Direkt zum Seiteninhalt springen

70 Min. Französisch.

Die legendäre Schauspielerin Delphine Seyrig war in den 70er Jahren als singende Fee, lesbische Vampirin, ätherische Botschaftergattin und Kartoffeln schälende Hausfrau im Kino zu sehen. Gleichzeitig engagierte sie sich als Feministin und nahm als solche selbst die Kamera in die Hand. Zusammen mit Carole Roussopoulos gehörte sie zu den ersten Videoaktivistinnen in Frankreich, die nicht nur Demonstrationen der französischen Frauenbewegung dokumentierten, sondern das neue Medium auch nutzten, um die dominante Darstellung von Frauen im TV und anderswo mit eigenen Bildern und Kommentaren zu kontern. Auch Video-Workshops und die Gründung des feministischen Archivs „Centre audiovisuel Simone de Beauvoir“ waren Teil des Projekts, sich selbst zu erzählen. Anhand von zahlreichen Ausschnitten aus feministischen Arbeiten der Videogruppen „Les Insoumuses“ und „Video Out“ sowie aus Talkshows mit u.a. Simone de Beauvoir, Marguerite Duras und Chantal Akerman schreibt der Film ein Kapitel der Geschichte des Feminismus und skizziert die Anfänge einer kreativen politischen Praxis, die kollektive Aktion, mediale Intervention und archivarische Dokumentation frech, subversiv und mit Humor verband. (Birgit Kohler)

Callisto Mc Nulty wurde 1990 in Paris geboren. Sie studierte Culture, Criticism and Curation am Central Saint Martins – University of the Arts London sowie Gender Studies am Goldsmiths, University of London. Sie ist als Autorin, Filmemacherin, Übersetzerin und Kuratorin tätig. Delphine et Carole, insoumuses ist ihr zweiter abendfüllender Film.

Video, Film und Feminismus

DELPHINE ET CAROLE, INSOUMUSES dokumentiert das feministische Engagement und das Zusammentreffen der französischen Schauspielerin Delphine Seyrig und der Schweizer Videopionierin Carole Roussopoulos. Das filmische Porträt dieser beiden furchtlosen Komplizinnen und ihres subversiven, kämpferischen Umgangs mit Film und Video zeichnet die Zeit des von beißendem Humor und kreativer Energie geprägten – des  „verzauberten“ – Feminismus der 1970er-Jahre nach.
Der Film ist ebenso in einem historischen wie in einem persönlichen Kontext verankert, was mir Gelegenheit bot, mich mit der Arbeit und den Ansichten meiner Großmutter Carole Roussopoulos auseinanderzusetzen. Ihr letztes Projekt, mit dem sie sich bis kurz vor ihrem Tod 2009 beschäftigte, wurde zum Ausgangspunkt meines Films. Sie hatte mit der Arbeit an einem auf Archivmaterial basierenden Dokumentarfilm über ihre Freundin und feministische Verbündete Delphine Seyrig begonnen. In ihren Aufzeichnungen beschrieb Carole ihren dringenden Wunsch, diese ungehorsame Muse zu ehren, ihr feministisches Engagement und ihre Erfolge als Schauspielerin zu würdigen und zu feiern.
Ihr Vorhaben begeisterte mich sofort, und ich beschloss, das Projekt gemeinsam mit Alexandra Roussopoulos und Géronimo Roussopoulos weiterzuführen. Getreu Caroles humanistischem Motto, denen eine Stimme zu geben, die zum Schweigen gebracht worden sind, und Menschen für sich selbst sprechen zu lassen, entschied ich mich, ausschließlich mit Archivmaterial zu arbeiten: mit Fotografien, Ausschnitten aus Filmen und Videoarbeiten sowie mit Interviews. Delphine und Carole sollten sich selbst mitteilen.
Ich entdeckte ein faszinierendes zwölfstündiges Interview (2007 und 2008 von Hélène Fleckinger geführt), in dem Carole über ihre Arbeit als Filmemacherin, über die Frauenbewegung und ihre Freundin Delphine spricht. Ich konnte nicht anders, als Caroles starke Präsenz und Stimme in den Film mit aufzunehmen.

Die erste Begegnung
Delphines und Caroles erste Begegnung fand 1974 in Paris statt. Carole, die damals bereits politisch aktiv war, hatte die zweite Videokamera gekauft, die 1969 in Frankreich auf den Markt gekommen war (angeblich kaufte Godard die erste), und dokumentierte damit die Kämpfe der Lesben- und Schwulenbewegung (der FHAR = Front homosexuel d’action révolutionnaire; Amn. d. Red.) bzw. die der Black Panther Party. 1970 gründete sie das erste militante Videokollektiv Frankreichs, Video Out.
Die ambivalente Haltung, die Delphine Seyrig ihrem Beruf als Schauspielerin entgegenbrachte – ihr Wissen um die geschlechtsspezifischen, stereotypen Rollen sowie die Machtposition von Regisseuren und Produzenten – hatte sie in das Studio geführt, in dem Carole einen Videoworkshop für eine Gruppe von Frauen veranstaltete. Dort entdeckte Delphine das subversive Potential des Mediums Video.
Als Delphine Seyrig an die Tür klopfte, erkannte Carole die berühmte Schauspielerin zunächst nicht. Nach Ende des Workshops wurden die beiden Freundinnen und begannen, eine Reihe von gemeinsamen Filmen zu realisieren, darunter MASO ET MISO VONT EN BATEAU (1976) und S.C.U.M. MANIFESTO(1976). Ebenfalls gemeinsam gründeten sie das feministische Videokollektiv Insoumuses (Wortspiel aus franz. insoumis = aufsässig und franz. muse = Muse; Anm. d. Red) sowie im Jahr 1982 zusammen mit Ioana Wieder das Centre audiovisuel Simone de Beauvoir, das erste Archiv, das audiovisuelles Material von Frauen und über Frauen archivierte.

Ein neues, unbelastetes Medium
Mit DELPHINE ET CAROLE, INSOUMUSES beschreibe ich die bemerkenswerte Entwicklung zweier Frauen im Bereich Video und Film, die sich in den Jahren des „verzauberten“ Feminismus, zwischen Anfang der 1970er-Jahre und 1982, immer wieder trafen. Der Film zeigt auch, wie Video als kreatives und emanzipatorisches Werkzeug, als neues, unbelastetes Medium aufkam, dessen sich Frauen bedienen konnten.
Außerdem wollte ich die Begegnung der beiden Frauen würdigen: Für beide wurden die Zusammenarbeit, die Treffen und die Kommunikation miteinander zu wichtigen Impulsen, um Veränderungen anzustoßen und die bisherige Ordnung der Dinge in Frage zu stellen. Ihre Filme und Aktionen machen deutlich, dass Humor eine Waffe sein kann, um eine umfassende Zerstörung des Patriarchats herbeizuführen!
Auch ihre Auffassung von Aktivismus soll in dem Film deutlich werden – eine Art „Feenminismus“ –, die mich inspirierte, weil es dabei um Lebensfreude geht, weil die Grenzen zwischen dem Politischen und dem Privaten verwischen und weil sie eine Opferhaltung ablehnten. Carole sagte, dass sie ihr Leben nicht in „Salami-Scheiben aufteilen wollte“, dass Arbeit, Aktivismus und Freundschaft zusammengehören und einander ergänzen.
Da DELPHINE ET CAROLE, INSOUMUSES ausschließlich aus Archivmaterial besteht, ging es bei der Arbeit an dem Film vor allem darum, die Bilder der Frauen und ihre Stimmen zu verflechten und zueinander in Bezug zu setzen. Die Montage des Films war eine Herausforderung und die Zusammenarbeit mit Josiane Zardoya überaus wertvoll. Ich habe versucht, Delphines und Caroles beißenden Humor und ihre Respektlosigkeit durch die Gegenüberstellung verschiedener Arten von Bildern sichtbar zu machen und verwendete Ausschnitte aus Videoproduktionen, aus Filmen mit Delphine Seyrig als Schauspielerin, aus Interviews mit beiden Frauen sowie Fotografien. Auf diese Weise nehmen Kino, Video und Feminismus aufeinander Bezug, fungieren jeweils als Echo aufeinander.
Der Kampf der Feministinnen in den 1970er-Jahren, den ich in meinem Film zeige, hallt auf überraschende Weise in den Kämpfen der Frauen von heute nach – sei es in Bezug auf stereotype Rollen, in denen Frauen und besonders Schauspielerinnen gezeigt werden (und die wie durch ein Vergrößerungsglas den inhärenten Sexismus und Rassismus entlarven), oder auf die Machtverhältnisse am Arbeitsplatz wie auch im privaten Umfeld, auf das Reproduktionsrecht oder auf die Rechte von Lesben oder Sexarbeiterinnen.
Ich bin davon überzeugt, dass Delphines und Caroles ansteckende, kreative Energie eine Kraftquelle für uns sein kann. Ihre Art des politischen Engagements und der freudvollen Radikalität, die sie verkörperten, ist wichtiger denn je in der heutigen Zeit, in der so viel als „feministische Spielverderberei“ abgetan wird.
Die Erinnerung an Delphine und Carole zu bewahren, trägt nicht nur dazu bei, eine aus der Perspektive von Frauen geschriebene Geschichte zu dokumentieren, sondern schenkt uns Informationen und Energie, aus denen wir Erkenntnisse ziehen und Vertrauen schöpfen können. (Callisto McNulty)

Produktion Sophie de Hijes, Nicolas Lesoult, Britta Rindelaub, Nicole Fernandez Ferrer, Sylvie Cazin. Produktionsfirmen Les films de la butte (Paris, Frankreich), Alva Film (Genf, Schweiz), Le Centre audiovisuel Simone de Beauvoir (Paris, Frankreich), Ina – Institut national de l'audiovisuel (Bry-sur-Marne, Frankreich). Regie Callisto Mc Nulty. Buch Callisto Mc Nulty, Alexandra Roussopoulos, Géronimo Roussopoulos. Montage Josiane Zardoya. Musik Manu Sauvage. Sound Design Philippe Ciompi. Ton Philippe Ciompi.

Weltvertrieb MPM Premium
Uraufführung 08. Februar 2019, Forum

Filme

2017: Éric’s Tape (70 Min., Co-Regie: Anne Destival). 2019: Delphine et Carole, insoumuses / Delphine and Carole.

Foto: © Archives Centre audiovisuel Simone de Beauvoir

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur