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Eine elegante Plansequenz begleitet Jackie Curtis über den Broadway. Die Drag Queen gehörte mit Candy Darling und Holly Woodlawn zu dem berühmten Trio von Pionierinnen, die der Sage nach erstmals beschlossen, im Drag auch dann zu bleiben, wenn sie Feierabend machten und die Sets in Warhols Factory verließen. Ein Coppertone-Commercial begleitet Jackie und ihre Begleiterin Rotten Rita aus dem Off, während die Marquees der Theater und Kinos vorbeiziehen und für amerikanische Werte alter Schule werben. Als Nächstes spielt das unsichtbare Radio „Teach Your Children!“ von Crosby, Stills, Nash & Young, eine der zahmeren Hymnen der sogenannten Gegenkultur, ein konstruktiver Vorschlag, Weltverbesserung durch Pädagogik – da sind Wilhelm Reich und seine gegenkulturellen Sympathisant*innen oft gar nicht so weit. Die erste deutsche Reichianerin der 60er war Monika Seifert, Tochter der Mitscherlichs und später Anführerin der Kinderladenbewegung. Jackie Curtis erzählt derweil, wie er einen Mann, mit dem er ein schwules Sex-Erlebnis hatte, später wiedertrifft. Der Mann hat kein Interesse mehr, weil Jackie jetzt eine Frau ist – „Shaved her legs and then he was a she“, dichtete Lou Reed über ihre Transformation. „Dabei bin ich doch derselbe Mensch.“

Diesem eindrucksvollen Spaziergang über die queere und wilde Seite der sogenannten Gegenkultur stellt Dušan Makavejev in W.R. – MISTERIJE ORGANIZMA, seinem Klassiker zum Zusammenhang von Sex und Revolution, ganz andere Szenen sexueller Umbrüche gegenüber. Er besucht die Redaktion von „Screw“: Al Goldstein und Jim Buckley geben damals das Magazin heraus, dessen Pendant in Deutschland die „St.Pauli-Nachrichten“ waren: eine Sex-Wochenzeitung, die über sexuelle Themen berichtet, Hardcore-Porn zeigt, rezensiert und mit libertärem Pathos für die Legalisierung und Befreiung von allem streitet – ohne einen Gedanken an die patriarchale oder kapitalistische Grundlage dieser Befreiung zu verschwenden. Goldstein, der später auch das „Death“-Magazin herausgab (bewundert von der No-Wave-Szene der 80er und porträtiert von Rosa von Praunheim), setzte schon mal eine Million auf die Ermordung des Ayatollah Khomeini aus und passt als shady-smarter Charakter perfekt in David Simons letzte HBO-Serie The Deuce, die sich mit dem Wandel der Sex-Industrie von der Straßenprostitution zu Pornofilm, Peepshow und Performance-Formaten am Times Square um 1970 befasst. Auch in Simons Schilderung treffen solche männlich-libertären Pornopropheten auf queere Gegenkultur, feministische Politik und Sozialarbeit. Eine der ehemaligen Sex-Arbeiterinnen wird sogar zur (pornographischen) Experimentalfilmerin. Wie viel Gegenkultur steckt in Deep Throat, wie viel Wilhelm Reich und Alexandra Kollontai in den Peep-Dispositiven der Porno-Industrie? Oder umgekehrt: Ist die Gegenkultur durch ihre Komplizenschaft an der Pornifizierung der Welt diskreditiert?

Fragen, die sich an Makavejevs brillantes Essay-Doku-Spielgroteske-Konglomerat stellen lassen, das 1971 im Forum gezeigt wurde. Während der Begriff der Gegenkultur in seiner Zeit – also den späten 1960er und frühen 1970er Jahren – zunächst vor allem einen öffentlichkeitstechnischen Sinn hatte (neue und andere – außerkapitalistische – Publikationsformate, entsprechend andere Öffentlichkeitsformate wie Festivals, Demonstrationen, Gatherings, Be-Ins etc., andere Gastronomien, Wohnsituationen, Architekturen etc.), bekam die Kategorie später retroaktiv eine dekontextualisiert inhaltliche, ja teilweise auch normative Bedeutung. Es wurde über sie in Debatten gestritten, in denen es zunächst um die ewige moralische Frage des „Ausverkaufs“ gegenkultureller Werte an Unterhaltungs- und Musikindustrie ging, später um die – etwa von Thomas Frank – vertretene These, die Gegenkulturen hätten den neoliberalen Individualismus vorbereitet und seien contre cœur (oder nicht einmal contre cœur) für Entsolidarisierung, Outsourcing und Gentrifizierung verantwortlich, schließlich, dass ein direkter Weg von den Hippie-Kommunen über das dort geborene Hackertum und seine ökonomisch libertären Protagonisten in die Garagen der Gründer von Silicon Valley führe.

Von den Pauschalisierungen und interessierten Pessimismen und der Kritik daran abgesehen, hat sich in letzter Zeit auch wieder eine Gegen-argumentation gezeigt, etwa in dem von dem verstorbenen britischen Kulturkritiker Mark Fischer lancierten Begriff Acid-Communism, der genau den Zusammenhang zwischen alternativen Lebensstilen der alten Gegenkultur und erzkommunistischen Werten verteidigte. Eine in all diesen Debatten eher wenig berücksichtigte Komponente des alten Gegenkulturkomplex hat hingegen recht einheitlich einen schlechten Ruf: die sogenannte sexuelle Revolution. Noch vergleichsweise harmlos ist der Vorwurf, die Herauslösung der sexuellen Unterdrückung aus dem gegenkulturellen Kampf habe direkt der Kommodifizierung von Sexualität und damit der zeitgleich mit den Gegenkulturen entstandenen modernen Pornoindustrie zugearbeitet. Schwerer wiegt die Bilanz, dass es sich bei dieser vermeintlichen Revolution weniger um eine solche als um eine rein cis-männliche, heterosexistische Bestätigung, wenn nicht Verschärfung patriarchaler Verhältnisse gehandelt habe, zumindest diese Seite jede andere Komponente weit überwogen habe: von den Pin-up Girls in linken Zeitschriften wie „konkret“ und „Spontan“ bis zum altfeudalen ius primae noctis bei Minderjährigen, das sich Kommunenführer wie Otto Mühl allen Ernstes vorbehielten.

Zu diesen Fragen hat der Film eine Menge beizutragen, der zunächst schon durch sein vom Titel deklariertes Thema eine Wurzel gegenkultureller Sexualpolitik würdigt, die direkt an eine verschüttete kommunistische Linie von Sexualbefreiung anschließt: W.R. steht für Wilhelm Reich und nimmt die Faszination für diesen österreichischen Kommunisten und Psychoanalytiker auf, der für seine These, dass es eine sexualpolitische Kausalität zwischen Prüderie und Sinnesfeindlichkeit und faschistischen Persönlichkeiten gebe, bekannt wurde. Zugleich geht Makavejev weit darüber hinaus. Der Regisseur hatte den später umstrittenen, von kritischer Theorie wie Freudianer*innen in Acht und Bann geworfenen Reich, der sich während seiner Exiljahre in Skandinavien und den USA vom Kommunisten zum Sexualesoteriker und mystischen Anhänger von Bioenergien wandelte, nicht erst im Zuge von dessen allgemeiner Wiederentdeckung und Idealisierung während der Gegenkulturjahre kennengelernt, sondern schon 1950, als er sich bereits für die vom Stalinismus verschütteten sexualpolitischen Strömungen des frühen Kommunismus und der linken Psychoanalyse interessierte – von Alexandra Kollontai bis Otto Fenichel.

Makavejevs Film entfaltet die Komplexität der verschiedenen Schichten des Reich-Erbes – kommunistische Freiheitsutopie, Bioenergie-Esoterik, Bezugspunkt für die Gegenkultur und den jugoslawischen Antistalinismus – in drei miteinander verschränkten Strängen: Da wäre zunächst eine mit viel weitem Land und Agrartotalen arbeitende Spurensuche nach den Überbleibseln von Reichs Aktivitäten in Pennsylvania, mehr als zehn Jahre nach dem Tod des Mannes (in einem amerikanischen Gefängnis, eingesperrt wegen eines Urheberrechtsstreits), der einmal im Film auch den Namen World Revolution erhält (die andere Auflösung seiner Initialen); sodann ein semi-dokumentarischer, mit Straßentheater angereicherter Streifzug durch die sexuelle Alternativkultur New Yorks im Jahre 1970 und schließlich eine Spielfilm-Groteske, in der jugoslawische Sexbefreiungs-Aktivistinnen „freie Liebe“ praktizieren, zu den Proletarier*innen in den Sozialsiedlungen predigen und sich schließlich auf allen Ebenen mit einem sowjetischen Eiskunstläufer auseinandersetzen, der auf den Namen Wladimir Iljitsch hört.

Die sexuellen Projekte der Gegenkultur werden also bereits von zwei Grotesken eingerahmt, die aber beide nicht ohne Hoffnung erzählt werden. Die Landbevölkerung von Pennsylvania erinnert sich huldvoll an den exzentrischen Arzt und Mystiker. Weggefährt*innen, die Witwe und der Biograph Myron Sharaf schwärmen auch eher, selbst wenn Reich in alten Aufnahmen zur Wahl Eisenhowers aufruft und den Kommunismus denunziert. Auch die Übertragung der kommunistischen Sexualgeschichte samt Stalin-Auftritten aus Propagandafilmen auf die Liebes-Kontroverse zwischen jugoslawischer Revolutionärin und leninistischem Eistänzer hat versöhnliche Komponenten. Es ist eher die New Yorker Gegenkultur, deren Aktivitäten zuweilen charmant, meist aber verstaubt und absurd wirken. Tuli Kupferberg, Dichter, Performer und Mitbegründer des Beatnik-Rock-Kabarett The Fugs, stiefelt als Soldat bzw. bewaffneter Straßentheaterdarsteller durch die Gegend, während „Kill For Peace“, einer der Hits seiner Band, zu hören ist. Dem „Screw“-Redakteur Jim Buckley wird von einer der Aktivistinnen der Para-Groupie-Organisation Plaster Caster Foundation ein Gipsabdruck seines erigierten Gemächts abgenommen (sonst beschränkte sich die Gruppe auf Penis-Abdrücke von Rockstars). Das ist heutzutage irgendwie weiter weg als Wilhelm Reich und die sexuellen Widersprüche des Sozialismus.

Makavejev gelingt in seiner Engführung des sozialistischen Sexpol-Jahrhunderts mit Gegenkultur, Times Square und dem Zerschellen psychoanalytischen Grenzgängertums in amerikanischen Bauernhöfen ein Äquilibrium zwischen einer fast melancholischen, dann aber wieder recht aufgekratzten Bewunderung für die untergegangenen sexualrevolutionären und freudomarxistischen Stränge des Sozialismus und einem sarkastischen Lachen über dessen groteske Begriffsfetischismen, Verhaltensmodelle und esoterische Sackgassen. Die exemplarische Sublimierung in der osteuropäischen Paradedisziplin des Eiskunstlaufs bildet dabei Brücken mit den Camp-Momenten in den USA, wenn Jackie Curtis zur Madonna betet. Nur die potenziell reaktionäre Dimension der amerikanischen Libertären, die heute ja eine Reihe von Schnittmengen mit der neuen Rechten bilden, hat er nicht sehen können, aber doch zeigen: Denn die Bilder aus New York erscheinen fast so fiktiv und aus der Zeit gefallen wie der leninistische Eisprinz. Der jugoslawische Witz zum Thema Schwanzgrößen dagegen – „Don’t trust the media“ – hat dagegen etwas Zeitloses. Das Aus-der-Zeit-Fallen an sich ist darüber hinaus hier Thema und Methode in einer Weise, die einer/einem heutigen Zuschauer*in das Gefühl gibt, ähnlich zwischen den Schichten und Sedimenten gefangen zu sein wie den Zeitgenoss*innen von 1971, trotz der kurzen Auftritte des queeren New York der 1960er. Auch dessen Revival vor ein paar Jahren ist heute schon wieder so lange her.

 

Diedrich Diederichsen lebt und arbeitet in Berlin und Wien, letzte Veröffentlichung: „Liebe und Ethnologie – Zur kolonialen Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte)“ (gemeinsam mit Anselm Franke).

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