kaum gebremster Umweltzerstörung und einer allumfassenden digitalkontrollgesellschaftlichen Technisierung der Lebenswelt zu glauben.

„It‘s Super Natural, it‘s Super 8“: Kulturkritik vs. ästhetische Modi der Verbundenheit

Ambivalenter gestaltet an dieser in unterschiedlichen Anläufen essayistisch und schon auch kulturkritisch elaborierten Konstellation ist der ästhetische Status der zum Einsatz kommenden digitalen Bildtechnologien. Viera Čákanyovás experimenteller Umgang mit Filmmaterialdifferenzen erinnert dabei in gewisser Weise an Jorge Jácomes Super Natural, einen Forumsbeitrag – und FIPRESCI–Gewinner – des vergangenen Jahres. Auch dort begegnen wir zunächst einer ort- und körperlosen KI-Stimme, die nur dank Untertitelung intelligibel wird und zunächst merkwürdig generische Meditationstextbausteine versendet. Während sich der maschinell vorgetragene Untertitelungstext immer expliziter mit Fragen des Organischen, Umweltlichen, Evolutionären, überhaupt Relationalen beschäftigt – wie menschliche und nichtmenschliche Körper in ihrer Diversität und Eigenrechtlichkeit miteinander verbunden sind, nur als Interaktionsgefüge verstanden werden können –, zieht die Montage disparates Bildmaterial zusammen: schwarzweiße Überwachungskameraaufnahmen von nächtlichen Vorstadtlandschaften und schlafenden Menschen; digital generierte Unterwasser-, Tier-, Performance- und Choreografieszenen stehen neben CGI-Elementen, die Porträtbilder mit digitalen Filtern und comicartigen Bildeffekten augmentieren. Das Auftauchen der ersten Analogbilder, gedreht mit Super-8-Material – eine Insel, eine Berglandschaft, dazwischen analoges Farbbildleuchten als Zelluloidepiphanien –, kommentiert die fiepende KI-Stimme bildevolutionär: „We are always born in another body. Here’s my eighth body. It’s super natural. It’s super 8“. Jácomes Film verweist auf ästhetische Modi der Verbundenheit nicht trotz, sondern durch materialästhetische Differenz. Bilder sind immer anders, eigen, stiften darüber aber zuverlässig Anschlüsse, bilden Environments.

„Auch Poznámky z Eremocénu überführt die beharrlich vorgetragenen antidigitalen Rhetoriken wieder in ambiguitätstolerantere ästhetische Zonen.“

Auch Poznámky z Eremocénu erschöpft sich nicht in der Montage von tagebuchartigen 8mm- und 16mm-Filmaufnahmen (u.a. von Klimaprotesten, aber auch von elegischen Szenen am Meer), die in der Erzählgegenwart des virtuellen Klons immerzu digital infiltriert werden: Digitale Artefakte fräsen sich in die Analogbilder ein, aber auch der immer wieder eingeblendete „Wortvektorraum“ eines Natural Language Processing-Programms – einer computermaschinellen Verarbeitung der natürlichen Sprache –, deren visualisierte Begriffsrelationen in die Filmaufnahmen eingeschrieben werden. Der Apologetik des Analogen, der Feier einer vorgeblich resilienten organischen Vitalität, Unteilbarkeit, Unverfügbarkeit analogfotochemischer Grundlagen, stehen nicht nur die attraktive Wildheit digitaler Artefakt- und Störmuster als ästhetische Eigenwerte entgegen. Überaus produktiv und vielseitig erkundet Viera Čákanyová auch die ästhetischen Spezifika digitaler Point-Cloud-Modelle, die durch die 3D-Laserscanning-Technologie LIDAR gewonnen werden können.

Ein Archiv aus analogen und digitalen Spuren des Menschen

Mit der laserbasierten „Lichterkennung und Reichweitenmessung“ (LIDAR steht für „Light Detection and Ranging“), deren gegenwärtige Anwendungsfelder vom autonomen Fahren bis zur virtuellen Tatortforensik und dem Einscannen ganzer Bauwerke und Areale im Zuge der Sicherung des sogenannten „Weltkulturerbes“ reichen, wird schon seit einiger Zeit ästhetisch experimentiert. So hat sich die künstlerische Forschungsagentur ScanLAB in den vergangenen Jahren unter dem Label „post-lenticular Landscapes“ auf die stereografischen und fotografischen Spuren der Pioniere Eadweard Muybridge und Ansel Adams begeben und den Yosemite National Park lasertechnisch erfasst. Ein anderes Projekt der in London ansässigen Gruppe beschäftigte sich mit der bildgebend-modellbildenden Produktivität selbstfahrender Autos, die LIDAR nutzen, um sich räumlich zu verorten und dabei fortlaufend Modelle ihrer Umgebung generieren, die als Stadtraumbilder einer neuartigen „Machine Vision“ verstanden und ausgespielt werden können.

POZNÁMKY Z EREMOCÉNU überführt die beharrlich vorgetragenen antidigitalen Rhetoriken in diesen Passagen wieder in ambiguitätstolerantere ästhetische Zonen. Denn es geht ums Spurenlesen, um Fragen der Wahrnehmbarkeit anthropogener Einschreibung – ob in technischer Hinsicht analog oder digital verfasst. Selbstgenerierte LIDAR-Aufnahmen von Waldstücken, Wahlkabinen, eines Wohnzimmers und der in ihrem Sessel bzw. in einer Bootskabine sitzenden (und somit selbst eingescannten) Regisseurin kommunizieren im Lauf des Films immer offener und nachhaltiger mit dem 8mm- und 16mm-Material. Die millionenfach und messgenau eingespeicherten Einzelkoordinaten laserscantechnisch generierter „Punktewolken“ – man spricht hier nicht von Pixeln, sondern von volumengrafisch visualisierbaren Voxeln – werden nicht mehr nur als exakte Raum- und Objektdaten, sondern auch als ästhetische Register und Wahrnehmungsmodelle lesbar. Ein Archiv eigener Art, voller ästhetischer Eigenwerte und Überschüsse, die auch nach dem Menschen von dessen Ansichten und Einsichten zeugen.

Simon Rothöhler ist Professor für Visuelle Kultur und mediale Infrastrukturen an der Ruhr-Universität Bochum sowie Mitgründer und Mitherausgeber der Film- und Medienzeitschrift cargo.

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