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Wenn es im Horrorfilm um individuelle Urängste geht, die von irgendwoher (aber von wo?) nach oben steigen und Bild werden, dann erweitert der im Kino vor allem in den siebziger Jahren florierende „Folk Horror“ das Genre um eine kollektive, und auch um eine historische Dimension. Insbesondere dank Ari Asters MIDSOMMAR (2019) erlebt das Subgenre seit ein paar Jahren eine Renaissance, und auch Sebastian Mihăilescus MAMMALIA spielt mit einschlägiger Motivik. Der Ursprung des Grauens wird im Folk Horror nicht, oder jedenfalls nicht primär in den unergründlichen Tiefen des Ich verortet, sondern in einer Vergangenheit, die zwar ebenfalls unergründlich ist, aber gleichzeitig über die Perspektive der oder des Einzelnen hinausweist. Insbesondere, weil es im Folk Horror oft dezidiert um vormoderne Formen der Vergemeinschaftung geht, um in Gruppenkonstellationen zelebrierte Rituale etwa, oder auch um ein kollektives Verfügen über Körper und Sexualität, das die Souveränitätsillusion des zeitgenössischen Individualismus zerschellen lässt.

Um Zugang zu Formen des kollektiven Unheimlichen zu gewinnen, konstruiert der Folk Horror für gewöhnlich die Fiktion einer Kontinuität, die auf der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beruht. Irgendwo, zum Beispiel in der dünn besiedelten schwedischen Provinz (MIDSOMMAR) oder auf einer winzigen, weltabgewandten schottischen Insel (THE WICKER MAN), haben die alten Formen überlebt, und es ist nicht selten eine latente Zivilisationsmüdigkeit, die die Hauptfiguren in die Fänge einer archaischen Ordnung treibt, der gegenüber alle erprobten Schutzmechanismen versagen.

MAMMALIA greift, wie eingangs erwähnt, die Motivik und durchaus auch die spezifischen Affektmechanismen – besonders eindrücklich: Piotr Kureks bläserlastiger Drone-Soundtrack – des Folk Horror auf, aber verzichtet auf die Kontinuitätsfiktion. Früher seien hier Rituale der Fruchtbarkeit, des Schutzes, der Heilung praktiziert worden, erzählt in einer Szene eine weiß gekleidete, stets etwas allzu breit lächelnde Kultführerin ihrer Gefolgschaft. Das Wissen, das die Alten hatten, muss noch hier sein, aber der direkte Kontakt ist gekappt. „Warum sprechen die Götter nicht mehr mit uns?“

Eine rhetorische Frage. Denn die Naturreligionen, die einst einer anderen Form von Gemeinschaft Ausdruck verliehen haben, sind nun einmal unwiederbringlich verloren gegangen (und nur weil sie es sind, funktioniert Folk Horror als Genre – das in diesem Sinne nicht als eine Wiederbelebung, sondern als eine Neuerfindung der nun komplett synthetischen Rituale zu verstehen ist). Begraben sind sie unter mehreren historischen Schichten: unter dem Christentum zunächst, mit seiner Tendenz zur Vergeistigung, zur Verinnerlichung aller Glaubensinhalte; speziell in Rumänien unter der Erfahrung des real existierenden Sozialismus der Ceaușescu-Jahre; und schließlich unter dem Kapitalismus, der schon vor Ceaușescu die rumänische Gesellschaft transformiert hatte und seit 1989 alles daransetzt, sein Werk zu vollenden.

Nur die letztgenannte Ebene, der Kapitalismus, findet in MAMMALIA eine direkte Repräsentation, und auch nur in einer einzigen Szene, am Arbeitsplatz der Hauptfigur des Films. In einem Großraumbüro sitzt Camil konzentriert vor einem Computer, der Bildschirm synchronisiert, für uns nicht einsehbar, die Bewegungen seines Kopfes und auch die des Kopfes einer Kollegin, die ihm über die Schulter schaut. Ein Bild exakt durchgetakteter Produktivität ist das freilich nicht. Um Camil herum lümmelt man lustlos auf Drehstühlen, jemand poliert an der Wand aufgehängte Porträtbilder, jemand anderes klappt eine Leiter aus und verschwindet in der Decke.

Das Ritual ist in MAMMALIA eine Sache der Frauen. Zumindest erst einmal. Aber ist es wirklich die Geschlechterdifferenz, die uns zum Ritual, zum Gespräch mit den Göttern zurückführen kann? Oder geht es vielleicht eher, etwas allgemeiner gedacht, um die Frage nach Geschlechtlichkeit allgemein?

Die Welt von MAMMALIA ist eine postheroische Welt, eine Welt jenseits der alten Rituale und auch jenseits aller anderen großen, gemeinschaftsbildenden Erzählungen. Jede*r geht ihren/seinen eigenen Weg. Einmal begegnet Camil im Treppenhaus einem Anwohner und erfährt, dass das Apartmentgebäude, in dem er täglich ein und aus geht, gleichzeitig als Set eines Science-Fiction-Films fungiert. Warum wiederum zwei Leute auf die Idee kommen, ein überdimensioniertes Naturgemälde durch eine offensichtlich zu enge Tür zu quetschen, geht nur die beiden etwas an. Und niemanden kümmert es, wenn zwei andere Leute einen dritten schnappen und sich hinter einem Fenster, der Außenwelt nur halb verborgen, an ihm auf vermutlich äußerst unerfreulicher Weise zu schaffen machen.

Niemanden außer der Kamera und Camil. Camil ist die Hauptfigur des Films, aber gleichzeitig wirkt er fast in jeder Einstellung, in der er auftaucht, wie ein überzähliges Bildelement. Wie ein Zusatz, nach dem niemand gefragt hat, der aber einfach nicht verschwindet. Schlank, blass und mit kurzgeschorenem Haar fällt er nicht groß auf, aber dennoch irritiert seine sture Anwesenheit. Mal sitzt er einfach nur im Vordergrund mit dem Rücken zur Kamera und starrt in seine leere Wohnung, mal taucht er im Hintergrund aus einem dunklen Wald auf und manövriert sich umständlich und ungelenk in den Vordergrund.

Was Camil im Bild hält und im Lauf des Films mehr und mehr aktiviert, ist nicht das Ritual, sondern sein Ausgeschlossensein vom Ritual. Das Ritual ist in MAMMALIA eine Sache der Frauen. Zumindest erst einmal. Aber ist es wirklich die Geschlechterdifferenz, die uns zum Ritual, zum Gespräch mit den Göttern zurückführen kann? Oder geht es vielleicht eher, etwas allgemeiner gedacht, um die Frage nach Geschlechtlichkeit allgemein? Um eine Rückkehr zum biologischen Kollektiv (z.B. der Säugetiere, der Mammalia), wenn es schon kein soziales mehr gibt? In der Badewanne blicken wir mit Camil gemeinsam an dessen nackten Körper entlang. Zwischen den Beinen hebt und senkt sich im Schaum der Penis. Ein weiteres überzähliges Bildelement, ein weiterer Zusatz, nach dem niemand gefragt hat, der aber einfach nicht verschwindet. Zumindest erst einmal.

Lukas Foerster ist Filmkritiker und Medienwissenschaftler und lebt in Köln.

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