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Im Januar 2021 begann die Argentinische Arbeitsgemeinschaft für Forensische Anthropologie (EAAF, Equipo Argentino de Antropología Forense) mit der Luftbildvermessung des 5000 Hektar großen Geländes einer unter dem Namen Campo de Mayo bekannten Militärgarnison. Als ausgedehnte Grünfläche – die überhaupt nicht hineinpasst in den zersiedelten Großraum von Buenos Aires, in den es eingebettet ist – war das Campo de Mayo im politischen Leben Argentiniens während des gesamten 20. Jahrhunderts ein bedeutender Ort der Macht, weil die Streitkräfte des Landes immer wieder in die demokratische Staatsführung eingegriffen haben. Während der letzten Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 waren hier auch vier Geheimgefängnisse untergebracht, in denen 3500 bis 5000 Menschen festgehalten und gefoltert wurden, bevor man sie ermordete und „verschwinden“ ließ. Da vier frühere Ausgrabungen daran gescheitert waren, nicht gekennzeichnete Gräber verschwundener Häftlinge zu lokalisieren, zielten die EAAF-Luftaufnahmen darauf ab, Unregelmäßigkeiten ausfindig zu machen, um neuerliche Bodenuntersuchungen zu rechtfertigen.

Doch vielleicht gibt die Luftaufnahme selbst die für CAMUFLAJE (Camouflage) von Jonathan Perel am besten geeignete Metapher ab. Film und Aufnahme versuchen beide, das Campo de Mayo mit Akribie aus der Distanz zu erkunden und dadurch etwas von der Wahrheit zu freizulegen, die an diesem Ort verscharrt liegt. Und dennoch: Dadurch dass CAMUFLAJE in seinem Verlauf denjenigen folgt, die am Rande dieses Geländes leben und solchen, die das Verbot missachten, die verfallende, nach und nach von der Natur zurückeroberte Militäranlage zu betreten und zu erforschen, ähnelt das Campo de Mayo immer mehr der verbotenen „Zone“, dem zentralen Schauplatz von Andrei Tarkowksis Film STALKER (1979). Die Zone ist eine Quelle der Faszination, die genau deshalb eine nahezu magnetische Anziehungskraft auf die Menschen in seiner Umgebung ausübt, weil seine tieferliegende Wahrheit nicht aufgedeckt werden kann. Perels Protagonist, der Schriftsteller (und Sohn verschwundener Eltern) Félix Bruzzone, teilt zwar diese Obsession, doch seine Ungezwungenheit und Wärme im Umgang mit den Menschen, denen er begegnet und mit denen er spricht, setzen an die Stelle von Tarkowskis bleierner Atmosphäre der Angst ein Gefühl anhaltender Unrast.

Szenen eines stillen Protests

Seit April 2019 bemüht sich der Campo-de-Mayo-„Megaprozess“ darum, für rund 350 aus der Militärgarnison verschwundene Opfer Gerechtigkeit herzustellen. Noch länger dauern die Debatten über die weitere Verwendung des Geländes. Diese Debatten sind es, die Bruzzone und Perel visualisieren – ohne viel Aufhebens, ohne ihre Gesprächspartner:innen je in einen direkten Dissens zueinander zu bringen. Denn mit viel Mitgefühl und ohne Wertungen erlauben sie allen, ihre individuelle Verbindung zu diesem Ort darzulegen. Wenn Bruzzone mit Überlebenden und mit Familienmitgliedern von Verschwundenen spricht (die eigenen inbegriffen), dann offenbaren diese Gespräche auf subtile Weise deren je innere und äußere Konflikte. Im Hinblick auf die inneren Konflikte stellt die Unterhaltung zwischen Bruzzone und seiner Tante Inés eine der bewegendsten Szenen des Films dar. Die beiden sprechen über die Diskussionen innerhalb der Familie, die am Ende des Lebens von Bruzzones Großmutter darüber entbrannten, ob sie das Krankenhaus vom Campo de Mayo aufsuchen sollte, exakt jenen Ort also, von dem ihre Tochter, Bruzzones Mutter, „verschwand“. Was die äußeren Konflikte angeht, so redet Bruzzone mit Iris Avellaneda, einer Überlebenden, die sich unermüdlich dafür einsetzt, aus dem ehemaligen Gefängnis eine anerkannte, von der Regierung geförderte Gedenkstätte zu machen.

Jede einzelne Geschichte knüpft geschickt an die zuvor erzählte an, auf der Bildebene, auf der Tonebene oder thematisch und durch den gesamten Film hindurch. Auf diese Weise werden die einzelnen Erzählstränge zu einer losen Ordnung zusammengezogen, die um das „Schwarze Loch“ (agujero negro) im Zentrum kreist.

Bruzzone unterhält sich aber auch mit denjenigen, die sich von der Vielfalt von Flora und Fauna auf dem Gelände angezogen fühlen und die die paradoxe Entdeckung machen, dass die militärische Nutzung des Ortes eine ausgedehnte urbane Wildlandschaft zu bewahren geholfen hat. So folgt der Film diesen Forschenden auf ihren heimlichen Streifzügen über das Gelände oder begleitet die Planungen, hier ein Naturschutzgebiet und ein Museum für Naturgeschichte zu errichten. Und dann sind da noch die Eindringlinge, deren Ansinnen eher kommerzieller Natur ist: Das Spektrum reicht von der Besucherin, die Bodenproben vom berüchtigten Gefängnis sammelt und in Ampullen verkauft, bis zu denjenigen, die in den verlassenen Armeeanlagen Hindernisrennen wie in der Militärausbildung veranstalten. Jede einzelne Geschichte knüpft geschickt an die zuvor erzählte an, auf der Bildebene, der Tonebene oder thematisch und durch den gesamten Film hindurch. Auf diese Weise werden die einzelnen Erzählstränge zu einer losen Ordnung zusammengezogen, die um das von Bruzzone als „Schwarzes Loch“ (agujero negro) bezeichnete Campo de Mayo im Zentrum kreist. Dass die ganze Unternehmung mit Gefahren und potenziellen Konflikten unterlegt ist, wird deutlich, als das Militär auf den Plan tritt und die Filmarbeit unterbricht, wobei die vierte Wand durchbrochen wird und sich offenbart, welche Risiken auch die Filmemacher selbst eingegangen sind.

Zusammenführung von Form und Inhalt

Bruzzones bekanntestes Werk dürfte sein 2008 erschienener Roman „Los topos“ sein, eine bildstürmerische Erzählung über einen Sohn verschwundener Eltern, die damit endet, dass der Protagonist eine Beziehung zu einem ehemaligen Folterer eingeht, der seine Eltern ermordet haben könnte. CAMUFLAJE ist demgegenüber ruhiger, dunkler im Ton und kommt damit Bruzzones performativem Vortrag „Campo de Mayo“ von 2013 am nächsten, den er für eine von der Theaterregisseurin Lola Arias kuratierte Reihe produziert hat. Sowohl in „Campo de Mayo“ als auch in CAMUFLAJE wird die Obsession in Bezug auf den Ort, an dem Bruzzones Mutter zuletzt lebend gesehen wurde, umgewandelt in einen Bewegungsdrang – einen Drang, der hier als formale und erzählerische Rahmung dient.

Auch wenn Bruzzones vorangegangene Arbeiten einen Urtext (Anm.d.Ü.: deutsch im Original) für CAMUFLAJE darstellen mögen, schaffen Perel und sein Kameramann Joaquín Neira etwas gänzlich Neues, indem sie die zwanghafte Motorik meisterhaft in eine visuelle Erfahrung übersetzen: Während der gesamten Laufzeit des Films ist Perels Kamera ständig in Bewegung. Diese bewegten Einstellungen können noch unterteilt werden. Zum einen sind da die Fahrten, bei denen die Kamera Bruzzone folgt, während er auf dem Gelände des Campo de Mayo herumjoggt, wobei die Tonspur seine Überlegungen über diesen Ort mit solchen über das Laufen zusammenbringt. Zum anderen gibt es die permanenten, aber subtilen Bewegungen der Handkamera, welche den episodenhaften Austausch von Bruzzone mit seinen Gesprächspartner:innen aufzeichnet, jenen anderen obsessiv vom Campo de Mayo angezogenen Menschen. Beide Bewegungsarten der Kamera scheinen abwechselnd Bruzzones innere Unruhe sowie deren Veräußerlichung durch Sport einzufangen. Diese stilistische Entscheidung unterscheidet den Film von Perels bisherigem Werk. Seine acht zuvor gedrehten Filme bestehen alle aus sorgfältig ausgewählten Aufnahmen von Gegenständen und Räumen, die mit Argentiniens letzter Militärdiktatur assoziiert sind. Fraglos teilt er also mit Bruzzone dieselbe Obsession. Allerdings hat Perel bis zu CAMUFLAJE immer nur allein gearbeitet und seine Filme bestanden aus langen, festen Einstellungen.  Die kontinuierliche Bewegtheit der Kamera steht hier also für eine perfekte Zusammenführung von Form und Inhalt, für die hartnäckige visuelle Spur einer beunruhigenden Obsession, die Regisseur, Protagonist und deren Gesprächspartner:innen miteinander verbindet. Eine Obsession, die den Kern des Films ausmacht und die alle am Film Beteiligten ihrerseits versuchen, dem Publikum zu vermitteln.

Niall HD Geraghty ist Lehrbeauftragter für Latin American Cultural Studies am University College London.

Übersetzung: Stefan Pethke

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