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Begonnen habe ich dieses Projekt 2016, als ich mehr über unser Verhältnis zu Tieren erfahren wollte, insbesondere über die Anziehungskraft, die sie auf uns ausüben. Eine Kollegin riet mir, mit meinen Untersuchungen im Zoo anzufangen. Was ja auch naheliegend ist, denn wo sonst in unserem urbanen Leben haben wir Kontakt zu Wildtieren? Wie John Berger sagt: In der Stadt gibt es drei Kategorien Tiere, zu denen der Mensch eine Beziehung hat: Haustiere, Schädlinge und Zootiere. 

Zu dieser Zeit war ich mit meinem vorherigen Film LAS LINDAS zu einigen internationalen Festivals eingeladen. Diese Reisen nutzte ich, um in jeder Stadt – unter anderem in Havanna, Lima, Seattle, Genua und Berlin – die Zoos oder Aquarien zu besuchen und mich mit meiner Kamera auf die Suche zu begeben.

Als ich mich in den verschiedenen Zoos umschaute, fiel mir auf, wie verzweifelt die Besucher*innen versuchten, die Aufmerksamkeit der Tiere auf sich zu lenken. Ihrem Blick zu begegnen. Gesehen zu werden. Wenn sich ihre Blicke schließlich trafen, geschah jedes Mal etwas Magisches.

Schnell stellte sich die Frage: Was ist mit Tieren ohne Gesicht, ohne Augen und ohne einen erwidernden Blick, in dem wir uns spiegeln können? Meerestieren wie Quallen, Seesternen und unzähligen mehr. Was passiert, wenn kein Gesicht da ist? Und: Was ist ein Gesicht?

Rückblende: 2015 gehe ich mit Freund*innen tanzen. Als ich frühmorgens nachhause komme, bin ich angetrunken und müde, aber mehr nicht. Ich gehe in den Aufzug, drücke den Etagenknopf und drehe mich zum Spiegel. Ich sehe mein Spiegelbild ganz nah, doch ich bin mir nicht sicher, ob ich das bin.  

Einige Minuten schien die Zeit stillzustehen; es war, als würde ich außerhalb meines Körpers schweben und einer Fremden in die Augen starren. War das mein Gesicht? War ich das? Es fühlte sich nicht so an, und ein paar Minuten lang war es auch nicht so.

Am nächsten Tag spürte ich eine Leichtigkeit in mir, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Es fühlte sich gut an, ein paar Minuten lang nicht ich selbst gewesen zu sein. Als ich ein Jahr später über die Quallen nachdachte, fiel mir diese Begebenheit wieder ein. Ist es womöglich befreiend, kein Gesicht und keine Identität zu haben?

Diesen Film zu machen bedeutete, ständig zwischen verschiedenen Sprachen, zwischen gegensätzlichen Denk- und Herangehensweisen hin und her zu springen.

           

Diese Elemente trafen im Urknall des Films aufeinander. Ich hielt mehrere abstrakte, philosophische Fragen in Händen, die mich überforderten, sowie viele Stunden Recherchematerial aus Zoos und eine kurze, mysteriöse Depersonalisationserfahrung. Das gab letztlich den Anstoß dafür, mit Fiktion zu arbeiten und zu versuchen, die Abwesenheit von Identität und meine widersprüchlichen Gefühle dazu in einer Figur und einem Drehbuch festzumachen. Auch um etwas auszuprobieren, was ich noch nie gemacht hatte. Allerdings konnte und wollte ich das Material aus den Zoos nicht ungenutzt lassen, schon gar nicht nachdem ich Fotos von meiner Mutter mit Tieren wiederentdeckt hatte, die den dokumentarischen Aufnahmen ähnelten – eine unwiderstehliche transtemporale Verbindung.

Von da an verfolgte ich die Idee, meine Recherchen und Überlegungen in das Projekt einzubeziehen: Der Film sollte seinen eigenen Denk- und Entwicklungsprozess beinhalten – ein Film als riesiges Workboard. Letztlich besteht EL ROSTRO DE LA MEDUSA (The Face of the Jellyfish) aus einer zum Drehbuch ausgearbeiteten Erzählung, Fragmenten von bereits vorhandenem Dokumentarmaterial und schließlich einer essayistischen Dimension, die dazu dient, diese disparaten Elemente einzufassen und zu kommentieren. Die essayistische Komponente entstand durch die Arbeit mit Archivmaterial, Animationen und grafischen Elementen in einem eher an der bildenden Kunst orientierten Ansatz. Anders als bei den Drehbuchsequenzen des Films fand sich die Form hier durch direkte Manipulation des Bildmaterials während der Postproduktion, geleitet von Intuition und den grundlegenden philosophischen Anliegen des Projekts.

Diesen Film zu machen bedeutete, ständig zwischen verschiedenen Sprachen, zwischen gegensätzlichen Denk- und Herangehensweisen hin und her zu springen. Der Film ist wie eine Studie aufgebaut und bewegt sich zwischen einem an der Hauptfigur orientierten Storytelling und einem anderen Modus, der mit einer reflektierenden Distanz operiert und andere Materialien und Fragen eröffnet. Diese Patchwork-Form entspringt einer sehr intuitiven Haltung, einer Vorliebe für Rätsel und für kaleidoskopisches Erzählen und fühlt sich an wie hundert offene Tabs in einem Browser.

Melisa Liebenthal

Übersetzung: Alexandra Bootz, Andrea Honecker

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