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75 Min. Englisch.

Anne ist Ende 20 und arbeitet in einem Kindergarten in Toronto, die Kinder lieben sie, seit kurzem wohnt sie in ihrer eigenen Wohnung, und beim Fallschirmspringen ist sie in ihrem Element. Die Kamera bleibt in ihrer Nähe, nimmt alle ihre Bewegungen wahr, Begeisterung, Unruhe, Apathie, und registriert ihre Stimmung, die von jetzt auf gleich kippen kann. Sie registriert auch Warnzeichen, die man zunächst übersehen könnte: ihre beinah ans Infantile grenzende Begeisterungsfähigkeit, das Glas Wein zu viel, unangemessene Streiche. Ihr Umfeld bemerkt etwas, aber niemand spricht aus, was Annes Problem sein könnte. Ihre Mutter fragt, ob es ihr gut gehe, ein Mann auf einer Hochzeit erzählt ihr von seinem Kampf mit der Depression, ihre Kollegin erinnert sie daran, dass man 90 Kinder nicht sich allein überlassen darf. Anne verhält sich immer erratischer. Die Unvorhersehbarkeit einer Frau unter dem Einfluss von – ja, wovon eigentlich? – ist aufwühlend, man weiß nie, was als Nächstes geschieht. Ein unangenehmes, aber auch berauschendes Gefühl, wie im Bauch, wenn das Flugzeug abhebt und man weiß, dass man bald springen muss. (jl)

Kazik Radwanski wurde 1985 in Toronto (Kanada) geboren. Er absolvierte ein Filmstudium an der Ryerson University und ist Mitbegründer der Produktionsfirma Medium Density Fibreboard Films (MDFF). Ab 2009 war er mit Princess Margaret Blvd., Out in that Deep Blue Sea und Green Crayons dreimal hintereinander im Wettbewerb der Berlinale Shorts vertreten. Anne at 13,000 ft ist Radwanskis dritter abendfüllender Spielfilm.

Seinen Platz in der Welt finden

ANNE AT 13,000 FT ist der dritte Film innerhalb einer Themen-Trilogie, in der eine Reihe von Außenseitern porträtiert werden, die zu anderen Menschen keine Verbindung bekommen. Seit meinem ersten Kurzfilm (ASSAULT, 2007) habe ich mich stets dafür entschieden, die Gesichter meiner Schauspieler*innen aus großer Nähe zu filmen und dabei jedes Detail und jede Nuance ihres Ausdrucks zu studieren. Ich mag es, die Bewegungen und das Sprechen der Darsteller*innen einzufangen, so dass die Gesichter ihrer Figuren zur emotionalen Landschaft meiner Szenen werden.
ANNE AT 13,000 FT stellt uns die 27-jährige Anne vor, die darum kämpft, ihren Platz in der Welt zu finden. Die Gesellschaft schafft es, Menschen auszuschließen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie seien unvollständig. Manchen Menschen fällt es schwer, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln und für sich selbst einzutreten. Mir gefiel die Idee, eine Figur zu schaffen, die einen Weg zu finden versucht, um einfach zu existieren und dabei frei und erfüllt zu leben.
Dieser Film markiert eine neue Entwicklung in meinem Schaffensprozess, denn ich habe das Drehbuch konkret für eine Schauspielerin geschrieben, die ich sehr bewundere. Deragh Campbell hat in mehreren hoch gelobten Filmen (I USED TO BE DARKER, FAIL TO APPEAR und STINKING HEAVEN) mitgespielt. Ich habe sie 2013 beim TIFF (Toronto International Film Festival) kennengelernt und ihre Arbeit seither verfolgt. Für diesen Film haben Deragh und ich eng zusammengearbeitet. Sie verleiht der Protagonistin eine ganz persönliche Note, die ich ohne sie nie gefunden hätte. Außerdem ist der Film ein Produkt der Filmszene von Toronto und Ausdruck ihrer aktuellen Situation. Das erste Mal seit geraumer Zeit gibt es im englischsprachigen Kanada eine Menge Leute, die unabhängige und eigenständige Filme mit jeweils ganz individuellem Ansatz machen. Weil ich in Toronto arbeite, hatte ich das Privileg, alle meine Filme mit demselben engen Kreis von Mitarbeiter*innen zu realisieren: dem Produzenten Dan Montogmery, dem Editor Ajla Odobasic und dem Kameramann Nikolay Michalov. Von Film zu Film lernen wir miteinander und verbessern so unser handwerkliches Können.
Mit diesem Film wollten wir etwas von den Drehorten und ihrer Umgebung in Erfahrung bringen und vermitteln, das der Stadt und ihren Einwohner*innen entspricht. Um realistisch zu sein, drehten wir live an unseren Drehorten. Die Tagespflege, die der Film zeigt, wird von meiner Mutter, Theresa Radwanski, geleitet, die im Film zu sehen ist. Viele der Nebendarsteller*innen arbeiten ebenfalls dort. Im Rahmen der Vorbereitungen verbrachte Deragh Zeit mit ihnen in der Tagespflege. Wir drehten in Blöcken über zwei Jahre hinweg, in den Phasen dazwischen arbeiteten wir am Schnitt. Auf diese Weise konnten wir uns immer wieder neu auf das ausrichten, was sich richtig anfühlte.
ANNE AT 13,000 FT ist mein bisher ehrgeizigstes Projekt – nicht im Hinblick auf das Budget oder den Umfang, sondern weil es den Höhepunkt eines Lernprozesses und im Umgang mit Methoden darstellt, die ich im Laufe der letzten zehn Jahre mit ein und demselben Team von Mitarbeiter*innen entwickelt habe. (Kazik Radwanski)

Gespräch mit Kazik Radwanski und Deragh Campbell: „Es geht darum, etwas zu tun, bei dem man sich nicht verstecken kann“

In Ihren Filmen TOWER (2012) und HOW HEAYVY THIS HAMMER geht es um Männlichkeit und darum, wie die Protagonisten damit umgehen. Derek in TOWER und Erwin in HOW HEAYVY THIS HAMMER nehmen sich selbst als entfremdet und in ihrer Entwicklung steckengeblieben wahr. Ich denke, ANNE führt diese Themen indirekt fort. Warum haben Sie sich diesmal für eine weibliche Figur entschieden?

Radwanski: Ich glaube, ich hätte nach HAMMER und TOWER (lacht) keinen weiteren Film dieser Art machen können. Ich weiß nicht, ob es überhaupt einen dritten geben wird, die Vorstellung schien mir unerträglich. HAMMER war schon die gesteigerte Version einer unsympathischen männlichen Figur. Ich wollte etwas anderes machen, aber mir fehlte das Gespür für eine weibliche Figur bzw. dafür, ihren Charakter in ähnlicher Weise zuzuspitzen. Gleichzeitig wusste ich, dass ich bei einem Film über eine Frau behutsam vorgehen musste. Ich wollte viel lernen. Das zwang mich, einen Schritt zurückzutreten und nachzudenken – aus diesem Grund hat die Arbeit an dem Film sich so lange hingezogen. Es ging uns allen so, dass wir Zeit brauchten, um uns da hineinzudenken.

Sie haben in früheren Interviews gesagt, dass Sie davon ausgehen, dass Ihre Hauptdarsteller die Charaktereigenschaften ihrer Figuren durchdenken oder neu definieren. Wie hat die Zusammenarbeit zwischen Ihnen beiden ausgesehen?

Radwanski: Wenn ich den Film jetzt mit HAMMER und TOWER vergleichen würde, hätte das etwas Erzwungenes. Erwin und Derek waren anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ich denke eher abstrakt über diese Figuren, und viele Ideen entstanden aus mir heraus, gingen durch meinen persönlichen Filter. Deragh und ich haben uns ständig gegenseitig herausgefordert und so die Figur neu geschaffen.

Campbell: Ja, das war interessant. Ein bisschen so, wie ich mit Sofia Bohdanowicz arbeite. Bei einer solchen engen Zusammenarbeit mit einem Regisseur kann jeder seine Vorstellung von einer Szene einbringen, man trägt Ideen zusammen und vertraut einander, und dann hängt es vom Regisseur ab, wie das umgesetzt wird. Nehmen wir an, wir müssen einen bestimmten Konflikt lösen, und das klappt irgendwie nicht. In dieser Situation passt entweder der Regisseur das Drehbuch entsprechend an, oder ich finde einen anderen Weg für eine Lösung. Die Idee ist also, dass wir das gleiche Ziel haben, aber von verschiedenen Orten aus aufbrechen, um dorthin zu gelangen. Ein Thema bei dieser Arbeit war – vielleicht haben wir das beim Sprechen über den Film festgestellt –, dass wir nicht wussten, wer die Protagonistin eigentlich war. Durch das Drehen einer Szene haben wir versucht, etwas über die Figur herauszufinden und zu sehen, wie sie in verschiedenen Situationen reagiert.

Wie lange dauerten die Dreharbeiten?

Campbell: 20 Monate.

Radwanski: Ja, zwei Jahre. Sporadisch natürlich.

Ich bin neugierig zu hören, wie das mit dem Fallschirmspringen lief.

Radwanski: Das war das Erste, was wir gedreht haben.

Campbell: Für mich ist die Vorstellung, mit dem Fallschirm zu springen, beinahe eine kitschige Verlängerung meiner Schauspielphilosophie – sofern ich überhaupt eine habe. Es geht dabei darum, sich in eine Situation zu begeben und nicht zu wissen, wie man reagieren wird. Egal wie die Reaktion aussieht: Sie wird Teil deiner Figur – es geht darum, etwas zu tun, bei dem man sich nicht verstecken kann. Wenn ich mit dem Fallschirm springe, stehe ich nicht da oben und kann vorgeben, dass ich anders fühle als so, wie ich in diesem Moment tatsächlich fühle. Es ist eine sehr extreme Angelegenheit. Es ist wirklich interessant, eine Erfahrung zu machen, die zur Charakterisierung einer Figur beiträgt. Es klingt komisch, aber es ist so, wie man sich manchmal fragt: Würde ich in einer bestimmten Situation heldenhaft reagieren? Wenn jemand ein Gewehr hätte, würde ich ihn angreifen und alle retten? (lacht) Beim Spielen in unterschiedlichen Szenarios erfährt man Dinge über sich, die man sonst nicht herausbekäme.

Es ist die Essenz dessen, was Sie vorhin sagten: Man versucht eine Situation so zu beeinflussen, dass sie eine bestimmte Reaktion auslöst. Wie viele Drehversuche gab es?

Radwanski: Es war die erste Szene, die wir gedreht haben. Anschließend haben der Kameramann Nikolay und ich uns das Filmmaterial angeschaut und viel darüber gesprochen, wie man während des Flugs filmt. Wir waren nicht sehr glücklich mit dem Material, aber wir hatten Angst, Deragh zu bitten, noch einmal zu springen. Wir machten einige Kameratests, bei denen ich aus einem Flugzeug sprang – das erste Mal, dass ich das tat –, in diesem Fall war ich also das Double. Wir zeigten Deragh das Filmmaterial, und sie sprang noch einmal. Als sie dann erneut sprang, erwischten wir genau den Punkt, als sie in der Luft ohnmächtig wurde.

Campbell: Das erste Mal, dass ich das tat..

Haben Sie es auch so genossen wie Anne in dem Film?

Campbell: Nein, ich mochte es nicht. Ich würde nicht mehr Fallschirmspringen.

(Interview: Tyler Wilson, brooklynrail.org, Herbst 2019)

Parallelen zu den Dardenne-Brüdern

(...) Obwohl sich das zeitgenössische realistische Kino in vielen Fällen den Dardennes verdankt, sind die Parallelen zwischen dem belgischen Brüderpaar und Radwanski besonders offensichtlich: ihr Interesse für diejenigen, die am Rande der Gesellschaft leben, ihr Interesse an dem, was man gemeinhin ‚naturalistisches‘ Spiel nennt, und ihre äußerst bewegliche, zugleich unglaublich kontrollierte und oft handgeführte Kameraarbeit, die nur oberflächlich Ähnlichkeit mit der zurückgenommenen Ästhetik des Dokumentarfilms hat. Bei näherer Betrachtung jedoch und wenn man sich die Phasen der künstlerischen Entwicklung ins Gedächtnis ruft, mit der die Dardennes und Radwanski ihre Filme auf den wichtigsten ontologischen Prinzipien ihres Mediums aufbauen, wird das, was zunächst wie eine zufällige Ähnlichkeit wirkte, etwas konkreter.
In einer Rezension von Dardennes L’ENFANT (2005) schreibt der Filmemacher und Kritiker Dan Sallitt, dass „sich alle Effekte in den Dardenne-Filmen der Phänomenologie des Fotografierens verdanken, des Blicks von außen, den der Fotograf rein innerlichen Vorgängen auferlegt. Selbst das Spiel in den Dardenne-Filmen  ...  richtet sich nach den Beschränkungen des Bildes, um das Innenleben freizulegen.“ Wenn man von der ‚Phänomenologie der Fotografie’ spricht, sollte man sich nicht auf die dem Medium eigene ‚Essenz’ beziehen, die innerhalb eines so unflexiblen Genres wie dem ‚Realismus’ leicht gefunden oder abgesondert werden kann; vielmehr könnte man auf die einfache und mehr als offensichtliche Tatsache hinweisen, dass das Kino wie das geschriebene Wort oder das Bühnendrama bestimmte Eigenschaften besitzt, die wiederum bestimmte Ausdrucksweisen begünstigen – auch wenn sie dabei andere einschränken.
In allen bisherigen Filmen Radwanskis ging es darum, diese Beschränkungen zu zeigen und zu respektieren. (...)

(Josh Cabrita, Cinema Scope #80, Herbst 2019)

Produktion Dan Montgomery, Kazik Radwanski. Produktionsfirma Medium Density Fibreboard Films (MDFF) (Toronto, Kanada). Regie, Buch Kazik Radwanski. Kamera Nikolay Michaylov. Montage Ajla Odobašic. Sound Design Matt Chan. Ausführende Produzent*innen C. Mason Wells, Nathan Silver. Mit Deragh Campbell (Anne), Matt Johnson (Matt), Dorothea Paas (Sarah), Lawrene Denkers (Mum).

Weltvertrieb Cercamon

Filme

2007: Assault (11 Min.). 2008: Princess Margaret Blvd. (14 Min., Shorts 2009). 2009: Out in that Deep Blue Sea (16 Min., Shorts 2010). 2010: Green Crayons (10 Min., Shorts 2011). 2012: Tower (78 Min.). 2013: Cutaway (7 Min.). 2015: How Heavy This Hammer (75 Min., Forum 2016). 2017: Scaffold (15 Min.).

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