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Ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Ich vergesse alles. Vergesse ich alles, damit ich mich erinnern kann, oder erinnere ich mich, weil ich vergesse? Was bleibt, sind Bruchstücke. Bilder wie in diesem Film: lückenhaft, unvollständig, für sich genommen bedeutungslos, angewiesen auf weitere Bruchstücke, aber dazu verdammt, für sich allein zu stehen.

Wir sehnen uns nach einem sinnvollen Ganzen, müssen uns aber mit vagen Fragmenten begnügen und können nichts anderes tun, als uns an ihnen festzuhalten.

Dies sind meine:

August 2020: Zwei Tage vor der Hochzeit meines besten Freundes werde ich verlassen. Ich betrachte die Umarmungen uralter Steine in einer anatolischen Stadt. / September 2020: Ich fahre in meinem 20 Jahre alten VW Polo an der Küste der türkischen Ägäis entlang. Betrachte meinen halbnackten Körper in schmutzigen Tankstellenspiegeln. / Oktober 2020: Ich will mir ein verfallendes Schiff ansehen, das man sich selbst überlassen hat. Ich trinke Tee mit dem Chef einer Werft, um Zugang zu dem bewachten Gelände zu erhalten. Sage ihm, dass ich vorhabe, einen Film über Ozeanriesen zu drehen. / Dezember 2020: Während der Pandemie bin ich in Berlin und sehe mir das Material an, das ich gedreht habe, in der Hoffnung, dass es mir etwas erzählt. Aber es besteht darauf, nichts preiszugeben. Jeden Tag kaufe ich Croissants in der türkischen Bäckerei gegenüber. Ich nehme zu. / Januar 2021: Ich fahre nach Istanbul zurück und verspüre den Drang, etwas kaputtzumachen. Ich durchbreche die längste Wand meiner Wohnung. / Februar 2021: Ich gehe durch die historischen Gassen einer schneebedeckten Stadt an der Ostgrenze der Türkei und telefoniere mit einem Gespenst. Ich erzähle, wie sehr ich meinen Film hasse, wie schlecht er ist, wie nutzlos. Das Gespenst lächelt. / März 2021: Ich laufe auf einer riesigen Museumsbaustelle herum, trage Arbeitsstiefel und Helm. Ich beschließe, dass dies der Ort ist, an dem ich meinen Film zum ersten Mal in der Türkei zeigen werde. Bis zur zweiten Vorführung sollen vierzehn Jahre vergehen. Mir wird klar, dass ich deshalb so denke, weil ich meinen Film mit niemandem teilen möchte, obwohl es dem Wesen des Filmemachens widerspricht. Ich werde ruhiger. / April 2021: Die Betten, in denen ich schlafe, die Laken, auf denen ich Spuren hinterlasse, die Oberflächen, die mein Körper berührt. Ich verbringe meine Tage damit, Spuren zu hinterlassen. Will ich Spuren hinterlassen oder will ich verschwinden? / Mai 2021: Ich beschließe, den Film sein zu lassen. Ich räume die Festplatte weg. / Juni 2021: Ich träume von einem Elefanten. Ich will einen Elefanten berühren. Ich will in ein Augenpaar blicken, das mich nie vergisst. Ich nehme das erste Flugzeug in eine andere Stadt und gehe in den Zoo. / Juli 2021:  Ich wache auf und vermisse meinen Film. Ich hole die Festplatte wieder hervor und schneide bis in die Morgenstunden. Diesmal beginnen die Bilder, mir etwas zu erzählen. / August 2021: Ich zeige im Rahmen einer Work-in-Progress-Veranstaltung eine 20-minütige Schnittfassung. Ein taiwanesischer Produzent fragt mich, wovon mein Film handelt. Langes Schweigen. Ich schalte den Computerbildschirm aus und sage ihm, dass es ein technisches Problem gibt. Ich gehe mir das Gesicht waschen. / Oktober 2021: Ich streife mit einem Gespenst durch den Wald. Es regnet, mir ist kalt. Mir kommt Dantes dunkler Wald in den Sinn. Ich will einfach nur eine warme Linsensuppe. Das Gespenst sagt: Ich mach dir eine. / Dezember 2021: Ich treffe mich wieder mit Erdem und Nesrin. Wir denken über ein und dieselbe Textstelle nach. Sie spielen sie immer und immer wieder. Die Proben wollen nicht aufhören. Alles verschwimmt, wenn die Nähe zu groß wird. Realität und Fiktion gehen uns abhanden. Was bleibt, sind Bruchstücke.  

Burak Çevik

Übersetzung: Gregor Runge

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