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Jede Ausgabe von Forum Expanded hat eine Überschrift, die einen möglichen Wahrnehmungs- und Assoziationsraum herstellt, ausgehend von Fragen, die das kuratorische Team bei der Auswahl beschäftigt haben. Der diesjährige Titel geht auf eine Randnotiz von Maya Deren zurück. 1947 schreibt sie: „Marxismus – einzige politische Theorie, die einen Mechanismus entwickelt, der sich selbst verändern kann“.

Die Pionierin des Avantgarde-Films überträgt diese Idee auf das Kino, das nicht nur wandlungsfähig ist, sondern durch seine Fähigkeit, neue Formen der Wahrnehmung zu erzeugen, durch und durch politisch. Mit der selbstreferenziellen Geste, die dem Titel innewohnt, verweist Forum Expanded nicht nur auf die ausgewählten Arbeiten, die die Sprache des Kinos mit in den Blick nehmen, sondern auch auf den institutionellen Rahmen, in dem sie gezeigt werden. Die Medienwissenschaftlerin Ute Holl setzte sich sowohl mit den Schriften Maya Derens auseinander als auch mit ihren Filmen, denn beides zusammen bildet ihre Kinotheorie. Der Text, aus dem wir hier Auszüge abdrucken, erschien 2002 in der Zeitschrift Frauen und Film. (Stefanie Schulte Strathaus)

 

„A Mechanism Capable of Changing Itself“. Zu Maya Derens Kinotheorie

von Ute Holl

„Marxism – only theory of politics which designed a mechanism capable of changing itself – as in the concept of the withering away of the state,“ schrieb Maya Deren am 3. Februar 1947 beiläufig in ihr Notizbuch. Selten wurde, noch dazu in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, gerade der systemische Aspekt der Marxschen Theorie hervorgehoben. Während damals eher lineare Begriffe wie Front, Prozess, Richtung oder eben Linie den politischen Diskurs durchzogen, interessierte sich Maya Deren, ehemalige trotzkistische Studentenführerin, für die rekursiven Bewegungen, in deren Verlauf sich, nach Marx, ein gesellschaftliches System aufgrund seiner eigenen Logik und infolge seiner eigenen Transformationsregeln selbst verändert. Damals interessierte sich Deren wahrscheinlich sogar mehr noch für den Zauber einer Theoriebildung selbst, in der ein autoreferenzielles System als Ursprung sozialer Transformationen gedacht wird. Kurz zuvor nämlich hatte Maya Deren ihre beiden zentralen Texte zum Kino geschrieben: in den Sommerferien auf Long Island „An Anagram of Ideas on Art, Film and Form“ und dann noch, im Flerbst, „Cinema as an Art Form“. In beiden Texten ist das Kino als eine Struktur entworfen, die weit über die Zeit der Zerstreuung im Dunkel der Projektion hinaus nicht nur die Wahrnehmung in ihren grundlegenden Parametern verändert, sondern auch nach haltig in die sinnlichen und sozialen Verhältnisse aller interveniert, die an dieser laufenden Kommunikation teilhaben. Der Mechanismus eines sich selbst verändernden sozialen Systems, den Deren in der Marx’schen Theorie wiederentdeckt, findet sich auch in ihrer eigenen Kinotheorie.
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Gegen den Zauber der Film-Projektion ist der Menschenkopf machtlos, und die Menschmaschine aus Kamera, Licht und Schauspielerkörpern klinkt sich ein. Komplementär zur „unbestreitbaren Realitätswirkung“ entwickelt Deren in ihren Texten zum Kino den Begriff der Erfahrung, „experience“. Dieser Begriff überbrückt auf den ersten Blick einfach nur die epistemologische Lücke zwischen der technisch-physiologischen, das heißt der Produktionsseite eines Kinobildes einerseits und seiner psychischen Wirkung in der Rezeption andererseits, einer Rezeption allerdings, die Spuren hinterlässt und damit ein für allemal verändert, wie Raum und Zeit wahrgenommen werden. Erfahrung wäre mithin schon ein erster zirkulärkausaler Mechanismus: im kinematografischen Raum verändert das Filmsehen die Wahrnehmung, welche ein neues Filmsehen bedingt, das wiederum die Wahrnehmung verschiebt etc. Und genau am Begriff der Erfahrung unterscheidet Deren die Arbeiten unabhängiger oder experimenteller Filmemacher, die eine genuin visuelle Wirkung mit ihren Arbeiten realisieren wollen, von der Realität und Wirkung des Hollywoodkinos.
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Wirklichkeit wird im erweiterten Kontext des Kinos erschaffen, umso mehr, je kompromissloser die Geschichtlichkeit und Relativität in der Abbildungstechnik freigelegt werden und die Bedingungen der Subjektivität ins Bild kommen. Kinomachen heißt, Erfahrung weiter zirkulieren und mehr Wissen und Sinnlichkeit akkumulieren zu lassen: „After the first film was completed, when someone asked me to define the principle it embodied, I answered that the function of film, like that of other art forms, was to create experience.“
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Nicht feststehende Agencements aus optischen Maschinen und menschlichen Körpern, sondern Vektoren sich permanent verschiebender Kraftfelder wären das richtige Modell für Derens Kinotheorie, Rückkopplungsmechanismen und zirkulärkausale Prozesse, wie sie in den vierziger Jahren in den USA von Anthropologen, Psychiatern, Computerspezialisten und Ingenieuren erforscht wurden: auf den Macy-Konferenzen für Kybernetik. Das Kino wäre als Apparat zu denken, der das fehlende Glied zwischen individueller Wahrnehmung und Sinnlichkeit einerseits und den materiellen Bedingungen im Sinne einer sozialen und emotionalen Rückkopplung darstellt. Wie Maya Derens Home-Movie Trance zeigt, entwickeln sich in der Bewegung des Materials „emotional ramifications“, emotionale Verästelungen, die keineswegs reversibel sind, sondern auf Dauer irreversible Emotionen und emotionale Relationen bilden. Was immer aber „subjektiv als Gefühl bewußt wird“, ist, nach einer Vermutung Norbert Wieners „nicht nur eine nutzlose Begleiterscheinung von Nervenregung [...] sondern [kann] irgendein wesentliches Stadium des Lernprozesses und andere ähnlicher Prozesse steuern.“ Weil Maya Deren davon ausgeht, dass jede Rezeption im Kino zugleich die Rezeptoren transformiert, beschreibt ihr Konzept vom Kino ein kybernetisches Aggregat, dessen technische, sinnliche, soziale und ästhetische Elemente sich permanent gegenseitig verändern: „A mechanism capable of changing itself.“
[Das Kino als eine] Traum- und Wunschmaschine, die dennoch die Verbindung zur materiellen und historischen Realität stets hält: „[...] [Cinema] emerges in a period marked by the development of radio in communication, the airplane and the rocket-ship in transportation and the theory of relativity in physics. To ignore the implications of this simultaneity, or to consider it a historical coincidence, would constitute not only failure to understand the basic nature of these contributions to our civilization; it would also make us guilty of an even more profound failure, that of recognizing the relationships of human ideology to material development.“
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Dass das Kino uns selbst in Beziehung zum Fremden setzt, anstatt uns einer Norm zu unterwerfen, war Maya Derens Wunsch vom Kino. Dass dieser Mechanismus nicht als bewusste Manipulation einfach eingerichtet werden kann, sondern, wie in Trance und Besessenheit, ein Kollektivwerden verlangt, wusste Deren zum Glück auch: „Everything I have said in criticism of film may create an image of severe austerity and asceticism. On the contrary, you may find me many evenings in the motion-picture theater, sharing with the other sleepers (for nothing so resembles sleep), the selected dream without responsibilities.“

(„A Mechanism Capable of Changing Itself“. Zu Maya Derens Kinotheorie. In: Frauen und Film, Nr. 63, 2002. S. 55–70.)

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