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Das Kino ist ein allumfassendes Medium. Und dieses Medium ziehen wir zu Rate, um Bolívars einflussreiche, immerwährende Seele anzurufen und sie um den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte und der Zukunft unserer Region zu bitten. Das Land erinnert sich an Zeiten und Ereignisse, von denen wir nichts wissen, und in der Landschaft bleiben die Narben der Geschichte und die Geister der heutigen Zeit zurück. Durch diese Anrufungen übersetzen wir unsere Umgebung, transponieren und interpretieren sie neu, suchen und bieten alternative Sichtweisen in unseren Bemühungen, unsere Welt zu verstehen.

BICENTENARIO wirft einen eindringlichen und unkonventionellen Blick auf die enigmatische Figur Simón Bolívar. In dem Bestreben, die fortwährenden Auswirkungen der Vergangenheit auf eine Gesellschaft, ihre Politik und das Land zu erforschen, befragt die Arbeit sowohl die Landschaft als auch den Geist Bolívars. BICENTENARIO beschäftigt sich mit Spiritismus und Mediumismus nicht als esoterische Folklore, sondern vielmehr als eine kulturelle Praxis und ein Wissenssystem, das dazu dient, sich mit den Kräften auseinanderzusetzen, die die materielle Welt beeinflussen. Mediationen – sowohl spirituelle als auch politische – werden als Verfahren zur Auseinandersetzung mit, zum Verständnis und zur Erforschung von Geschichte und zeitgenössischer Politik betrachtet. Aus diesem Grund wird der Begriff der Mediation nicht auf die Praxis von Hellseher*innen eingeschränkt, sondern auch auf die von Politiker*innen und kulturellen Narrativen ausgeweitet. Diese Mediationen funktionieren alle auf die gleiche Weise: sie beschwören einen Geist aus der Vergangenheit herauf und bringen ihn mit der Gegenwart in Verbindung – im Guten wie im Schlechten.

Das Land erinnert sich an Zeiten und Ereignisse, von denen wir nichts wissen, und in der Landschaft bleiben die Narben der Geschichte und die Geister der heutigen Zeit zurück.

Das Thema Zeit und Erinnerung ist in Kolumbien im Moment so brisant, dass, während ich diesen Film präsentiere, der neue, von der Regierung ernannte Leiter des Centro de Memoria Histórica (Zentrum für Historische Erinnerung) die Tatsache leugnet, dass sich das Land seit fünfzig Jahren in einem internen Konflikt befindet. Das Centro de Memoria Histórica ist in Kolumbien eine der wichtigsten Institutionen, die sich mit der Aufarbeitung des Kriegs beschäftigt, der seit fünfzig Jahren (oder je nach Ansicht schon seit 200 Jahren) im Land herrscht. Der neue Staatschef leugnet die kritische Realität des Konflikts, seiner Opfer und die Beteiligung der Regierung daran. Das Thema der Geschichtskritik ist daher in einer Zeit, in der kritische Geschichtsinstitute geschlossen und Geschichte selektiv erzählt werden nicht nur in Kolumbien, sondern in der ganzen Welt äußerst wichtig und relevant.

Bolívar hat den Kontinent von den Spaniern befreit, aber können wir uns von Bolívars giftigem politischen Erbe des Vertrauens auf brutale Führer befreien? Können wir die historischen Spuren aus dem einzigen politischen System, das wir kennen, austreiben? Wie kann die Erinnerung an die Entstehungsgeschichte des Landes entgegen des institutionellen Drangs, die Vergangenheit zu vergessen, eine Form des Widerstands und der Aktion sein? Unsere Reise durch das Gebiet ist eine der historischen Mediation und Entdeckung. Wie erleben die scheinbar agnostischen Landschaften als visuellen Hintergrund eines Stimmengewirrs, das die Erinnerung an Bolívar in einem kollektiven Akt der spirituellen Heilung beschwört. In einer Zeit rechtsextremer Regierungen im Land und in der Region, die versuchen, mit den historischen Fakten zu brechen, spricht dieser Film zu und mit der Vergangenheit, um sie aktiv und partizipativ zu machen.

Pablo Alvarez-Mesa

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