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Zwei Punkte und eine Linie

Die blaue Linie in den Animationen des Films geht auf ein Bild zurück, das ich im Alter von zwei Jahren gemalt habe (siehe oben).

Bei meinen Recherchen zu dem riesigen Thema Gesicht stieß ich irgendwann auf die Erfahrungswelt von Säuglingen: Zu welchem Zeitpunkt in unserer Entwicklung begreifen wir, dass das Gesicht eine größere soziale Bedeutung hat als andere Körperteile? Ich las einen Text über den Moment, in dem Babys beginnen, Gesichter von anderen Formen in ihrer Umgebung zu unterscheiden. Das brachte mich auf die Idee, das Gesicht als Form zu betrachten, es zu dekonstruieren und auf eine Ebene mit einer Hand, einer Hose oder einer Kaffeemaschine zu stellen. Eine abstrahierte Realität, abgeflacht in 2D.

Außerdem beschäftigte ich mich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu dem Thema. Was ist ein Gesicht, biologisch gesehen? Was war das allererste Lebewesen mit einem Gesicht? Ich fand heraus, dass die frühesten Lebewesen wirbellose Tiere waren und kein Gesicht hatten. In der Erdfrühzeit entwickelten dann einige Tiere einen Mund, um den sich äußere Organe gruppierten, die dem Sehen dienten.

Also erst der Mund, dann die Augen. Der reduzierteste visuelle Ausdruck dafür sind zwei Punkte und eine Linie, wie wir sie in den Zeichnungen von Kleinkindern (oder in Smileys) finden. Derart reduziert sind alle Gesichter im Grunde gleich.

Irgendwann im Laufe der Montage fügten wir ein Foto meiner Kinderzeichnung in die Titelsequenz ein. Die Sequenz wurde weiterentwickelt, die Zeichnung entfernt, doch die blaue Linie blieb und wurde zu einem Werkzeug, mit dem sich die Bedeutung eines Gesichts generieren ließ. Sie erschien uns unmittelbarer, spielerischer und offener als eine Off-Stimme, die – bei solch abstrakten Fragen – zu kalt und unpersönlich gewirkt hätte.

Kontrolle und Kategorisierung

Bleibt die Frage der Identität. Abseits symbolischer Darstellungen sind wir eben nicht alle gleich, wir sehen nicht alle gleich aus. Im Film hat sich Marinas Gesicht deutlich verändert, eine Veränderung, die nicht nur auf den ersten Blick zu erkennen ist, sondern auch eine wissenschaftliche, mathematische Grundlage hat. Wir haben dafür die visuelle Sprache der Gesichtserkennungssoftware eingeführt – eine Technologie, die eng mit Überwachung und Kontrolle verbunden ist –, um diesen Prozess der Kategorisierung zu untersuchen und unser Bedürfnis nach Identifikation zu hinterfragen.

Wir haben uns gefragt: Ist Identität ein Gefängnis? Etwas, das uns letztlich festhält und begrenzt? Eine Illusion von Stabilität in einer sich ständig verändernden Realität? Ist die gesichtslose Qualle freier, weil sie nicht identifiziert, überwacht und verfolgt werden kann?

Natürlich haben Wissenschaft und Technik neben der Gesichtserkennung zahllose andere Identifizierungsinstrumente entwickelt, etwa den klassischen oder den genetischen Fingerabdruck, sodass theoretisch auch eine gesichtslose Qualle identifiziert und indiziert werden könnte. Wir haben daher die Logik der „Gesichtserkennung“ in eine reine „Formerkennung“ überführt, mit einer imaginierten Technologie, die auch Lebewesen ohne Gesicht analysieren und unterscheiden kann.

Lieben, besitzen

Aber kann man solche Geschöpfe auch lieben? Von der institutionellen und privatwirtschaftlichen Kontrolle mal abgesehen brauchen wir unser Gesicht, um emotionale Bindungen und Zuneigung aufzubauen. Ein gesichtsloses Tier – ob Seestern oder Qualle – zu lieben, wird erst möglich, indem wir es benennen, ihm imaginäre Biografien und Persönlichkeitsmerkmale zuordnen, also durch einen Akt der Identifikation. Das ist ein wenig komplizierter, aber gar nicht so weit entfernt von unserer Beziehung zu Katzen, Vögeln oder Reptilien, die wir als Haustiere und Familienmitglieder adoptieren.

Dieses Erfinden von Identität erzählt von der Spannung zwischen Fürsorge und Kontrolle. Wir domestizieren Tiere, wir geben ihnen Namen und Geschichten, und dann lieben wir sie. Inwieweit beinhaltet unsere Liebe für ein anderes Wesen immer auch den Drang, es zu zähmen und zu beherrschen? Können wir überhaupt lieben, ohne zu kontrollieren, ohne zu besitzen?

Frei wie Quallen

In der letzten Animationssequenz werden komplexe Masken zu vereinfachten Gesichtern. Wir wollten das Bedürfnis wecken, die oberflächlichen Schichten unserer Masken, unserer Identitäten abzustreifen, uns von äußeren Vorstellungen darüber, wer wir sind, zu befreien, und uns vor allem zu erlauben, uns zu verändern, zu mutieren und zu dem zu werden, was wir fühlen. Für dieses befreiende Potenzial steht die Qualle im Film.

Melisa Liebenthal

Übersetzung: Alexandra Bootz, Andrea Honecker

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