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ANQA beginnt an einem bedrückenden Schauplatz. Hinter den vergitterten Fenstern eines Hauses in scheinbar kalter, nebelverhangener Gegend schwenkt die Kamera über Korridore und sondiert geschlossene, dunkle Räume. Wir sehen ein Spinnennetz, Wände, von denen die Farbe abbröckelt, Glasscherben und über den Teppich kriechende Sonnenflecken. Wir hören Hintergrundgeräusche: schließende Türen, menschliches Murmeln, das Tropfen von Wasser, zwitschernde Vögel. All dies gibt den Ton vor für die langsame Erzählweise dieser Geschichte: Wir tauchen ein in das Leben von drei Frauen, jede von ihnen ein Opfer von Gewalt und ohne die Möglichkeit, der damit einhergehenden Ausgrenzung und Stigmatisierung entkommen zu können.

Die Kamera durchmisst die dunklen, gefängnisartigen Räume. Vorhänge werden geschlossen und wieder aufgezogen. Der Film wechselt zwischen Sequenzen mit längeren Momenten der Wortlosigkeit und Berichten aus dem Off. Wir sehen bewegungslose Frauen, versunken in fast völliger Stille, kaum ein Lebenszeichen von sich gebend, von Traurigkeit und Einsamkeit wie eingehüllt. Wenn sie sprechen, berichten sie von Traumata und der Enteignung ihrer selbst, die sie erleben mussten, als sie sich gegen den Status quo auflehnten. Sie waren von der Norm abgewichen und hatten jene Sitten und Gebräuche in Frage gestellt, welche die Ungleichheit der Geschlechter fortbestehen lassen. Weil sie das gewagt hatten, haben ihre Männer, ihre Familien und ihre Gesellschaft ihnen Leid zugefügt.

Macht und Privilegien wirken sich bei Menschen unterschiedlich aus, je nach Geschlecht, Klasse, Alter, Rasse, Religion und anderen Faktoren – das findet sich auch bei diesen Frauen wieder bestätigt. Zumeist aus niedrigem sozioökonomischen Milieu stammend, schildern sie körperliche und sexuelle Übergriffe wie Vergewaltigung, Körperverletzung, versuchten Mord, Inhaftierung und Ächtung – und sie schildern auch, wie dies alles ihre Psyche angegriffen hat. Und trotzdem wird die Gewalt durchweg verschleiert und von ihnen eher in Andeutungen als direkt dargestellt.

Gegen das System

Die übergeordneten Strukturen arabischer Länder sind in ihrem Kern unbestreitbar patriarchalisch. Das führt zur Entrechtung von Frauen, Mädchen und schutzbedürftigen Gruppen. In der gesamten arabischen Region sind Frauen der Gnade von Familiengesetzen oder persönlichem Status ausgeliefert, ob dies nun Verheiratungen, Scheidungen, Sorgerechte oder Erbschaften betrifft – sämtlich Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit einer religiösen Obrigkeit fallen. Dieses System beraubt die Frauen jeglicher Chance, eine bessere rechtliche Stellung zu erlangen. Angesichts eines derart archaischen Rechtssystems sind diese Frauen gezwungen, Gerechtigkeit im Rahmen des institutionalisierten Patriarchats durchzusetzen zu versuchen, und somit abhängig von der Gnade einer konservativen Familiengesetzgebung.

Gewalt gegen Frauen bleibt weltweit auf hohem Niveau, wobei die COVID-19-Pandemie, der Klimawandel und die vielen humanitären Krisen – um nur einige Einflussfaktoren der Gegenwart zu nennen – die Gewaltrisiken weiter verschärft haben, vor allem für jene Frauen und Mädchen, die ohnehin besonders gefährdet sind. Laut dem Arab Gender Gap Report von 2020 gilt Gewalt gegen Frauen und Mädchen als „die oberste Priorität der Region im Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter“. Eine ihrer häufigsten Formen ist Gewalt durch Beziehungspartner. Sie tritt in allen Lebensbereichen und in allen sozioökonomischen, religiösen und kulturellen Gruppen auf und umfasst körperliche, sexuelle und emotionale Gewalt sowie kontrollierendes Verhalten.

Der bestehende rechtliche Schutz greift hier zu kurz, und verschiedene Gesetze, die Vergewaltigung und frühe Heirat unter Strafe stellen, die Frauen das Recht einräumen, eine Scheidung einzuleiten, die Frauen vor häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt schützen und die bei Sorgerechtsstreitigkeiten dem Kindeswohl Vorrang einräumen, benötigen Ergänzungen. Mädchen werden regelmäßig ihres Rechts auf Bildung beraubt, vor allem solche aus ärmeren Haushalten. Außerdem müssen Mütter eine Mehrfachbelastung auf sich nehmen: Sie sollen Kinder aufziehen und zusätzlich die Aufgaben der Haushaltsführung bewältigen.

In einem Kontext, in dem es religiöse Auffassungen sind, die für die Geschlechterrollen und bei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit die Norm bilden, geht es gefährdeten und ausgegrenzten Gemeinschaften noch schlechter. Sozialprogramme sind nicht in der Lage, Frauen, Mädchen und den besonders Schwachen Priorität einzuräumen, und auch das Justizwesen lässt weibliche Opfer von Gewalt häufig im Stich. Die Überlebenden von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch bleiben sich selbst überlassen.

Angegriffene Gesichter

Die Frauen in ANQA erkunden ihr Leben und die schmerzhaften Erinnerungsspuren darin und verleihen so der Tragödie, der Isolation, den Inhaftierungen ein menschliches Gesicht. „Das Leben im Gefängnis ist, als wäre man halb tot“, stellt eine fest. Und während sie die von ihr erlebten Misshandlungen nacherzählt, läuft eine Träne über ihr Gesicht – ein Gesicht in Nahaufnahme, das ansonsten von starrer Miene und strengem Blick gekennzeichnet bleibt. Schaurige Musik, gepaart mit einer auf Naheinstellungen konzentrierten Bildmontage, offenbart die wahre Pein im Ausdruck dieser zerbrechlichen Gesichter und ihrer fast schon verwirrt zu nennenden Blicke.

Der Film endet damit, dass die Regisseurin eine der Protagonistinnen fragt, ob sie beipflichten würde, wenn man sie als „Überreste einer Frau“ ansähe. Sie antwortet: „Das wäre dumm. Ich bin nicht die Überreste einer Frau. Wie kann ich der Überrest von etwas sein, wenn ich doch existiere? Ich bin hier.“ Trotz der von ihnen durchlebten Verletzungen haben diese Frauen beschlossen, sich gegen den Status quo aufzulehnen, ihre Geschichte zu erzählen und ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen.

Frauen aus der arabischen Region erleben im Kampf um ihre längst überfälligen Rechte und Grundfreiheiten immer wieder Rückschläge, und wir haben noch einen langen Weg vor uns beim Versuch, die strukturellen Hindernisse zu überwinden, welche diese Diskriminierung aufrechterhalten. Es liegt offen zu Tage: Geschlecht ist und bleibt ein entscheidender Faktor für den Zugang zu Rechten und Privilegien. Forderungen nach Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit sollten grundsätzlich intersektional formuliert sein. Nur so kann sichergestellt werden, dass wirklich niemand zurückgelassen wird.

Myriam Sfeir ist Direktorin des Arab Institute for Women an der Libanesisch-Amerikanischen Universität (LAU) in Beirut.

Übersetzung: Stefan Pethke

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