Zuerst der qualmende Schlot, mit dem Teleobjektiv in nächste Nähe gerückt. Dann die Züge, die Wolken und die Vogelschwärme, das Stadtpanorama im Weitwinkel. Flugzeuge. Zeitraffer, Zeitlupe. Später schwarze Regenwolken, Sonne, Schnee, Mondschein. Die Straße vor dem Haus: Lagerhallen, vor denen Schrott sortiert wird, Wein geliefert, eine Party gefeiert. Brennende Autos, ein schwerer Motorradunfall. Eine junge Frau, die tagein tagaus ihre Post abholt und die NZZ. Von links durchquert sie das Bild, von rechts kehrt sie zurück. Den Beobachter scheint sie nicht zu bemerken über all die Jahre, die er mit seiner Kamera am Fenster steht und das Leben aufzeichnet, das sich vor seinem Atelier ausbreitet. Wie die Zeit vergeht, das stellt der Zuschauer zuerst an den Nachrichten auf dem Anrufbeantworter des Filmemachers fest. Anfangs wirken sie ein wenig komisch, die Anrufe glücklicher oder enttäuschter Freundinnen, die Urlaubsgrüße und Glückwünsche. Da sind sie noch aus dem Zusammenhang gerissen, der sich alsbald herstellt. Dann auf einmal kommt jeder Nachricht eine historische Bedeutung zu. Krankheit, Tod, Schwangerschaft, Geburt, Trennung, Erfolge, Misserfolge. Ein Schock, als man schließlich feststellt, dass man sich mitten in einem Leben befindet, dramatischer als jede Fiktion. (Forumskatalog, Christoph Terhechte)
Berliner Premiere: DAS SCHLECHTE FELD
In seinem dokumentarischen Essayfilm DAS SCHLECHTE FELD (D/Österreich 2011) untersucht Bernhard Sallmann (*1967) einen Ort im Wandel der Zeiten: das Feld vor dem elterlichen Haus im österreichischen Ansfelden. Der Blick aus dem Fenster zeigt eine Landschaft, die von einer mehrspurigen Autobahn zerschnitten wird.
Durch die Informationen der Stimme aus dem Off erweist sich diese als Schnittstelle von Weltgeschichte und Familiengeschichten. Sie wird zum Ausgangspunkt für Reflexionen über Kindheit, das Verschwinden der bäuerlichen Welt und den Zweiten Weltkrieg – als dort ein Arbeitslager für Kriegsgefangene stand und der Todesmarsch jüdischer KZ-Häftlinge aus Mauthausen vorbeiführte. In statischen, nahezu menschenleeren Bildern, mit Musik des im Ort geborenen Komponisten Anton Bruckner werden Sedimente von Zeitschichten freigelegt. Eine Geografie von Erinnerungen wird sichtbar. Ab 24.11. ist der Film im Kino Krokodil zu sehen. (22.11., in Anwesenheit von Berhard Sallmann)
Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart
Das Projekt "Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart" dient unter anderem dazu, anhand der Filmsammlung des Arsenal die Geschichte der Institution zu beleuchten. Die Filmemacherin und Kuratorin Ute Aurand präsentiert am 5. November Filme der britischen Künstlerin Margaret Tait. Nach einer Sichtung in der Londoner Filmmakers Coop organisierte Aurand 1994 eine Werkschau im Kino Arsenal. Zwei Jahre später konnte sie im Rahmen ihrer vom Künstlerinnenprogramm des Senats geförderten Filmreihe "Sie zum Beispiel" sechs Filmkopien für den Verleih des Arsenal erwerben. 1998 fügte das Arsenal eine Kopie ihres letzten Films GARDEN PIECES hinzu.
Ulrike Ottinger
Der Herbst in Berlin steht weiterhin im Zeichen von Ulrike Ottinger. Nach der Ausstellung Floating Food (noch bis 30.10.) im Haus der Kulturen der Welt wird im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.) anlässlich der Verleihung des Hannah-Höch-Preises an Ulrike Ottinger das unbekannte und bisher nicht gezeigte malerische Frühwerk (1963–68) Ottingers ausgestellt (26.11.–22.1.). Das Arsenal lädt bis Januar in zwölf Filmveranstaltungen mit Gesprächen und Einführungen dazu ein, das filmische Œuvre von Ulrike Ottinger zu entdecken. Indem das Programm Themen, Zitate, Bilder und Töne der Ausstellungen aufgreift, spiegelt und kommentiert es Ulrike Ottingers Bewegtbild-Welten zwischen Opulenz und Stilisierung, Variationen des Theatralen und Ethnografischen, Kulturgeschichte und -Science-Fiction, Reflexion und Reise.
DAAD-Stipendiatin Sandra Kogut zu Gast
Die brasilianische Filmemacherin Sandra Kogut (*1965) ist zur Zeit Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Ihr Werk situiert sich zwischen Videokunst, dokumentarischem Essay und Fiktion.
In ADIU MONDE OU L'HISTOIRE DE PIERRE ET CLAIRE (F 1997, 3.11.) spinnt Kogut vergnüglich die legendäre Liebesgeschichte eines Schäfers weiter – mit den medienerfahrenen Bewohnern eines idyllischen Pyrenäen-Dorfs als Komplizen. Ihren Versuch, als Enkelin ungarischer Juden einen ungarischen Pass zu bekommen sowie die schmerzvolle Geschichte ihrer Familie dokumentiert A HUNGARIAN PASSPORT (2001, 3.11.). Mit LaienschauspielerInnen drehte sie ihr international vielfach ausgezeichnetes Spielfilmdebüt MUTUM (BR/F 2007, 4.11.). Der zehnjährige Thiago lebt mit seiner Familie im abgelegenen brasilianischen Hinterland. Mit Befremden betrachtet er die Erwachsenen und deren Welt aus Betrug, Gewalt und trügerischer Stille.
Deutscher Kurzfilmpreis
Seitdem Janis ihr Schlafzimmer nicht mehr verlässt, betrachtet sie ihre Umgebung durch das Objektiv einer Überwachungskamera. Einen Kosmos auf engstem Raum erzählt Florian Riegels Dokumentarfilm HOLDING STILL, einer der Preisträger des Deutschen Kurzfilmpreises, der gemeinsam mit den Nominierten und zahlreichen Gästen den Abschluss der diesjährigen Kinotournee bildet.
Auszeichnungen für "Territoire perdu"
TERRITOIRE PERDU von Pierre-Yves Vandeweerd startet ab kommender Woche in ausgewählten Kinos in Frankreich. Soeben erhielt der Film, der im diesjährigen Forum uraufgeführt wurde, den Hauptpreis des Internationalen Dokumentarfilmfestivals Montréal (RIDM). Zuvor war er bereits mit dem Grand prix des Internationalen Dokumentarfilmfestivals in Jihlava (Tschechien) sowie dem Spezialpreis der Jury von Doclisboa ausgezeichnet worden. In eindringlichen schwarzweißen 8mm-Bildern zeigt TERRITOIRE PERDU die von der Weltöffentlichkeit weitgehend vernachlässigte Situation der Saharauis in der geteilten West-Sahara. Bewohner von Flüchtlingslagern und Widerständige erzählen von Flucht, verschwundenen Angehörigen, Unterdrückung, Folter und der Sehnsucht nach ihrer Heimat.
Zu Gast: Jochen Kuhn
Jochen Kuhn als Animationsfilmer zu bezeichnen wäre zu einfach. Seine Filme sind Gemälde, die sich fortwährend verändern und zu überraschenden Szenenfolgen mutieren. Sie wirken handgemacht, und das geht so weit, dass die Hand des Künstlers oder er selbst ins Bild kommen, um einen Perspektivwechsel zu bewirken. Erzählt wird von kleinen Begebenheiten im Alltag, mit träumerischer Melancholie, mitunter düsterer Lakonie, leisem Witz und schwarzem Humor.
"The Ballad of Genesis and Lady Jaye"
Der Film, der auf der Berlinale 2011 mit dem Caligari-Preis des Forums sowie dem Teddy für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, ist ein intimes, berührendes Porträt über das Leben und Werk des bahnbrechenden Performance-Künstlers und Musik-Pioniers Genesis Breyer P-Orridge - bekannt durch COUM Transmissions (1969-1976), Throbbing Gristle (1975-1981) und Psychic TV (1981 bis heute) - und seiner Lebens- und Arbeitspartnerin Lady Jaye. Man mag einen Film über die Geschichte der Industrial Music erwarten, über Genesis als Bindeglied zwischen Pre- und Postpunk-Ära, über den Underground seit den 1970er Jahren. Das ist er auch, aber erzählt aus der Perspektive einer großen romantischen Liebe, die in den 1990er Jahren ihren Anfang nahm. Genesis und Lady Jaye beginnen durch Operationen eins zu werden, ein Drittes, ein Pandrogyn. Beeinflusst, wie so vieles in Genesis‘ Arbeit, von Brion Gysins und William Burroughs "Cut Ups", war es der Versuch, zwei einzelne Identitäten zu dekonstruieren, durch die Schaffung einer unsichtbaren Dritten.
Die DEFA-Stiftung präsentiert
Im November setzt die DEFA-Stiftung ihre monatliche Filmreihe mit zwei Filmen von Werner Klingler aus der Reihe "Brüche und Kontinuitäten" fort. Die gemeinsam mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung konzipierte Reihe widmet sich neun Regisseuren, die vor 1945 in der UFA und nach 1945 bei der DEFA tätig waren.
Gefördert durch:
Arsenal on Location wird gefördert vom Hauptstadtkulturfonds
Die internationalen Programme von Arsenal on Location sind eine Kooperation mit dem Goethe-Institut.