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Tatsunari Otas ISHI GA ARU (There Is a Stone) ist geprägt und durchdrungen von einem – zugleich gedankenlosen und achtsamen – Mäandern, das die Sammlung von Gesten und flüchtigen Augenblicken leitet, von denen der Film voll ist. In diesem, dem Prinzip zufälliger Begegnung verpflichteten Film wandert eine namenlose Frau (An Ogawa) durch eine unbenannte Stadt; zunächst versucht sie, sich an der Landschaft zu orientieren. Sie fragt einen Fremden nach „lokalen Sehenswürdigkeiten“ und erkundigt sich nach der angeblich nahe gelegenen Burg Kawamura und einigen Ruinen. Doch bald gibt sie diese Bemühungen auf und lässt sich stattdessen treiben.

Wir Menschen sind eine umherziehende Spezies, das Reisen gehört zu unseren Grunderfahrungen, zu unserer Entwicklung. Im größeren geschichtlichen Zusammenhang hat es unsere Modernitäten hervorgebracht – das Wort wird heutzutage pluralisiert –, die sich eingebrannt haben in unser kollektives Gedächtnis, in unsere Verletzungen und Traumata. In den letzten Jahren waren wir gezwungen, neu darüber nachzudenken, wie wir uns in der Welt und durch die Welt bewegen wollen – gleichgültig, ob es sich dabei nur um kleine Schritte oder lange Reisen handelt – und uns dabei den Wert von Bewegung in allen Einzelheiten unseres alltäglichen Lebens bewusst zu machen. Bewegung ermöglicht Begegnung, daran erinnern wir uns jetzt wieder.

Genau deshalb ist Bewegung tatsächlich etwas Sakrales, zumindest für mich. Auf dem Gebiet des yogisch-indischen Wissens ist Bewegung die Basis für das zweite Chakra (eines der sieben Energiezentren im menschlichen Körper). In Sanskrit heißt es Svadhisthana, was oft mit „Sakralchakra“ übersetzt wird. Sein Element ist das Wasser, es gilt als der Ort unserer Kreativität, strategisch gelegen zwischen dem ersten Chakra, Muladhara, unserem Gefühl für Heimisches, für Erdung, sowie dem dritten Chakra, Manipura, der Projektion unseres Selbst und unseres Begehrens. Bewegung wird oft als das Gegenteil von Ruhe angesehen, aber wir gehen zusehends dazu über, beides als untrennbar miteinander verbunden zu verstehen, als zwei Seiten derselben Medaille. In jeder Bewegung steckt immer auch Ruhe und in der Ruhe immer auch Bewegung.

Tatsunari Otas Wanderin streunt im Laufe eines Tages durch unterschiedliche Gegenden. Sie nimmt die beiläufige Einladung an, mit einer Gruppe von Kindern Fußball zu spielen. Als sie an einem seichten Fluss entlangspaziert, trifft sie einen Fremden, der Steine über die Wasseroberfläche wirft. Einen ganzen Nachmittag lang spielen die beiden wie Kinder, indem sie Steine aufeinanderstapeln oder über das Wasser hüpfen lassen oder indem sie einen Ast balancieren, damit der nicht zu Boden fällt. Die Frau findet einen besonders wohlgeformten Stein, den der Fremde versehentlich ins Wasser wirft, so dass er verloren ist. Die Frau schlendert herum, der Mann geht ihr nach, die Frau geht immer weiter. Der Mann will ihren Stein wiederfinden, die Frau zuckt gleichgültig mit den Achseln. Schließlich gehen beide wieder ihrer eigenen Wege. In unserer fortschrittlichen und vielschichtigen Erfahrung mit den Modernitäten müssen wir zuweilen daran erinnert werden, uns dem zu unterwerfen, was ist.

Natur ist in diesem Film allgegenwärtig. Aber statt nur überwältigend schöne Kulisse zu sein, erscheint sie hier als Trägerin einer gebändigten und vielfach verknüften Energie zwischen Eigenschaften und Formen. Sie ist da, nicht so sehr atemberaubende Aussicht, sondern immersives Umfeld. Ein klarer, seichter Fluss, dessen sandiges Terrain wechselt mit  grasbewachsener Erde. Es ist Sommer.

Als das Tageslicht der Dunkelheit weicht, kommt die Protagonistin zu einem freistehenden Gebäude und findet dort einen leeren, unverschlossenen Raum, in dem sie ihr Handy auflädt und bald darauf auf dem Sofa wegdöst – ein Vorgang, so natürlich wie der eigene Körper, so rhythmisch wie die Jahreszeiten. Die Frau ist aufgebrochen, dann dämmert sie weg, nur um bei der nächsten Begegnung wieder aufzuwachen, diesmal bei der Begegnung mit einem vierbeinigen Wesen – der einzigen Rolle in diesem Film, die einen Namen bekommt.

ISHI GA ARU schwebt zwischen Bewegung und Ruhe, geerdet in einem Fließen inneren wie äußeren Seins und Daseins. Das verweist auf jenen Zustand, den wir vor über drei Jahren – seit diesem schicksalhaften März – kollektiv erfahren mussten, verweist aber auch auf die Rücksichtslosigkeit des Vergessens.

In der Ansammlung flüchtiger Bewegungen in ISHI GA ARU hallt das taoistische Prinzip des wu wei nach (das Nicht-Tun, das Nicht-Erzwingen). Dieser Akt des „Natürlich-Seins“ spiegelt die Erkenntnis wider, dass wir alle selbst Natur sind, nicht nur ein Teil von ihr. Aus dem Blickwinkel meiner Arbeit als Kuratorin/Dramaturgin mit eigener choreografischer Praxis verbindet sich ISHI GA ARU mit zwei Kurzfilmen, die ich vor einiger Zeit in einer Ausstellung in Surakarta in Zentraljava gesehen habe. Sie wurden dort zum Gedenken an den Bewegungslehrer Suprapto Suryodarmo (1945-2019) gezeigt, am tausendsten Tag nach seinem Tod. In beiden Filmen ist Suprapto zu sehen, von der Künstlerin Karolina Nieduza in der natürlichen Umgebung eines Strands und eines felsigen Bergs aufgenommen, einfach er selbst seiend und sich bewegend – sofern wir beides noch unterscheiden können. Auf jedem Bildschirm der Ausstellungsinstallation verwischte Suprapto leibhaftig die Grenze zwischen sich selbst und der ihn umgebenden Natur, ein Seiendes, das aus dem tiefen Bewusstsein eines Einsseins strömt.

Um einfach nur zu sein, müssen wir uns erinnern. 

Helly Minarti wird sich allmählich bewusst, dass die Art und Weise, wie sie sich bewegt und wie sie umherzieht, eher den Bewegungen einer Nomadin gleicht.

Übersetzung: Stefan Pethke

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