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Ruth Beckermanns Waldheims Walzer, Marie WilkesAggregatund Kristina Konrads Unas preguntas betreiben die Nachzeichnung demokratischer Prozesse in filmischer Form. Unabhängig ihrer verschiedenen geografischen und historischen Kontexte nehmen sie dabei Bezug auf dasselbe zentrale Problem heutiger Demokratien: Auf welche Weise ist ein demokratisches, gerechtes und friedliches Zusammenleben möglich, wenn dieses vom Wiedererstarken (oder vom historischen Überdauern) antidemokratischer Tendenzen herausgefordert wird? Wie mit Rechten zusammenleben? Diese Frage erfährt im Kino natürlich eine Verschiebung: Es sind die Bilder und Töne, aus denen heraus sie formuliert werden muss.

So versammeln die drei Filmemacherinnen diverse Aufnahmen, die einer Vielzahl politischer AkteurInnen entsprechen; ihre Filme sind Orte der Versammlung in einem filmischen wie in einem demokratischen Sinne, an denen verschiedenes Filmmaterial und verschiedene TeilnehmerInnen am demokratischen Prozess zusammenkommen und ihre Stimmen erheben. Beckermann hat in Waldheims Walzer eigene Videoaufnahmen von 1986 ausgegraben, gedreht während des damaligen österreichischen Bundespräsidentenwahlkampfs, und sie mit Fernsehmaterial der Epoche zusammenmontiert. Auf diese Weise entsteht ein vielstimmiges Bild der Proteste gegen den umstrittenen Kandidaten Kurt Waldheim, dessen verdrängte Nazivergangenheit damals ebenso ans Licht kam wie die eines ganzen Landes, sowie ein Porträt von Waldheims GegnerInnen und seinen VerteidigerInnen (und natürlich von Waldheim selbst). Das Bild in Aggregat funktioniert eher wie eine demokratische Agora: Die Kamera gibt einen Rahmen vor, in dem die Leute zu Wort kommen, diskutieren, sich inszenieren. Wilke tourt durch das Deutschland der Gegenwart, sie filmt BesucherInnen im Bundestag, Bürgergespräche und Pegida-Demos, während bei PolitikerInnen und in Medienhäusern die Frage aufkommt, wie mit rechtem Wutvolk und fremdenfeindlicher Stimmung am besten umzugehen sei. Wie der Film von Beckermann besteht dann auch Konrads Unas preguntas aus Videoaufnahmen, gemacht zwischen 1987 und 1989 in Uruguay: Nach dem Ende der Militärdiktatur betreibt die Filmemacherin auf den Straßen von Montevideo eine beeindruckende Stimmen- und Bilderkollekte, in der sie die Leute zu einem bevorstehenden Referendum über die Abschaffung eines Gesetzes zur Straffreiheit für Militärs befragt, die während der Diktatur entführt, gefoltert und gemordet haben, wobei sich GegnerInnen und BefürworterInnen des Referendums gegenüberstehen.

Das Bild als „Agora“ ist dabei gleichzeitig ein Ort des Schreckens, der knapp unter der Oberfläche des Sichtbaren lauert. Schaut man etwa Kurt Waldheim nur lange genug zu, wie er da bei einer Wahlkampfveranstaltung auf der Bühne steht, während die Kamera langsam von seinem Gesicht zurückzoomt und den Blick auf seine Hände mit ihren langen, knochigen Fingern freigibt, die direkt vor seinem Gesicht zu schweben scheinen – dann kommt man nicht umhin, ihn als Figur aus einem Horrorfilm zu identifizieren. Im Off-Kommentar erzählt Beckermann, dass es die Hände und das Lächeln des Kandidaten gewesen seien, die sie damals so fasziniert hätten.

Man möchte ergänzen, dass Hände und Lächeln noch eher an Murnaus Nosferatu erinnern oder an Wes Cravens Freddy Krüger. Viele Jahre später, irgendwann zwischen 2016 und 2017, werden in Aggregat ähnliche Kreaturen erscheinen: Die Pegidisten, die auf die Kamera zumarschieren, tun dies nicht nur unter einem außerordentlich trüben Himmel, sondern sie erinnern mit ihren Deutschlandfahnen und schlimmerer Folklore nahezu zwangsläufig an ein Zombieheer, das sich aus der Tiefe alter völkischer Nostalgie auf die ZuschauerInnen zubewegt. In Unas preguntas ist der Horror schließlich subtiler, unsichtbarer: Er steckt in den Stimmen der auf der Straße Befragten, in den Erzählungen von Folter, Vergewaltigungen und Entführungen aus der Zeit der gerade beendeten Militärdiktatur. Die Bilder der Agora erinnern an den Schrecken, der unter ihnen lagert, halb unsichtbar und halb durchscheinend – nie ganz verschwunden, stets zur Rückkehr bereit.

Was niemals verschwunden war oder mit ständiger Rückkehr droht, ist die Vergangenheit, ist das Produkt einer Verdrängung von Geschichte und geschichtlicher Schuld. Waldheim, bis 1981 Generalsekretär der Vereinten Nationen, hatte offenbar eine wesentlich steilere Nazikarriere hinter sich, als er zuvor zugegeben hatte, und zumindest moralische Mitschuld an Kriegsverbrechen und Deportationen – stritt aber auch nach Bekanntwerden der Vorwürfe weiterhin ab, von irgendetwas gewusst zu haben. Gerade anhand des alten Nazis Waldheim zeigt Beckermann, dass die forcierte Nicht-Aufarbeitung der Beteiligung am Nationalsozialismus in Österreich einer Konservierung des reinsten Antisemitismus gleichkam: Die Enthüllungen des World Jewish Congress kommentieren Waldheim und Mitglieder der konservativen ÖVP als Verleumdungskampagne und Versuch ausländischer Wahleinmischung (durch eine „kleine aber einflussreiche Gruppe“), während auf den Straßen Wiens die guten BürgerInnen des Alpenstaates herausschreien können, dass die „Juden die Welt regieren“. In Konrads Film ist es der Zusammenhang zwischen Amnesie und einer ständigen Rückkehr des unter den Teppich Gekehrten, der in die Augen springt: Ein Wahlwerbespot, der für die Beibehaltung der Amnestie wirbt, zelebriert eine Reihe von vorangegangenen Amnestien in der uruguayischen Geschichte – so dass entgegen der Intention des Spots überdeutlich wird, dass gerade das wiederholte Vergessen und Verdrängen überhaupt erst zu der permanenten Wiederholung an Konflikten geführt haben muss.

Diese Art der Verdrängung funktioniert nicht, ohne dass dabei nicht auch ein Anspruch auf eine Wahrheit erhoben wird, unter deren Vorzeichen der politische Diskurs geführt wird. Bei Beckermann und Konrad bezeichnet die Rechte die Versuche der Aufdeckung vergangener Verbrechen als Lügen- und Verleumdungsunternehmen, während sich bei Wilke die Pegidisten und Enttäuschten ihrerseits von der aktuellen deutschen Regierung „belogen“ fühlen, ohne auch nur einmal konkret zu sagen, warum. Nimmt man die drei Filme zusammen, zeichnen sie ein sehr gegenwärtiges Bild davon, wie in einem rechten Diskurs im postfaktischen Zeitalter das Konzept der „Wahrheit“ gekapert wird: Man behauptet sie und bemächtigt sich ihrer, indem man die anderen der Lüge bezichtigt. Nun besteht die Arbeit der Filmemacherinnen gerade nicht darin, eine historische Rekonstruktion oder Verifikation der Fakten zu betreiben. Es geht ihnen weniger darum, Wahrheit zu rekonstruieren und damit ihrerseits einen Anspruch auf sie zu erheben, um sie dem Vorwurf der Lüge entgegenzuhalten. Ebenso wenig sagen sie, dass es gar keine Wahrheit gäbe. Ihr Herangehen ist wesentlich einfacher und subtiler: Sie beschränken sich darauf zu zeigen, wie Wahrheit im politischen Diskurs medial hergestellt wird und dass es diese Herstellung ist, die sie dem Zweifel aussetzt und relativierbar macht.

Noch mehr als zwischen verschiedenen Diskursen spielt sich der politische Kampf vielleicht zwischen den Bildern ab, etwa zwischen den Farben, die in der Zeit vor dem Referendum in Uruguay zu den Logos der kontrahierenden Lager werden: Die „Grünen“ sind für, die „Gelben“ gegen die Aufhebung der Amnestie für das Militär, und sie liefern sich im Fernsehen eine Propagandaschlacht, in der zwischen Autoreifen, Kühlschränken und Kaffee zwei politische Positionen wie attraktive Produkte beworben werden (worin Unas preguntas Pablo Larraíns No! ähnelt, in dem es um die etwa zur gleichen Zeit stattfindende Werbekampagne für freie Wahlen am Ende der Pinochet-Ära in Chile geht). Selbst die Werbung der Grünen, welche die Militärs verurteilt sehen wollen, erinnert in keiner Weise an die Gräuel der Diktatur – stattdessen sieht man fröhliche Menschen, TänzerInnen und Mähdrescher. Indem Konrad immer wieder diese Fernsehclips in ihre Interviewsammlung zwischenschneidet, werden die gesammelten Stimmen in den vier Stunden Material als endlose Variationen dieser zwei Logos erkennbar – als würde Konrad eine Umfrage bei Kunden durchführen, für welches Produkt sie sich entschieden haben. Das (Werbe-)Bild entspricht weniger einer konkreten politischen Botschaft als einem reinen Signal, einem Farbimpuls, der die Leute in verschiedene Richtungen orientiert.

Die Filmemacherinnen filmen die Diskurse eher, als dass sie diese aktiv führen. Im Fall von Wilke wird dies am deutlichsten: Die Kamera wird aufgestellt und richtet eine Zone ein, in der andere ihre Stimme erheben können. Bei Konrad darf man nicht vergessen, dass nicht sie selbst die Interviews führt (das macht eine uruguayische Freundin), sondern die Frau hinter der Kamera ist. Ihre Art, mit der Kamera während der Interviews auch mal von den GesprächspartnerInnen ihrer Freundin weg- und durch die Gegend zu schwenken verrät viel darüber, wie sehr die kurz zuvor erst nach Uruguay gekommene Schweizerin jenseits der politischen Diskussionen von einem Ort fasziniert ist, den sie gerade erst kennenlernt. Dieser persönliche Bezug zu den Aufnahmen wird auch bei Beckermann deutlich. Sie selbst war zwar Aktivistin während der Anti-Waldheim-Proteste, auf einigen Aufnahmen ist sie sogar selbst zu sehen, weswegen, wie sie im Off sagt, diese Bilder nicht von ihr stammen konnten. Dokumentieren oder demonstrieren – das sei für sie immer wieder die Frage gewesen. Die Möglichkeit, Stellung zu beziehen steht gegen die Möglichkeit, die Stellungnahme zu dokumentieren; um den Diskurs filmisch festzuhalten, ihn filmisch unterstützen zu können, muss man ihn immer auch ein wenig im Stich lassen. So ist es auch bei Beckermann gerade ihre Rolle als Filmerin (nicht ihre Rolle als Aktivistin), durch die sie sich von dem politischen Diskurs ein wenig distanzieren muss, während dadurch eine andere, direktere, persönlichere Art der Affizierung von diesen Bildern möglich wird.

Die konkreten Inhalte der politischen Diskurse bleiben in diesen drei Filmen also eher sekundär: Die Wahrheit wird konstruiert, der Dialog findet nicht statt, die politische Auseinandersetzung ist eine Werbeschlacht. Und ebenso persönlich, relativ und subjektiv wie die Wahrheit im politischen Diskurs ist dann auch das einzig mögliche Verhältnis zu diesen Bildern ein persönliches. Aber gerade dieses Primat des persönlichen Affiziertwerdens führt dazu, dass die Bilder weiter affizieren können und, indem sie affizieren, der ewigen Relativierung der Wahrheit die Wahrheit eines Affekts entgegensetzen, der ebenso ein politischer wie ein filmischer ist. Dieser Affekt bezieht sich im gleichen Maße auf die Möglichkeit, von dem Unrecht der Geschichte berührt zu werden wie von den Bildern. Er macht erfahrbar, dass der Unterschied zwischen links und rechts in zwei konträren Geschichtsvorstellungen besteht: Für die Rechten ist Geschichte vorbei, abgeschlossen, sie affiziert nicht mehr – die vergangenen Gräuel sollen vergessen und verdrängt werden; für die anderen ist Geschichte nie vorbei, sie verlangen Aufarbeitung, Gerechtigkeit – die Möglichkeit, erneut von ihr affiziert zu werden. Dadurch können die Bilder aus den achtziger Jahren sich aus ihrer historischen Datiertheit, in welcher der rechte Blick sie gerne einfrieden würde, herauslösen, um sich heute erneut an unsere Affektion anzudocken. Nicht einfach, weil Österreich zuletzt beinahe einen extrem rechten Bundespräsidenten gewählt hätte (um dann tatsächlich eine rechtskonservative Regierung zu wählen) berühren Beckermanns Waldheim-Aufnahmen die Gegenwart, sondern weil sie, viel allgemeiner, eine Geschichte transportieren, die weiter nach Gerechtigkeit schreit, deren Affektpotenzial noch immer intakt ist.

Dieser Affekt markiert die Unvereinbarkeit zwischen der linken und rechten Geschichtsvorstellung. Aber dazu gemeindet er die Bilder der Rechten ein, weist ihnen – als Bilder und als Affekte – einen Platz zu. Was bei Beckermann und Konrad von früher in die Gegenwart drängt und was Wilke für diese Gegenwart porträtiert, ist gerade die Persistenz oder Rückkehr autoritärer und antidemokratischer Züge in Form des Verdrängten. Es sind gerade diese Bilder (der Rechten), die affizieren. Auf diese Weise erlauben diese Filmdemokratien mit dem rechten Horror zu leben. Mit Rechten kann man nicht zusammenleben. Mit ihren Bildern schon.

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