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76 Min. Arabisch.

In den Straßen rund um den Hafen von Casablanca diskutiert eine Gruppe von Filmemacher*innen mit Passanten über deren Erwartungen an das junge marokkanische Kino. Als ein wütender Arbeiter seinen Vorgesetzten tötet, verlagert sich die Befragung auf den Kontext und die Motive der Tat. De quelques événements sans signification ist im Kern ein Film über die gesellschaftliche Rolle von Kino (und Kunst), Dokumentarismus und Realität und die Frage, welche Themen für ein im Entstehen begriffenes nationales Kino relevant sind. Der Film ist das Resultat einer Zusammenarbeit streitbarer Filmemacher*innen, Schauspieler*innen, Musiker*innen, Dichter*innen und Journalist*innen, die erleben mussten, wie in ihrem Land der Druck auf die Meinungsfreiheit zunehmend erhöht wurde. Finanziert wurde das Projekt über den Verkauf von Gemälden zeitgenössischer Künstler*innen. Erstmals 1975 in Paris gezeigt, wurde der Film in Marokko umgehend zensiert und für Vorführungen und den in-ternationalen Vertrieb gesperrt. Er geriet in Vergessenheit – bis 2016 in den Archiven der Filmoteca de Catalunya ein Negativprint gefunden und restauriert wurde. 45 Jahre nach seiner Entstehung kommt der Film in die Kinos. (Rasha Salti)

Mostafa Derkaoui wurde 1944 in Oujda (Marokko) geboren. Von 1963 bis 1964 studierte er an der französischen Filmhochschule Institut des Hautes Études Cinématographiques (IDHEC, heute La Fémis) in Paris, bevor er von 1965 bis 1972 ein Studium an der polnischen Filmhochschule Państwowa Wyższa Szkoła Filmowa i Teatralna in Łódź absolvierte. Gemeinsam mit seinem Bruder gründete Derkaoui 1974 die Filmproduktion Basma Productions. De quelques événements sans signification war sein erster abendfüllender Film.

Durch und durch ein Kollektivprojekt

Im Januar 1974 kehrte Mostafa Derkaoui von seinem Studium an der Filmhochschule im polnischen Łódź nach Casablanca zurück. Gemeinsam mit seinem Bruder Abdelkarim drehte er seinen ersten Film in den Bars und Straßen, im Hafen und in den ärmeren Vierteln der Stadt. Der unabhängig produzierte Film war von einer in der kulturellen Geschichte des Landes einzigartigen kollektiven Energie getragen, auch wenn das marokkanische Kino damals erst am Anfang seiner Entwicklung stand.
Aus Zensurgründen wurde der Film so viele Jahre lang nicht in der Öffentlichkeit gezeigt, dass die Mitwirkenden sich am Ende nur noch an die außergewöhnlichen Dreharbeiten erinnern konnten. Und mitgewirkt hatten viele: zuallererst die modernen Maler (Melehi, Chebaa, Hamidi und andere), die zur Finanzierung des Films beitrugen, indem sie ihre Werke verkauften; dann die Gruppe von Leuten, die ständig in der Nähe von Mostafa Derkaoui waren, in erster Linie sein Bruder, aber auch die Schauspieler des städtischen Theaters, die Musiker der beliebten Gruppe Jil Jalala und außerdem die damals engagiertesten Schriftsteller, Journalisten und Dichter (Mostafa Nissabory und Mohamed Zeftzaf) – zumindest diejenigen, die nicht im Gefängnis saßen.
Denn schon seit mehr als einem Jahrzehnt waren diese aufrührerischen Geister, die zum großen Teil kurz zuvor von ihrem Kunst-, Film- oder Literaturstudium aus dem Ausland zurückgekehrt waren, starken Repressionen ausgesetzt. Die Zeitschrift „Souffles“, die ihnen freie Ausdrucksmöglichkeiten geboten hatte, war verboten und ihr Gründer Abdellatif Laabi verhaftet worden, zusammen mit zahlreichen anderen im Untergrund tätigen Sympathisanten und Aktivisten der marxistisch-leninistischen Parteien, die auf eine Revolution hinarbeiteten. Die politische Situation in Marokko verschärfte sich 1971 und 1972 durch zwei gescheiterte Militärputschs, welche die Isolation und die damit einhergehende Repression durch König Hassan II. noch verstärkten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Verbot des Films, der eine marxistische Jugend und die Revolte eines Arbeiters zeigt, der seinen Vorgesetzten umbringt.
Mostafa Derkaoui wollte einen Film machen über „einen normalen Marokkaner und alles, was ihm widerfahren kann, und einen Film gegen die autoritären Herrschaftsverhältnisse“. Einen Film, der sich gegen diejenigen richtet, die sich für Oppositionelle halten und die Ideale der Emanzipation hochhalten, während sie in Wirklichkeit als „Handlanger des Regimes“ das Volk unterdrücken helfen. In Derkaouis Film ist nicht der Regisseur der Rebell mit seiner Gruppe marxistischer Künstlerfreunde, die die Leute befragen und sich Gedanken über die Kultur und die Gesellschaft machen; der Rebell ist der junge Mann, der seinen Chef umbringt, weil er es nicht mehr erträgt, ausgebeutet zu werden. (Alle Zitate aus einem Gespräch zwischen Mostafa Derkaoui und Léa Morin, Juni 2015)

Ein ungewöhnliches Finanzierungsmodell

In einem Gespräch mit Nourredine Sail erklärte Mostafa Derkaoui (…), dass sein „Projekt zutiefst als Kollektivarbeit“ zu verstehen sei. „Das macht es, glaube ich, im Wesentlichen aus. Und diesen Kollektivcharakter wollten wir auf allen Ebenen des Projekts bewahren. Deshalb beruhte die Produktion auch sehr stark auf der konkreten materiellen Unterstützung einiger marokkanischer Künstler (...).“
Mostafa Derkaoui spielt hier auf das einzigartige Finanzierungssystem an, das erfunden wurde, um DE QUELQUES ÉVÉNEMENTS SANS SIGNIFICATION zu produzieren und die Unabhängigkeit dieses Films zu sichern. Dazu beigetragen haben so renommierte Maler wie Melehi, Hamidi, Chabaa, Bekkai, Miloud, Belcadi, Kacimi und Aziz Sayed. (Maghreb Information, Gespräch mit Nourredine Sail, April 1974)

Ein radikales Kino

Von Anfang an „wollte ich nicht erzählerisch, nicht fiktional arbeiten, sondern das Kino mit Mitteln untersuchen, die mich seine Funktionsweise besser verstehen lassen und diese soweit möglich auch dem Publikum nahebringen würden. Während ich in Marokko meinen ersten Spielfilm DE QUELQUES ÉVÉNEMENTS SANS SIGNIFICATION drehte, bei dem Abdelkarim die Kamera übernahm, begann für uns eine Phase, in der wir unsere Vorstellung davon, was Film ist, was Film untersuchen soll, mit der Wirklichkeit draußen konfrontieren konnten (…).“ (Études cinématographiques, revue du FNCCM, Juli 1985, Gespräch mit Mostafa und Abdelkrim Darkoui, geführt von Driss Chouika und Mohamed Kaouti)

Filmemacher hatten keine Rechte

In seiner bisher unveröffentlichten „Geschichte des marokkanischen Kinos“ erzählt der Filmemacher und Schriftsteller Ahmed Bouanani, dass „die Dreharbeiten für diesen Film in die Annalen des marokkanischen Kinos eingehen werden, weil nie zuvor ein ähnliches Projekt so viel Enthusiasmus und so viel Energie freigesetzt hat. (...) Aber das Publikum wird zweifelsohne niemals die Gelegenheit haben, diese Arbeit selbst zu beurteilen. In jeglicher Hinsicht führt dieser Film – ebenso wie andere auch – dem unerfahrenen wie dem kinobegeisterten Zuschauer drastisch vor Augen, dass marokkanische Filmemacher in den 70er- und 80er-Jahren nicht das Recht hatten, die Kamera zu benutzen, wie man etwa ein Mikroskop im Labor benutzt, und dass sie sich bestimmten Anforderungen zu beugen hatten. Zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen – mit anderen Worten: wenn es ein etabliertes marokkanisches Kino gäbe – hätte man die Suche nach einer neuen audiovisuellen Sprache vermutlich mit Wohlwollen und Ermutigung bedacht.“ (La septième porte. Eine Geschichte des marokkanischen Kinos von 1907 bis 1986, Ahmed Bouanani, 1987, unveröffentlicht. Das Buch wird demnächst bei Kulte Éditions, Rabat 2019, erscheinen.)

Eigene Wege, eigenes Kino

Bouanani wirft das Problem auf, dass in Marokko ein „Kino des Suchens und Erforschens“ („cinéma de recherche“) existiert, vergleichbar mit dem alternativen oder Untergrundkino, das sich häufig in Ländern mit einer bereits etablierten Filmkultur als Gegenbewegung entwickelt – und das, obgleich das marokkanische Kino noch im Entstehen ist. Derkaoui ist sich dessen bewusst, weigert sich aber, „traditionelles“ Kino zu machen; er will den Erwartungen des Publikums und der Kritik nicht nachgeben. Nach vielen Jahren, die er im Ausland verbracht hat, um Film zu studieren, möchte der Filmemacher in seinem Metier „anders“ vorgehen. In einem Interview mit dem Dichter Mostafa Nissaboury erläutert er seine Gründe: „Die Strukturen des Kinos sind einerseits nicht vereinbar mit unserer Art, die Dinge zu sehen; andererseits wollen wir etwas Eigenes ausprobieren, etwas, das weder die Erfahrungen der Menschen in den kapitalistischen Ländern aufgreift noch derjenigen in den Ländern der Dritten Welt wie Algerien, Ägypten und Brasilien.“ (Pour une dynamique du cinéma collectif, Mostafa Nissaboury, Integral, März/April 1974)

Was ist Kino?

Dieser politische Film, zwischen Spiel- und Dokumentarfilm angesiedelt und von der Zensur verboten, unternimmt eine Reflexion über die Wesensart der filmischen Sprache und ihre Beziehung zur Gesellschaft.
Bei einem Treffen in Marrakesch im Februar 2016 mit Filmstudierenden kam Mostafa auf seinen Ansatz zurück. „Für mich muss das Kino von sich selbst sprechen, sich die Frage stellen: Was ist Kino? Leuten, die wir im Bistro, im Hafen angesprochen hatten, stellten wir Fragen zum Kino. Abbas Fassi-Fihri fragt eine Frau: ‚Welches ist ihr Lieblingsfilm?‘ Sie antwortet: ‚Das marokkanische Kino natürlich, marokkanische Filme.‘ An dieser Stelle hakt Fassi-Fihri nach: ‚Welche marokkanischen Filme haben Sie denn gesehen?’ ‚Keinen.‘ Trotzdem mag sie das marokkanische Kino am liebsten. Man kann das marokkanische Kino mögen, selbst wenn es dort kein Filmschaffen gibt.“ (La Serre, Cyber Parc de Marrakech, Atelier de L’Observatoire, Gespräch von Léa Morin mit Mostafa Derkaoui)

Die Restaurierung des Films

Nach Ende der Dreharbeiten wurde das 16-mm-Originalnegativ im spanischen Labor Fotofilm entwickelt. Der Schnitt fand in Marokko statt, danach wanderte das Material von Madrid nach Barcelona, wo es von 16 mm auf 35 mm aufgeblasen wurde. 1975 wurde der Film bei einem Filmfestival in Paris gezeigt. Weil man ihn weder vorführen noch exportieren durfte, beschränkte sich seine Verbreitung von da an auf geheime Vorführungen.
Anfang der 2000er-Jahre zirkulierten in filminteressierten Kreisen nur einige VHS-Kopien und später einige DVDs von schlechter Qualität, die sich dem Sammler Mostafa Dziri, einem Freund Derkaouis, verdankten. Der Filmemacher Ali Essafi benutzte 2011 Auszüge daraus für seinen Kurzfilm WANTED. Die Originalnegative gingen mit der Insolvenz des Labors Fotofilm 1999 verloren.
Erst als die auf die Geschichte des marokkanischen Kinos spezialisierte Filmwissenschaftlerin Léa Morin 2016 mit ihren Recherchen begann, stieß sie in der Filmoteca de Catalunya in Barcelona auf die Negative. Diese Entdeckung und der darauffolgende  Briefwechsel zwischen ihr, den Brüdern Derkaoui und dem Team der Filmoteca de Catalunya bewirkten, dass man sich an die langwierige Restaurierung des Films machte, damit er vierzig Jahre nach seiner Entstehung endlich entdeckt und international gezeigt werden kann.
Die Restaurierung des Films fand parallel zu Léa Morins Recherchen (L’Observatoire, art et recherche) statt. Daraus hervorgegangen sind ein Buch, eine Ausstellung und eine Veranstaltungsreihe, an der Filmemacher, Kunsthistoriker, Filmkritiker und Künstler teilnahmen.
Mit Unterstützung von L’Observatoire, dem Musée Collectif de Casablanca, der Filmoteca de Catalunya, dem Arab Fund for Art and Culture (AFAC), Akademie Schloss Solitude und Kibrit.

Was der marokkanische Film tut und lässt

Der Film zeigt eine Gruppe Filmemacher, trunken von Wein und marxistischen Grundprinzipien. Sie fragen sich, was der kollektive Zweck ihrer Kunst sei, und suchen ein Thema für ihren Film (...). Weil sie eine Auseinandersetzung über das Kino anstoßen wollen, schwärmt die Gruppe in Casablanca aus und sucht nach einem hypothetischen Publikum, das sie etwas machen lässt, das mit den Erwartungen der Zuschauer zu tun hat. Begegnung folgt auf Begegnung, Aussage auf Aussage. „Das engagierte marokkanische Kino“, sagen sie, „muss sich für die Probleme der Gesellschaft interessieren.“ – „Das marokkanische Kino gibt es gar nicht.“ – „Als Zuschauer fällt es uns schwer zu sagen, was Sie machen sollten.“ – „Machen Sie erst mal einen Film, danach können wir darüber reden.“ – „Ich liebe das marokkanische Kino. Ich würde bei jeder marokkanischen Produktion mitmachen“, beteuert ein junger Mitarbeiter der Präfektur. (Reda Zaireg, Le cinéma marocain confronté au réel, Orient XXI, November 2017)

(Textsammlung: Léa Morin)

Produktion Mostafa Derkaoui. Produktionsfirma Basma Production (Casablanca, Marokko). Regie, Buch Mostafa Derkaoui. Kamera Mohamed Abdelkrim Derkaoui. Montage Mostafa Derkaoui. Musik Jazz-Band "Nahorny". Ton Stan Wiszniewski, Noureddine Gounejjar, Larbi Essakalli, Miloud Bourbouh, Menouar Samiri. Digitale Restaurierung Centre de Conservació i Restauració de la Filmoteca de Catalunya, Barcelona, L’Observatoire, le Musée Collectif de Casablanca. Mit Abdellatif Nour, Abbas Fassi-Fihri, Hamid Zoughi, Mostafa Dziri, Aïcha Saâdoun, Mohamed Derham, Salah-Eddine Benmoussa, Abdelkader Moutaâ, Khalid Jamaï, Chafik Shimi, Malika El Mesrar, Omar Chenbout, Mostafa Nissabouri.

Weltvertrieb Léa Morin | Observatoire

Filme

1964: Les quatre murs. 1968: Amghar (4 Min.), Adoption (4 Min.). 1969: Les gens du caveau (20 Min.), Les États généraux du Cinéma. 1970: Un jour quelque part (20 Min.). 1974: De quelques événements sans signification / About Some Meaningless Events. 1976: Les cendres du clos (105 Min.; Kollektivfilm). 1982: Les beaux jours de Chahrazade (97 Min.). 1984: Titre provisoire (120 Min.). 1988: La femme rurale au Maroc. 1992: Fiction première (120 Min.), Le silence (18 Min., Episode des Omnibusfilms La Guerre du golfe …. et après?). 1993: Le doux murmure du vent après l’orage (22 Min.). 1994: Je(u) au passé (81 Min.), Les sept portes de la nuit (100 Min.), La grande allégorie (67 Min.). 2000: Les amours de haj Mokhtar Soldi (130 Min.). 2003: Casablanca by Night (100 Min.). 2004: Casablanca Daylight (100 Min.).

Foto: © Observatoire/Filmoteca de Catalunya/Basma

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