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Burak Çeviks eindringlicher Film UNUTMA BIÇIMLERI (Forms of Forgetting) konfrontiert uns früh mit Bildern eines trostlosen zugefrorenen Sees. Über diesen wie nicht von dieser Welt wirkenden Ansichten hören wir die Stimmen von Erdem Şenocak und Nesrin Uçarlar, die sie kommentieren. Die zwei waren einmal zusammen, haben sich aber schon vor Jahren getrennt, aus Gründen, an die sich keiner der beiden so recht erinnern kann. Der Film basiert auf zwischen 2020 und 2022 geführten Interviews. Sie ziehen sich durch den gesamten Film, sie begleiten sparsame, präzise komponierte Einstellungen, deren benennbare Gegenstände – wie zum Beispiel eine Werft im Herzen von Istanbul – meist in einem unklaren Verhältnis zu dem Paar stehen. Im Fall des Sees bekommt Uçarlar von Şenocak erklärt, dass sie hier auf den Çıldır-See schauen (und wir mit ihnen), unweit dessen Şenocak seinen Militärdienst abgeleistet hatte. Er fügt noch hinzu: „Daran wirst du dich nicht erinnern, da waren wir schon nicht mehr zusammen.“ Dann schildert er einen Traum aus dieser Zeit. Darin irrt er über den zugefrorenen See, fast am Verdursten, bis jemand ein Loch in das Eis schlägt und ihm Wasser zu trinken anbietet. Während Şenocak spricht, sehen wir ein echtes Eisloch in der Oberfläche des Sees, aus dem die Hände von drei Personen ein Eisfischernetz herausziehen und dieses daraufhin methodisch an- und wieder umordnen. Die Unterhaltung im Off wendet sich dann dem Thema Träume zu, um bald darauf abzubrechen. Doch die Kamera bleibt auf dem Eisloch, in der Stille, vier Minuten lang. Letztlich hören die Hände auf zu arbeiten und das Netz sinkt zurück ins eisige Wasser, aus unserem Sichtkreis.

Immer wieder betrachten wir Sequenzen, in denen uns das stoffliche, quasi-dokumentarische Vergnügen bereitet wird, einfach einen Bildraum zu erkunden, die aber zusätzlich allegorisch aufgeladen sind, als würden diese Bilder stellvertretend für eine unsichtbare Vergangenheit stehen.

Schon in dieser einen Sequenz, die den hypnotischen Reigen dieses Austauschs zwischen Dokumentation, Erinnerung und Traum eröffnet, stehen wir vor der zentralen Frage, die UNUTMA BIÇIMLERI bewegt: Wie stellt man eine Leere dar? Vielleicht ist das sogar die zentrale Frage in Çeviks gesamter Filmografie bis hierher. Sein Langfilm AIDIYET aus dem Jahr 2019, eine erfinderische Rekonstruktion eines abscheulichen Verbrechens aus der Geschichte der eigenen Familie, war bereits ein Versuch, gewissermaßen Undarstellbarkeit darzustellen. Das wesentliche Thema von UNUTMA BIÇIMLERI – die Beziehung zwischen Şenocak und Uçarlar – fällt im Vergleich weniger spektakulär aus, doch ist der Film auf ähnliche Weise um Abwesenheiten und Lücken herum strukturiert, und seine zentrale Spannung bleibt dieselbe: Wie gibt man, konfrontiert mit den Schatten der Vergangenheit, dem eigenen Vergessen eine Form?

Ein möglicher Ansatz besteht, so schlägt es jene frühe Passage vor, im Einsatz von Metaphern. Jenseits seiner physischen Erscheinung und seiner Beziehung zu Şenocaks Traum dient das Loch im Eis als Symbol für das verschüttete Unterbewusste, die Lücken der Erinnerung. Solche Entsprechungen kommen in UNUTMA BIÇIMLERI immer wieder vor, immer wieder strebt das Verhältnis zwischen Bild und Ton zum Metaphorischen. Immer wieder betrachten wir Sequenzen, in denen uns das stoffliche, quasi-dokumentarische Vergnügen bereitet wird, einfach einen Bildraum zu erkunden, die aber zusätzlich allegorisch aufgeladen sind, als würden diese Bilder stellvertretend für eine nicht sichtbar zu machende Vergangenheit stehen. In einer weiteren Passage, die an den Besuch Pompeis in Rossellinis VIAGGIO IN ITALIA erinnert, sehen wir die Ruinen von Blaundos, einer antiken Stadt in der Türkei. Die hatte das Paar vor langer Zeit besucht, die ineinander verkanteten Felsstrukturen dort sehen aus „wie zwei Menschen, die sich umarmen“. In einer anderen Sequenz hören wir die Stimmen der beiden, die über etliche Jahre zuvor gedrehte Aufnahmen von sich selbst reflektieren, die sie wiederum im Gespräch miteinander zeigen, wodurch ein intimer, an Hollis Framptons Meisterwerk (NOSTALGIA) von 1971 erinnernder Tanz der Zeitlichkeiten entsteht.

Also ist UNUTMA BIÇIMLERI, wie Dantes „Commedia“, ein Werk, das sich quält mit der lückenhaften Erinnerung, den vergangenen Bildern und verklungenen Worten, das aber gleichzeitig angetrieben wird von dem Verlangen, diese darzustellen.

Das frappanteste Beispiel für diesen Zusammenhang kommt kurz vor Ende des Films, wenn wir nach einem wortlosen Streifzug durch ein nebelverhangenes Waldstück hören, wie Uçarlar die berühmte erste Terzinen-Strophe aus Dantes „Inferno“ rezitiert: „Mittwegs auf unsres Lebens Reise fand / In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen, / Weil mir die Spur vom graden Wege schwand.“ So überraschend die Anrufung von Dantes „Göttlicher Komödie“ in diesem Kontext erscheinen mag, so sehr passt sie. Denn zum einen stellt dieses epische Gedicht anerkanntermaßen einen Höhepunkt mythologischer Allegorisierung dar – ein umfassendes Stilmittel metaphorischer Gleichsetzung – und befindet sich von daher in Einklang mit Çeviks Ansatz. Zum anderen versucht hier der Dichter, in den Grenzen des künstlerisch Darstellbaren eine von den Launen des Erinnerungsvermögens bedrängte Erfahrung wiederzugeben. Dante behauptet durchgehend, in der Hölle, im Fegefeuer und auch im Paradies, dass seine Reise eine reale Reise sei – und als solche stellt er sie auch dar, indem er immens viele unauslöschliche Bilder und Formen ausführlich beschreibt. Doch als Ich-Erzähler des Gedichts ist sich Dante auch seiner Grenzen bewusst. Insbesondere im „Paradies“-Abschnitt spricht er immer wieder vom Versagen seines Gedächtnisses und seiner Ausdrucksmöglichkeiten. Als er den letzten Gesang des Gedichts niederschreibt, ist er  „Wie wer ein Traumbild sah und spürt den Drang / Im Innern noch, den träumend er empfunden, / Ob ihm das Bild verging, das Wort verklang“.

Also ist UNUTMA BIÇIMLERI wie Dantes „Göttliche Komödie“ ein Werk, das sich quält mit der lückenhaften Erinnerung, den vergangenen Bildern und verklungenen Worten, das aber gleichzeitig angetrieben wird von dem Verlangen, diese darzustellen. Diese Anstrengungen beziehen sich natürlich auf eine Vergangenheit, die eben nicht mehr da ist. Andererseits könnten wir uns die Auffassung zu eigen machen, wonach jeder Schöpfungsakt auch in eine Zukunft weist. Regisseur Çevik ist sich dessen zweifelsfrei bewusst und fügt an einer Stelle Bildmaterial von der Baustelle für das neue Museumsgebäude des İstanbul Modern ein, zu dem Uçarlar und Şenocak über Çeviks angeblichen Plan diskutieren, seinen Film nach der Vorführung für 14 Jahre im fertigen Museum einzulagern und dieses so in eine Art Zeitkapsel zu verwandeln. Ob er dieses Vorhaben nun ernsthaft verfolgt oder nicht: Über die Formen, die er für das Vergessen findet, ließe sich wiederholen, was einmal der russische Dichter Ossip Mandelstam über Dantes Gesänge gesagt hat: dass sie „Geräte zum Einfangen der Zukunft“ seien.

Lawrence Garcia ist Filmkritiker, Autor und Doktorand an der York University, Toronto.

Übersetzung: Stefan Pethke

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