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Was wir einbringen.
Erfundene Geschichten.
Recht nah an der Realität.
Eine Ankündigung bevorstehender Ereignisse.
Und die Möglichkeit einer Entdeckungsreise durch Raum und Zeit.

Mit diesen Worten kündigt die junge Zeitzeugin in CETTE MAISON (This House), dem tragischen und doch hoffnungsvollen Spielfilmdebüt von Miryam Charles, eine radikale Neuinterpretation der Kindheit und Jugend Schwarzer Mädchen an. Die namenlose Erzählerin ist eine 14-Jährige haitianischer Abstammung, deren mysteriöser Tod in Connecticut im Jahre 2008 sowohl eine bleibende Lücke als auch eine leuchtende Präsenz bei den um sie trauernden Menschen hinterlassen hat. Widersprüchliche Angaben über die Todesursache in den Autopsie- und Polizeiberichten haben die Filmemacherin dazu bewegt, diese Diskrepanzen näher zu beleuchten. Sie will damit eine neue Form der Auseinandersetzung mit Geschichten sichtbar machen, die in den Tiefen der Archive verloren gehen. In Archiven, die wiederum einer von weißer Vorherrschaft geprägten Gesellschaft dienen und in denen Schwarze Menschen und erst recht Schwarze Mädchen weitaus weniger Beachtung finden.

Die raumzeitliche Transzendenz der Protagonistin bleibt ein Rätsel

Doch CETTE MAISON erzählt nicht die reißerische Geschichte eines wahren Verbrechens. Vielmehr vermittelt uns der Film einen Eindruck davon, welche Rolle unsere Fantasie bei der Freilegung von Wissen und Erfahrungen übernehmen kann, die in solchen offiziellen Ablagesystemen an den Rand gedrängt werden oder verloren gehen. Diese kreative Form des Erzählens kommt dem von Wissenschaftlerin Saidiya Hartman geprägten Begriff der „kritischen Fabulation“ sehr nahe. Die Macht der Archive wird hier kritisch hinterfragt. Lebensentwürfe sollen stattdessen mit Hilfe abwechslungsreicher Gegengeschichten aus der eigenen und nicht aus der gesellschaftlichen Perspektive beschrieben werden.

Im Mittelpunkt des Films steht die Spannung zwischen Erinnern als retrospektiver Orientierung und als Mittel der Rückeroberung des Verlorenen. Die Vereinigung eindringlicher Rhythmen und bewusst artifizieller Inszenierungen in CETTE MAISON liefert ein visuelles Echo dieser Konzeptualisierung der Erinnerung, die weit über konventionelle Vorstellungen von Trauer, Sehnsucht und Hoffnung hinausgeht. Die visuelle Abwesenheit und die Klagelaute zu Beginn verorten den Film am Übergang zwischen der Vergangenheit und der imaginierten Gegenwart seiner Protagonistin. Ihre raumzeitliche Transzendenz bleibt ein Rätsel.

Der Film liefert mit seiner neuen Perspektive auf die Mädchen- und Jugendzeit weder klare Antworten, noch schließt er die Lücken im Selbstverständnis der Protagonistin. Wir schauen ihr dabei zu, wie sie versucht, die Widersprüche zwischen dem Autopsie- und dem Polizeibericht nachzuvollziehen, während sie sich an ihren eigenen Tod erinnert, andere Möglichkeiten des In-der-Welt-Seins ergründet und über die Konstruiertheit des Geschichtenerzählens nachdenkt.

Räumlich erkundet der Film diese reflexive Konstruktion mit Hilfe von Szenen, die in einem abgedunkelten Studio vor Fototapeten und Theaterkulissen aufgenommen wurden; sprachlich mit Hilfe von direkt in die Kamera erzählten Erinnerungen und zudem mit Hilfe von widersprüchlichen narrativen Konzepten, wenn die Figuren Ereignisse noch einmal erleben und damit die inhaltlichen Grenzen der offiziellen Aufzeichnungen hinterfragen. Das Ergebnis ist ein mutiger erzählerischer Gegenentwurf, den die Hauptperson selbst als unmöglich betrachtet, der jedoch neue Möglichkeiten der Trauer und des Gedenkens eröffnet.

Desirée de Jesús ist Video-Essayistin und Bewegtbild-Kuratorin. Sie hat zudem eine Juniorprofessur im Fachbereich Kommunikations- und Medienwissenschaften an der York University.

Übersetzung: Kathrin Hadeler

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