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Die erste Einstellung zeigt Pferde auf der Weide – sie schlagen mit dem Schweif oder schütteln die Köpfe, um lästige Fliegen zu verscheuchen. Ihr glänzendes Fell schimmert in der frischen Winterluft, während ihre Flanken zucken. Eins wandert durch die Koppel, lässt sich zu Boden sinken und bleibt liegen; andere traben asynchron durcheinander, bevor sie sich intuitiv zu Gruppen zusammenfinden und in einer lebhaften Choreographie miteinander rangeln. Die Kamera holt die majestätischen Tiere näher, und wir sehen sie für kurze Momente im Bildausschnitt eines Handyvideos, das durch ein Teleskop filmt – ein modernes Update der Kreisblende aus alten Stummfilmen. Doch der Film ist alles andere als stumm. Man könnte sagen, in Mora Daveys HORSE OPERA spricht das titelgebende Tier synchron zur, gelegentlich auch anstelle der Künstlerin. Schließlich verspricht eine „Pferdeoper“ (mal ganz abgesehen von allen Assoziationen mit Fernsehcowboys und B-Movies) sowohl die solistische Einzigartigkeit einer Arie wie die Dynamik eines Duetts und die Bandbreite eines Ensembles.

HORSE OPERA, gedreht vor und während der Pandemie in Rockland County, New York, metabolisiert das in den letzten Jahren um sich greifende Gefühl von Eingrenzung und sozialer Isolation. Intim in ihrer Ich-Perspektive und ihrem Maßstab, kreist Daveys Arbeit immer wieder um Alltagsdinge, ums Heimische – die Staubablagerungen auf Borden und Regalen, durchs Fenster einfallendes Licht, den Handapparat an Büchern und Schallplatten – Betrachtungsobjekte aus der nächsten Umgebung, das, was sie an anderer Stelle „leichte Beute“ genannt hat. Gesponnen zu ausufernden Konstellationen von Ideen und Bildern, in Texte, Fotografien und Filme verwandelt, verknüpft Daveys Werk biografische Fakten mit (Auto)Fiktion; Geschichte mit Spekulation, und Gedanken über Kunst, Literatur und Bildproduktion. Vor allem ist es eine Würdigung des Nachbarschaftlichen im Denken und Tun, das sie aus Anmerkungen, Zitaten, Bibliographien zusammenmontiert. Diese Elemente sind in etwas versammelt, das John Berger als „Feld“ bezeichnen würde: Ein Ort, an dem sich beobachtbare Ereignisse konzentrieren. Zunehmender Abstand zu den Außengrenzen dieses Felds öffnet uns für Vorgänge, die darin geschehen, und befähigt uns, Ereignisse in ihrer Singularität und gleichzeitigen Vernetzung wahrzunehmen, ohne sie in den Dienst einer narrativen Linearität und eines antizipierten Ausgangs zu stellen. Für Hilton Als, der im Film immer wieder zitiert wird, bedeutet Schreiben „das Chaos hereinzulassen“ und konventionelle Narrative zu meiden, die „nicht authentisch“ wirkten, da sie „auf Kontrolle ausgerichtet sind“.

Davey hält sich in HORSE OPERA auch an die Selbstverpflichtung, über das zu schreiben, „was dich nachts wach hält“. Neben Einstellungen, die Details ihres ländlichen Zuhauses, der umliegenden Felder, Fauna und Flora zeigen, sieht man auch sie selbst, die etwa den Pferden wärmende Gamaschen aus Fleece umlegt oder durch die Zimmer voller vertrauter Haushaltsdinge streift, während im Hintergrund Songs von Prince, Lauryn Hill, Angelique Kidjo und anderen laufen. Die Stimme eines Erzählers führt parallel dazu eine Protagonistin ein, die schlicht Elle genannt wird, und kommentiert an anderer Stelle die Herausforderungen des Schreibens und seiner Gegenstände, der prosaischen wie der rauschhaften, unter den jeweiligen Bedingungen vieler beziehungsweise stark eingeschränkter Sozialkontakte. In ihrem ruhelosen Herumtigern bekommt Davey die Texte über Kopfhörer eingespielt, ehe sie sie wiederholt – stets in ihrem charakteristischen Rhythmus, einer monotonen, rhythmisch zerhackten Sprechweise. So produziert sie eine Art Echokammer, eine Art endlose Spiegelung und Verdopplung, die gleichermaßen einen Kontrast zum Gefühl des Eingesperrtseins wie eine Fluchtmöglichkeit ins Literarische darstellt.

Auf das längst unwiederbringlich Verlorene und das erst kürzlich Verschwundene zurückzublicken, [...] konfrontiert mit einem grundlegenden Dilemma aller Schreibenden: Man wäre gerne mittendrin, nicht nur distanzierte Chronistin.

HORSE OPERA wirkt geradezu wie eine Revision des essayistischen Stils von Daveys bisherigem Werk. Durch Isolation steigt das Risiko, in Solipsismus zu verfallen – also ins Gegenteil der Relationalität, der bislang noch die intimsten ihrer Einfälle kennzeichnete. Ihre Lektüre ist Erdung. Sie greift zu Christa Wolf, die dem Lauf der Zeit Rechnung trug, indem sie für ein halbes Jahrhundert getreulich jedes Jahr an einem bestimmten Tag im September einen Tagebucheintrag verfasste. Sie tröstet sich mit Catherine Malabous Überlegungen zur Pandemie und Quarantäne und deren Prognose, daraus könnten neue Nähe und neue Schreibansätze erwachsen. (An anderer Stelle schreibt Malabou: „Als sprechendes Subjekt im Gefängnis der Sprache fühle ich mich paradoxerweise jenen nahe, die nicht sprechen, den Tieren, Tieren, die in Gefangenschaft stereotype, repetitive Verhaltensweisen entwickeln.“)

Aber es ist das auch das Verschwinden eines sozialen Feldes – auf begrenztem Raum interagierende Körper –, das Elle sich zu vergegenwärtigen versucht, das Nachbild eines heute erloschenen New Yorker Nachtlebens, das sie aus der Distanz des Landlebens erinnert. Durch Elles Erinnerungen schwirren Visionen von Miteinander und Intimität, Euphorie und Ausgelassenheit unter dem Glitzern einer Discokugel, und es scheint, als dienten diese Reminiszenzen zur Linderung der gegenwärtigen Vereinsamung. Sie macht sich zur Chronistin einiger Episoden von David Mancusos ikonischen Loft-Partys, die am Valentinstag 1970 in seiner Wohnung in SoHo ihren Anfang nahmen und schließlich auf durchschnittlich 500 Besucher anwuchsen, bis die zweimal monatlich stattfindenden Partys 15 Jahre später ausliefen. Mancuso, Kurator der musikalischen Beschallung vom frühen Abend bis zum Sonnenaufgang, und nach Daveys Schilderung mit seinem für alle offenen zum Nachtclub umfunktionierten Heim Agent des Egalitarismus und des sozialen Fortschritts, ist 2016 verstorben, doch in jüngeren Jahren wurde sein Erbe wiederbelebt und inspirierte zahlreiche andere Events und Ausstellungen neben diesem Film, in dem eine Handvoll dieser Reprisen als Versatzstücke auftauchen.

Diese verlängerte hypnotische Trance, in der Schwebe zwischen unterschiedlichen Bewusstseinszuständen, manifestiert sich am direktesten in Daveys beinahe somnambulen Streifzügen.

Auf das längst unwiederbringlich Verlorene und das erst kürzlich Verschwundene zurückzublicken, führt ihr vor Augen, wie potentiell (un)geeignet das Mittel des Schreibens ist, diese Momente zu vergegenwärtigen und zu projizieren, und konfrontiert mit einem grundlegenden Dilemma aller Schreibenden: Man wäre gerne mittendrin, nicht nur distanzierte Chronistin („in ihrem Körper, in diesem Moment zu sein und weniger fixiert auf ein nebengeordnetes Projekt wie das Schreiben“). Kurz gesagt: Sie ringt um ein beschreibenswürdiges Leben. Welche Position wäre weniger nostalgisch, wäre authentischer? Elle kreist um die Momente, in denen Grenzen verschwimmen: Sie nimmt Drogen (zahllose Pülverchen, Joints und Pillen) und führt Buch über deren euphorisierenden, aber auch kräftezehrenden körperliche Auswirkungen. Schreib über das, was dich nachts wachhält.

Daveys Text ist sowohl „Pathografie“, wie sie vermutet, als auch Schilderung der genüsslichen Aspekte von Körperfunktionen, dem Verstoffwechseln von Form. Sie spricht in diesem Film wie nebenbei von Krankheit, Altern, Blut, Gekröse und Scheiße (Themen, vor denen Autorinnen wie Elisabeth Hardwick warnen), findet aber, ein Anklang an Hilton Als, durchaus Ergötzen an saftigem Exzess und üblen Gerüchen. Ihre eigenen unzeitigen Entladungen werden in der imposanten, puren Körperlichkeit der Pferde sublimiert, die sie lange und wiederholt beim Urinieren filmt, wobei sie voller Faszination und Bewunderung auf deren kraftvollen Pissestrahlen verharrt. Als Sinnbilder für Freiheit in Restriktion erinnern Daveys Pferde an die des Fotografen Peter Hujar, mit dem sie lange in engem Austausch stand. „Bei meinen unbeholfenen Versuchen, mit Pferden in Kontakt zu treten, wurde mir das fotografische Genie von Hujar ganz besonders bewusst“, schreibt sie zu einer Ausstellung, die ihre und seine Arbeiten im Dialog zeigt, und hält fest, dass er die Tiere, nur durch leises Zureden, dazu brachte, für ihn „wie hypnotisiert“ zu posieren.

Diese verlängerte hypnotische Trance, in der Schwebe zwischen unterschiedlichen Bewusstseinszuständen, manifestiert sich am direktesten in Daveys beinahe somnambulen Streifzügen. Sie lebt und belebt das Dazwischen – zwischen Schreiben und Leben, zwischen dem unbewegten und dem bewegten Bild, zwischen Wandel und Flow – und lässt keine Erinnerung, sei es auf Papier, in der Stimme oder im Bild zur starren Form gerinnen. Davey lässt das Chaos herein und bestätigt damit die formalen Mittel ihrer Wahl als weiterhin tragfähig und brauchbar. Sie lässt keine einzige Form zum Format erstarren.

Rachel Valinsky ist Autorin, Redakteurin und Übersetzerin in New York und Paris. Sie ist Artistic Director von Wendy‘s Subway und verlegt bei Primary Information Künstler*innenbücher.

Übersetzung: Clara Drechsler, Harald Hellmann

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