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Jia Zhangke ist Regisseur und Produzent. Sein erster Langfilm XIAO WU (THE PICKPOCKET) wurde 1998 im Forum uraufgeführt.

Seine Produktionsfirma Xstream Pictures initiierte 2006 das „Wings“-Projekt, das junge chinesische Regisseure unterstützt. Der Film K von Emyr ap Richard und Darhad Erdenibulag hatte 2015 seine Weltpremiere im Forum. Dieses Jahr läuft der von Xstream Pictures produzierte FilmZHI FAN YE MAO (LIFE AFTER LIFE) von Zhang Hanyi. Weitere Beiträge aus China im diesjährigen Forums-Programm sind Johnny Mas LAO SHI (OLD STONE)und TA'ANG von Wang Bing.

Jacob Wong ist Kurator des Hong Kong International Film Festivals und Berlinale-Delegierter für Ost-Asien.
 

Obwohl K und LIFE AFTER LIFE nicht Unmengen gekostet hat, übt die Tatsache, dass er noch keinen heimischen Verleih gefunden hat, sicherlich gewissen Druck auf die finanzielle Lage der Firma aus?

Das stimmt. Eine Schwierigkeit ist der Auslandsmarkt, der jungen Regisseuren im Prinzip verschlossen bleibt. Es ist nahezu unmöglich, einen ausländischen Verleih für das erste oder zweite Werk eines Regisseurs zu finden. Wir können nur weiterhin an internationalen Festivals teilnehmen und die Filme einem weltweiten Festivalpublikum präsentieren. Heutzutage erfordert es große Anstrengungen ins Ausland zu verkaufen. Eine weitere Schwierigkeit ist natürlich der heimische Markt. Da die Filme nicht anlaufen dürfen, kommt auch kein Geld über die Kinokassen rein. Dann gibt es noch das Problem der Raubkopien. Momentan müssen wir solche unabhängigen Produktionen durch andere Projekte finanzieren. Meine Firma produziert nebenbei Werbefilme und Unternehmensprojekte. Mit dem Geld unterstützen wir junge Filmemacher. Konkret ausgedrückt: ich muss einfach noch mehr Werbung machen.

Und wie läuft das Geschäft?

Nicht schlecht, wir sind ziemlich gefragt.

Unterscheidet sich diese Generation junger Filmemacher von den vorangegangenen? Vor 10 oder 20 Jahren hatten angehende Regisseure, die keine Geschichten zu erzählen und nichts zu sagen hatten, gar keine andere Wahl, als Independentfilme zu machen. Eine Filmindustrie, die sie hätten erobern können, existierte nicht. Heute besteht diese Möglichkeit und junge Leute, die nicht unbedingt persönliche Filme drehen wollen, können dort ihr Glück finden. Kommt das wirklich vor?

Ja, viele Leute wollen Independentfilme drehen, aber noch mehr wollen kommerzielle Kassenerfolge machen. Ein Großteil der Kinohits der letzten Jahre waren Debütfilme, was schon sehr ungewöhnlich ist. Häufig handelte es sich um den ersten oder zweiten Film von ehemaligen Schauspielern, meistens Komödien oder Actionthriller, die alle sehr erfolgreich waren. Diese Erfolgsgeschichten locken gewissermaßen die jungen Leute in die Filmbranche, weil sie selbst solche kommerziellen Produkte herstellen wollen.

Mir hat schon immer Bauchschmerzen bereitet, dass sich das unabhängige Kino keine eigene Infrastruktur aufgebaut hat. Das ist in meinen Augen notwendig. Wir brauchen ein System, mit dem wir Investitionen und Erträge genau steuern und die unabhängigen Filmemacher beteiligen und schützen können. Unsere Lage hat sich in den letzten 10 - 15 Jahren nicht gerade verbessert, unabhängige Filmemacher arbeiten noch immer in einem Umfeld ohne Strukturen. Ich wünschte, wir hätten die gleichen Bedingungen wie das Independent-Kino in Frankreich oder Japan mit Filmteams, Kinos und Verleihfirmen, die sich ganz dem unabhängigen Filmemachen verschrieben haben. Solche Verleiher oder Kinos existieren hier einfach nicht. Es ist uns schlichtweg unmöglich, unsere Filme an die Öffentlichkeit zu bringen, es fehlen Portale und Kanäle für die Verbreitung, wir können nur weiterhin Filme machen. Das ist ein Riesenproblem für das unabhängige chinesische Kino. Wenn es zu keiner Lösung kommt, wird das negative Auswirkungen auf unsere Kreativität haben. Bei einigen Independentfilmen kann man bereits einen ähnlichen Look feststellen, weil sie unter vergleichbaren Bedingungen entstanden sind. Die Filme ähneln sich nicht nur in ihrer Thematik und austauschbaren Herangehensweise, sondern auch in ihren ästhetischen Experimenten. Wenn Filmemacher gerade mal über 50 000 oder 100 000 Yuan verfügen, sehen ihre Filme zwangsläufig gleich aus.

So ernst die Lage auch sein mag, eine Lösung scheint in naher Zukunft nicht in Sicht. Aber das kinointeressierte Publikum, ob daheim oder im Ausland, war sich immer im Klaren darüber, dass die besten chinesischen Filme in der Regel unter nicht gerade idealen Bedingungen entstanden sind. Nimmst du hier eine Veränderung wahr?

Allzu viele Veränderungen sind nicht in Sicht. Ich habe gesagt, dass sich die Situation verschlechtert hat, weil ich das Gefühl habe, die Produktionsbedingen waren in den neunziger Jahren sogar besser. Leute wie Lou Ye und Wang Xiaoshuai drehten Filme unter vernünftigen Bedingungen. Damals gab es noch keinen Filmmarkt, aber einige junge Produktionsfirmen mit einer kulturellen Vision. Kino ist Kultur und hat Investitionen verdient. Die Leute waren bereit, sich für das Kino als Kunstform einzusetzen und entsprechende finanzielle Risiken in Kauf zu nehmen.

Der chinesische Filmmarkt ist in den letzten Jahren zur reinsten Goldgrube geworden und die meisten, wenn nicht alle, Produktionsfirmen betrachten Kino als Mittel, um schnell Geld zu machen. Wenn sich immer weniger Unternehmen für Filmkultur interessieren oder bereit sind, Risiken in Kauf zu nehmen, bleibt jungen Regisseuren nur eine Aufgabe: massenweise Kassenerfolge zu produzieren. Die Entwicklung von Privatunternehmen ist ein weiteres noch zu klärendes Thema.

Ohne eine gewachsene Filmindustrie mit festen Strukturen sind unabhängige Filmemacher auf sich allein gestellt. Jeder hat heute seine ganz persönlichen Geldgeber, Kreativteams und Probleme. Der Zusammenhalt fehlt, und deshalb fällt es so schwer allgemeingültige Aussagen über das zeitgenössische unabhängige Kino in China zu treffen. Ein Indie-Regisseur wie Hao Jie wird von der Wanda Group gefördert und hat in MY ORIGINAL DREAM versucht eine Balance zwischen Kommerz und Individualität zu finden. Pema Tsedan bekommt Unterstützung von seinen Leuten in Tibet und arbeitet hauptsächlich mit Freunden und Studenten der Filmhochschulen zusammen. Manchmal übernehmen Regisseure auch andere Aufgaben wie Yang Jing, der Kameramann bei Haos MY ORIGINAL DREAM war. Die unabhängigen Filme haben heute nur eine Gemeinsamkeit – ihr äußerst geringes Budget.

Es gibt also keine wirklichen Veränderungen für unabhängige Filmemacher, die persönliche Filme drehen wollen?

Ich finde, die Dinge haben sich zum Schlechten entwickelt. Die ersten unabhängigen Filme wie MAMA und BEIJING BASTARD von Zhang Yuan oder die ersten drei Filme von Wang Xiaoshuai und Lou Ye haben, was die Produktionsbedingungen betrifft, mehr Anlass zu Hoffnung gegeben. Man sah mit jedem neuen Film, wie sich die Bedingungen verbesserten. Heute reicht ein unabhängiger Filmemacher nur noch sehr schwer an diesen Maßstab heran.

Stimmt es, dass alles sehr viel teurer geworden ist und ein unabhängiger Regisseur eventuell gar nicht erst das Geld zusammenbekommt, um einen dem Branchenstandard entsprechenden Film zu machen?

Es ist sehr, sehr teuer, vor allem die Gehälter des Teams. Sie liegen weit über dem Machbaren für einen unabhängigen Filmemacher. Auch die Medien haben sich zum Schlechten verändert. Als sie noch nicht total kommerzialisiert waren, berichteten sie begeistert über das unabhängige Kino. Aber mit der Expansion der Märkte sind die Medien nur noch ein Rädchen in der Marketingstrategie der Filmbranche. Das hat zur Folge, dass das unabhängige Kino in der Berichterstattung viel zu kurz kommt. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass es gar keine Beiträge mehr gibt, aber sie nehmen deutlich ab.

Und Filmrezensionen?

Die kommen äußerst selten vor. In den sozialen Medien gibt es einige Kritiker, aber kaum in den Massenmedien. Die Massenmedien haben natürlich eine viel größere Reichweite und übertönen andere Stimmen.

Das heißt, abgesehen von einigen herausragenden und unermüdlichen individuellen Bemühungen, ist die Independentszene in China weiterhin größtenteils äußeren Kräften ausgesetzt mit wenig Aussicht auf die Etablierung fester Strukturen. Das klingt nicht gerade vielversprechend.

Das anhaltende Wachstum des chinesischen Filmmarktes hat dazu geführt, dass die Einspielergebnisse der einzige Maßstab für Erfolg sind, was zu einer Abwertung des unabhängigen Kinos führt. Die Unterstützung für unabhängige Filme, die dringende aktuelle Gesellschaftsthemen ansprechen, ist heute nur noch unzureichend. Stattdessen werden sie ignoriert oder sogar argwöhnisch betrachtet. Aufkommende nationale Strömungen haben bereits beanstandet, dass sich das unabhängige Kino „beim Westen lieb Kind machen wolle, indem es die düsteren Seiten der Gesellschaft aufzeige“. Wenn Normen und Werte erst einmal zunichte gemacht worden sind, werfen die unabhängigen Filmemacher einen einsamen Schatten.
 

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